Montag, 27. Februar 2023

Langlebige Chemikalien werden in Deutschland zum Problem

 23.02.2023  hier im Südkurier

Das Problem mit den oft gesundheitsschädlichen ewigen Chemikalien ist in Deutschland größer als bekannt. Laut Medienberichten könnten per- und polyfluorierte Chemikalien, kurz PFAS, an mehr als 1500 Orten hierzulande Boden und Grundwasser verseuchen. Die Bevölkerung werde oftmals nicht darüber informiert.

Zur Gruppe der PFAS gehören mehrere Tausend Chemikalien. Sie kommen in zahlreichen Produkten wie Shampoos oder Pizzakartons zum Einsatz und sind in der Natur extrem langlebig. Studien kommen zu dem Schluss, dass PFAS Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit haben oder zu Entwicklungsverzögerungen bei Kindern führen können. Auch ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten wird angeführt.

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Deutschland, Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Schweden fordern ein Verbot der ewigen Chemikalien. Sie reichten dies im Januar bei der EU-Chemikalienagentur ECHA ein. Eine Regelung müsste die EU-Kommission ausarbeiten, die sie dann den Mitgliedstaaten vorschlägt. Mit einer Umsetzung des Verbots wird daher frühestens 2026 gerechnet. Die fünf europäischen Länder schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren mindestens 4,4 Millionen Tonnen PFAS in die Umwelt gelangen.


Süddeutsche Zeitung hier  Von Andrea Hoferichter, Nadja Tausche, Ralf Wiegand  24. 2 2023
Eine Verbindung für die Ewigkeit

PFAS-Chemikalien bewirken, dass der Regen an der Jacke abperlt und das Ei nicht in der Pfanne klebt. Aber was, wenn das giftige Zeug in der Umwelt landet? Über den Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner.

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Man sieht sie nicht, man riecht sie nicht, man schmeckt sie nicht. Und trotzdem sind sie fast überall.

Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen sind eine Art Wundermittel der Industrie. Und sie sind ein Teufelszeug. Jahrzehntelang haben sie den Menschen das Leben leichter gemacht. Wasser- und fettabweisend, geruchlos, geschmacksneutral, künstlich herstellbar: eine Errungenschaft der Hochtechnologie. An Regenjacken perlt jeder Schauer ab, das Fahrrad schnurrt dank Kettenfett. Zahnseide, Butterbrotpapier, Backformen für Kuchen, die Verpackung von Schokoriegeln, Teppiche, Polstermöbel, Skiwachs – wenn nichts dran haften soll, kommt PFAS zum Einsatz. Stoffe dieser Gruppe werden in der Halbleiterindustrie gebraucht, als Kühlmittel in Wärmepumpen, und über Jahrzehnte enthielt auch der Löschschaum der Feuerwehren PFAS.

In Bratpfannen mit PFAS-haltiger Beschichtung bleibt kein Spiegelei kleben. Wer nicht sowieso lieber Edelstahl-, Guss- oder Keramikpfannen benutzt, kann sein Steak auch in so einer beschichteten Pfanne bedenkenlos braten – nur gehört sie dann irgendwann eigentlich auf den Sondermüll. Wie die Regenjacken und die wasserfesten Schuhe, in denen man nie nasse Füße bekommt. PFAS sind vor allem in der Herstellung und bei der Entsorgung ein Problem.

Das weiß nur leider fast keiner, und so gelangen PFAS seit Jahrzehnten in die Umwelt, wo sie auf natürliche Weise nicht abgebaut werden. Nicht in fünf Jahren, nicht in fünfzig, nicht in hundert. Bei manchen PFAS wird davon ausgegangen, dass ihre Halbwertszeit bei tausend Jahren liegt. Eine Ewigkeit. Das Magazin Schwerpunkt, herausgegeben vom Umweltbundesamt, trug 2020 den Titel: „PFAS – Gekommen, um zu bleiben“.

Wenn Menschen über verunreinigtes Wasser oder Nahrungsmittel PFAS aufnehmen, reichert es sich auch im Blut an. Wenn es dem Körper zu viel wird, kann er krank werden. Die Chemikalien stehen im Verdacht, Hodenkrebs auszulösen, Leberschäden zu verursachen, das Geburtsgewicht von Neugeborenen zu reduzieren, unfruchtbar zu machen, sie können der Grund für Fettleibigkeit sein oder das Immunsystem von Kindern schwächen. Besser also, man hätte kein PFAS im Blut. Wissenschaftler in den USA gehen nach entsprechenden Untersuchungen allerdings davon aus, dass dort 98 Prozent der Menschen irgendwelche PFAS-Varianten im Körper haben. In den USA wurden sie auch entwickelt, 1947 war das.

Die Industrie hat inzwischen mindestens 10 000 solche Varianten erfunden. Immer, wenn welche ins Gerede kommen, entstehen mehrere neue. Die Behörden kommen mit den analytischen Methoden zum Nachweis und zur Schädlichkeit nicht hinterher, es ist so ähnlich wie beim Doping im Sport: Fliegt eine Methode im Testlabor auf, ist schon längst wieder was anderes in der Spritze.
Die Chemikalien finden sich in Eisbären und in Pinguinen, in der Antarktis und in Tibet

In Rastatt ist das Problem so groß, dass der Landkreis schon 2015 eine eigene Geschäftsstelle für die Sanierung von PFAS-Verseuchungen eingerichtet hat. Reiner Söhlmann, 62 Jahre alt und Geologe, leitet sie und soll, wie er sagt, „diesen gigantischen Schadensfall managen“.

Deshalb wünschte er sich eben schon manchmal einen Knüppel. Das Gift aus dem Boden zu bekommen, ist in Rastatt aussichtslos. „Bei dem Ausmaß, das wir hier haben, bewegen wir uns in finanziellen Dimensionen, die nicht darstellbar sind“, sagt Söhlmann. Würde man den verseuchten Boden abtragen – 1100 Hektar werden aktuell als verunreinigt eingestuft –, läge man Schätzungen zufolge bei Kosten von einer bis drei Milliarden Euro. Dafür könnte man drei Mal die Elbphilharmonie nachbauen – und hätte noch was übrig. „Und dann hätte man nur den Boden ausgehoben und wüsste noch nicht mal, wohin damit.“ Ackerland als Sondermüll. Söhlmanns Fazit: „Eigentlich ist die Belastung als unsanierbar einzustufen.“ Das bleibt.

Ein Einzelfall ist das nicht. Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR haben im Rahmen einer internationalen Recherche erstmals kartographiert, wo überall in Deutschland PFAS im Boden, im Grundwasser und in Oberflächenwasser nachweisbar ist. Kein Amt und keine Behörde hat bisher eine solche Übersicht geführt. Es ist eine Karte mit mehr als 1500 Punkten entstanden.


Flughäfen, Bundeswehrgelände, Papierhersteller, Mülldeponien, Chemiehersteller, spezielle Industriegelände: Die Liste tatsächlicher und sehr wahrscheinlicher PFAS-Schleudern ist lang. Durch Wasser und Wind landet das Zeug in Flüssen und Seen, im Erdreich, im Grundwasser, im Sediment. Ewigkeitschemikalien nennen die Amerikaner die Stoffe.

Forscher finden sie inzwischen sogar dort, wo sie nie hergestellt wurden und wo noch nie jemand eine Bratpfanne benutzt hat, in der Antarktis oder im Hochland von Tibet. Nachgewiesen wurden sie im Körper von Eisbären und Pinguinen. Unsichtbarer Zivilisationsmüll, vom Winde verweht, vom Regen verteilt. Für die Größe des Problems ist die Bekanntheit per- und polyfluorierter Alkylsubstanzen ganz schön gering.

In Rastatt haben die Bauern sie vermutlich selbst auf ihre Äcker gekippt, ohne es zu wissen. Das ist schon fünfzehn Jahre her. Im Verdacht steht Kompost, in den Papierschlamm untergemischt war. Manches Papier wird mit PFAS veredelt. Ende 2012 entdeckten die Stadtwerke Rastatt die Chemikalien bei einer Routinemessung in einem Brunnen, ein Zufallsfund. Das Landratsamt ordnete an, großflächig zu untersuchen: Auch im Wasser von Wasserwerken wurde daraufhin PFAS nachgewiesen, dann auch auf Äckern, in Lebensmitteln.....

Nach den Messungen musste ein Trinkwasser-Reservebrunnen vom Netz genommen werden.

Die Risiken von PFAS sind seit mindestens zwanzig Jahren bekannt. Im April 2003 äußert die US-Umweltbehörde in einer Pressemitteilung massive Bedenken zur PFAS-Variante PFOA, Perfluoroktansäure. Reguliert wurde zunächst nichts.
Im Landkreis Altötting wurde die Chemikalie in den Fluss geleitet und in die Luft gepustet, alles ganz legal....

Welche seiner Flächen belastet sind, weiß der Erdbeer- und Spargelbauer jetzt, die kann er meiden. „Was viel schlimmer ist, ist das Grundwasser.“ Er hat in einen Brunnen für 160 000 Euro eine Reinigungsanlage eingebaut, drei Aktivkohlefilter holen die Chemikalie aus dem Wasser. Schon nach dem zweiten ist sie nicht mehr nachweisbar, der dritte Filter? Sicher ist sicher. Vom Land Baden-Württemberg hat er dafür rund 40 Prozent der Kosten erstattet bekommen. Zu rechnen ist in Zukunft allerdings mit weiteren Investitionen: für den Wechsel der Filter und der Behälter für das gereinigte Wasser – und vielleicht für Filteranlagen für seine anderen vier Brunnen. Bezahlen muss er das selbst. „Ich muss schauen, wie ich damit lebe“, sagt er, „wir haben eine Verantwortung gegenüber dem Verbraucher.“ Er hat sich mittlerweile mit der Situation abgefunden. Wenn du den Gegner nicht besiegen kannst, arrangiere dich mit ihm.

Die Kapitulation vor dem Problem liest sich im jüngsten Bodenschutzbericht der Bundesregierung so: „Bei flächenhaften Kontaminationen kommen aktuell nur Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen in Betracht.“ Sanierung? Es gibt eine Hochtemperaturbehandlung – danach kann der Boden jedoch nur noch als Füllmaterial verwendet werden, als Nährboden taugt er nicht mehr. Beim Waschverfahren landet das PFAS im Waschwasser, das dann ebenfalls wieder aufwendig gereinigt werden müsste. Die sogenannte Massenreduzierung ist für große Flächen weder möglich noch verhältnismäßig. Und den Boden auf Deponien zu schaffen, scheitert dem Regierungsbericht zufolge an mangelnden Deponiekapazitäten. Außerdem könnte es von dort wieder ins Grundwasser gelangen. Es klingt wie die Definition eines Dilemmas...

Die meisten Menschen in der Region machten sich trotzdem keine Sorgen, sagt Petra Haunreiter, deren PFOA-Wert im Blut inzwischen zurückgegangen ist. „Es ist so eine ruhige Angelegenheit. Man spürt es nicht gleich, es gibt keine Akutvergiftungserscheinungen. Es ist fast eine persönliche Entscheidung: Möchte ich mich betroffen fühlen oder nicht?“

Als ob man die Wahl hätte.

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