Dienstag, 7. Februar 2023

"Wir haben Wohnen kulturell falsch eingeübt"

Nicht nur im Landkreis Dachau, das gilt überall! Auch bei uns stehen Häuser leer, meist alte Landwirtschaftsgebäude. Schade, aber nach jahrelangem Leerstand sind viele nicht zu retten. Und auch bei uns gibt es die erwähnten "Witwenstraßen", Straßen in denen in jedem Haus nur noch 1 oder 2 Personen wohnen. Auch bei uns gibt es Menschen die auf 200 qm alleine wohnen, meist hat es sich halt so ergeben.

hier  in der Süddeutschen Zeitung 6.2.2023
Interview von Alexandra Vettori, Dachau

Studie zum Wohnungsmangel

Elisabeth Wacker will herausfinden, warum es im Landkreis Dachau so viel Leerstand gibt. Die Professorin für Diversitätssoziologie an der TU München schätzt, dass 2000 Wohnungen keinen Mieter haben - teils aus überraschenden Gründen.

...Erste Ergebnisse zeigen: Es steht mehr leer als gedacht. Im SZ-Interview erklärt Wacker die Hintergründe.

SZ: Diversitätssoziologie. Worum geht es da? Und wieso wird das an der TUM gelehrt?

Elisabeth Wacker: Diversitätssoziologie befasst sich mit Vielfalt und Verschiedenheit in der Gesellschaft - und wie man damit konstruktiv umgehen kann. Das ist auch in einer Technischen Universität eine wichtige Frage. Denn es ist auch Ziel und Aufgabe, sich generell mit Technik in der Gesellschaft wissenschaftlich zu befassen.

Wie in der Unternehmenspolitik geht es auch bei gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Beobachtung und Einordnung um den Dreiklang D-I-E: Diversität, Equity, Inklusion. Also darum, Stärke aus der Vielfalt der Menschen zu gewinnen, Chancengerechtigkeit herzustellen und Inklusivität anzustreben, Lebensqualität durch Teilhabe. Das Thema Wohnen hat viel damit zu tun.

Die Stellschrauben, die wir haben, sind Hindernisse abbauen und Stärken stärken. Aber dazu muss man verstehen, wieso etwas ist, wie es ist.

Was hat Sie an der Studie im Landkreis Dachau gereizt?

Meine Spezialgebiete sind Leistungsgesetzgebung, Prävention und Rehabilitation bei vulnerablen, also verletzlichen, Bevölkerungsgruppen. Meine Forschung findet nahe bei den Menschen statt, ist also partizipativ und qualitativ ausgelegt.

Das Thema Wohnungsleerstand war keine rein akademische Überlegung, obwohl es eine spannende und lohnende Aufgabe ist. Es gibt wirklich gute Gründe, die Dinge fundierter anzuschauen.

Die Siedlungsentwicklung läuft seit Jahrzehnten noch immer so, dass vor allem Neubaugebiete im Außenbereich entstehen, wo auch die Supermärkte sind. Die Zentren überaltern, die Geschäfte dünnen aus, das führt zu einer Zerfledderung der Gemeinde und schafft wenig Lebensqualität. Es entstehen die sogenannten Donuts, innen nichts, alles außen. Wir bauen für Individuen, nicht für Gemeinschaften, und das macht etwas mit den Menschen.

Was auch für die Studie gesprochen hat, ist, dass der Landkreis, das Land und die Gemeinden dahinterstehen: Das nennt man eine Häufung glücklicher Umstände.

Die Studie stößt bundesweit auf Interesse. Was ist das Besondere?

Wir haben sie auf nationalen und internationalen wissenschaftlichen Kongressen von Kiel bis Portugal und Indien vorgetragen. Interessant ist sie wegen ihres partizipativen Ansatzes, für und mit den Menschen. Mit einer facettenreichen Fragestellung kommt man näher an die Lebensumstände. Auch die Herz- und Nieren-Prüfung bei Veröffentlichungen in der Wissenschaft haben wir mit unserer methodischen Umsetzung und der Fragestellung, die auf Verstehen abzielt, erfolgreich passiert. Dass man nicht nur Missstände beklagt, sondern offen über Veränderungspotenziale nachdenkt, ohne vorschnell nach Sündenböcken zu suchen, ist sicher auch ein Vorteil.

Erste Ergebnisse haben Sie schon vorgestellt, Sie schätzen den Leerstand auf fünf Prozent: Wie kann das in der Metropolregion München mit ihrem hohen Wohnungsdruck sein, wo man doch so viel Geld mit Wohnen verdient?

Das liegt zum einen an der beschriebenen Siedlungsentwicklung. Manches ist auch gesetzlich vorgegeben oder baulich gemacht. Das beginnt bei einem zweiten Zugang zu einem Haus, der nicht genehmigt wird, und endet bei der Architektenausbildung noch lange nicht. Außerdem findet sich bei den Betroffenen wenig Bewusstsein für den faktischen Leerstand oder für untergenutzten Wohnraum, bei dem ein Mensch alleine in einem großen Haus wohnt. Vor allem auch nicht im Sinne von "Eigentum verpflichtet".

Bei manchen ist der Leerstand, zum Beispiel einer Einliegerwohnung, eine gewohnte Form.
Viele Eigentümer brauchen die Einnahmen nicht, viele sorgen sich auch wegen der Mieterschutzgesetze. Oder dass dann keine Privatsphäre mehr da ist. Manche haben auch keine Routine mit Bürokratie und Wohnraumvergabe.

Was hat Sie persönlich überrascht?

Die Menge der leerstehenden Wohnmöglichkeiten hat mich schon gewundert, aber auch, dass so viele Menschen alleine leben und keiner sich freut an der Möglichkeit, mit anderen zusammenzuwohnen. Die Leute leben alleine auf 200 Quadratmetern und es fällt ihnen nicht mal auf. Das ist zwar baulich so vorgesehen, aber ob man sich das Single-Leben wirklich erträumt hat, bezweifle ich grundsätzlich. Man könnte ja neugierig auf andere sein. Selbst Ideen von gegenseitigem Geben und Nehmen, wie Wohnen gegen Hilfe oder Wohnen für Pflegepersonal, passen irgendwie nicht in die kulturellen Gewohnheiten. Vielleicht folgt das auch aus der lange gewohnten Möglichkeit, sich fernzuhalten von Kompromissen und Personen mit anderen Lebensstilen.

Wie war die Resonanz in den Rathäusern? Die Datenbeschaffung ist ja durchaus aufwendig. Sind alle so engagiert wie Bürgermeister Reischl aus Hebertshausen, der sogar einen "Kümmerer" für Leerstände einsetzen möchte?

Sicher sind wir auf verschiedene Gesprächspartner gestoßen, aber es stellt sich keine Gemeinde quer. Der Anreiz zur Zukunftsplanung ist ja auch kaum zu ignorieren. Die Kommunen wissen unterschiedlich gut über den eigenen Leerstand Bescheid, es ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Aber manches erklärt sich schon bei Spaziergängen, wenn man aufmerksam ist. Und auch im Münchner Speckgürtel gibt es genug Nachbarschaftswissen.

Ein Thema sind auch "Witwenstraßen" als Synonym für untergenutzten Wohnraum. Gibt es Schätzungen oder Zahlen?

Nein, Zahlen haben wir nicht. Das ist auch kein Dachau-spezifisches Phänomen. Es hat etwas mit Finanzierungen und Bauverhalten und Bauplanung zu tun. Wenn man nun wieder im Kohortenrhythmus ausschreibt und keine Flexibilisierung der Baunutzung bedenkt, dann passiert genau das wieder und wieder, solange es nicht üblich ist, beispielsweise Seniorinnen-WGs zu gründen. Oder Wohnstraßen vielfältiger zu gestalten, auch an Mehrgenerationen-Wohnen zu denken als eine super Option.

Lösungswege gibt es schon lange, die entsprechenden Förderungen seit 20 Jahren, da kann man wirklich viel Geld abholen. Es gibt auch schon viele Beispiele in Deutschland, wenn auch nicht so viele in Bayern. Natürlich brauchen wir dafür aber auch die Kompetenzen, mit Nachbarschaft umzugehen. Zum Beispiel die, nicht zu glauben, dass die eigene Lebensform die einzig richtige ist.

Wie war die Resonanz auf Ihren jüngsten Aufruf nach neuen Interview-Partnern?

Die war groß. Es melden sich Menschen, die ungenutzten Wohnraum haben, es melden sich aber auch viele, die etwas anderes sagen wollen. Zum Miet- oder Erbrecht, auch Leute, die sich viele Gedanken über Lösungen machen. Und, das ist auch besonders: Es gab noch keine Beschimpfungen. Man merkt, das Thema interessiert die Leute. Und immer mehr wird klar: Eine Ursache für die Leerstände ist, dass wir das Thema Wohnen kulturell falsch eingeübt haben.

Haben Sie am Ende auch Handlungsempfehlungen für die Kommunen?

Es ist nicht unsere Aufgabe, Gebrauchsanweisungen zu geben, das wäre auch vermessen. Die Gemeinden haben ja auch viel Expertise. Aber es werden neue Planungen auf einem neuen Wissensstand möglich sein. Die Kommune wird sich entscheiden müssen, ist sie nur Dienstleister oder übernimmt sie eine planerische Aufgabe, im Sinne von Lebensqualität. Wir brauchen Strukturen, die Gemeinschaft möglich machen. Das Bewusstsein dafür wächst, aber, und das formulieren wir auch sehr genau, das zieht Verantwortung füreinander nach sich.

Die eine Lösung gibt es nicht, sondern viele kleine Pakete, mit denen man die Leute mitnimmt, mal ein Programm bei der Volkshochschule zu alternativen Wohnformen, mal ein Beispiel, das im Gemeindeblatt vorgestellt wird, eine Einladung zum Gespräch in Fokus-Gruppen. Das ist ein Langzeitprogramm. Stellen Sie sich als Bild einen Reißverschluss vor: Wenn alle Zähnchen ineinander greifen, läuft es gut. Funktioniert nur eines nicht, hakt es. Wir, die Wissenschaftlerinnen, sind - wenn Sie so wollen - mit dem Landkreis und den Gemeinden aufgestellte Wegweiser.

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