Zeit hier Interview: Elisabeth von Thadden 4. Februar 2023
Ob in Lützerath oder bei Asylfragen: Oft rechtfertigen Politiker ihr Tun mit Gerichtsurteilen. Der Jurist Philipp Eschenhagen sieht darin ein Problem für die Demokratie.
Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Jurist Philipp Eschenhagen.
ZEIT ONLINE: Philipp Eschenhagen, worüber denken Sie gerade nach?
Philipp Eschenhagen: Ich denke über die Beziehung des Rechts zur Öffentlichkeit nach und umgekehrt über die der Öffentlichkeit zum Recht. In letzter Zeit beschäftigt mich besonders, wie rechtliche Begriffe öffentlich verwendet werden und wie man sich auf das Recht bezieht, um einen Grund für politisches Nichthandeln zu haben oder im Namen des geltenden Rechts politische Entscheidungen zu treffen, obwohl andere möglich wären.
ZEIT ONLINE: Zum Beispiel
Eschenhagen: Zuletzt wurde in Bezug auf das Kohleabbaugebiet um Lützerath von Politikern, auch von den Grünen, geltend gemacht, dass ihnen politisch die Hände gebunden seien, weil gerichtlich abschließend über die Rechte des Konzerns RWE entschieden sei.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist zwar festgelegt, über Lützerath sollten die Gerichte entscheiden. Was das genau heißt, hat aber niemand gesagt, und was die Gerichte tatsächlich entschieden haben, ist lediglich, dass die Grundabtretung der Grundstücke in Lützerath an RWE rechtmäßig gewesen ist. Aber nicht entschieden wurde über die Rechtmäßigkeit des Abbaggerns der Kohle. Und selbst wenn man das annehmen wollte, ist doch wichtig, dass das Gericht ausdrücklich gesagt hat: Für Klimapolitik ist der Gesetzgeber zuständig. Aber dieses Urteil wurde von vielen politisch Verantwortlichen als Rechtfertigung für das Nichtstun in einer essenziellen Frage vorgetragen.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist zwar festgelegt, über Lützerath sollten die Gerichte entscheiden. Was das genau heißt, hat aber niemand gesagt, und was die Gerichte tatsächlich entschieden haben, ist lediglich, dass die Grundabtretung der Grundstücke in Lützerath an RWE rechtmäßig gewesen ist. Aber nicht entschieden wurde über die Rechtmäßigkeit des Abbaggerns der Kohle. Und selbst wenn man das annehmen wollte, ist doch wichtig, dass das Gericht ausdrücklich gesagt hat: Für Klimapolitik ist der Gesetzgeber zuständig. Aber dieses Urteil wurde von vielen politisch Verantwortlichen als Rechtfertigung für das Nichtstun in einer essenziellen Frage vorgetragen.
Eschenhagen: Auch in Sachen Autobahnausbau bewegen sich die Grünen jetzt auf die Ampel-Partner zu mit dem Argument, dass mit einigen Planungsarbeiten ja schon begonnen wurde, da sei vonseiten des Gesetzgebers nichts mehr zu tun. Ähnlich verfasst ist das Argument von Konservativen, das Asylrecht sei nun mal, wie es ist, deshalb müssten Menschen abgeschoben werden. Ebenso die Aussage des FDP-Justizministers Marco Buschmann, für Aktivisten der Letzten Generation müsse die volle Härte des Rechtsstaats spürbar werden. Rechtliche Begriffe haben nicht nur viel Raum in der Öffentlichkeit gewonnen, sondern sie dienen Politikern oft zur Rechtfertigung, sich selbst aus der Verantwortung zurückzuziehen.
ZEIT ONLINE: Auch das Pariser Klimaabkommen, der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts oder die Klimaschutzgesetzgebung des Bundes sind geltendes Recht. Wie erklären Sie es, dass damit nicht ebenso vernehmlich argumentiert wird?
Eschenhagen: Da würde ich unterscheiden zwischen dem öffentlichen Diskurs und der Rechtspraxis. In den Gerichten etwa spielt der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts eine erhebliche Rolle. So nimmt die Justiz in Bezug auf die Strafbarkeit einzelner Handlungen der Letzten Generation die Bedeutung der Klimakatastrophe durchaus ernst. Es gab vor Amtsgerichten auch Freisprüche und sich widersprechende Urteile. Vor dem Hintergrund des Klimawandels ist die Rechtsprechung zur Nötigung nämlich neu zu bewerten, auch wenn der Justizminister von eindeutig strafbarem Handeln redet.
ZEIT ONLINE: Aber Nötigung ist strafbar?
Eschenhagen: Für die Strafbarkeit der Nötigung spielt die Verwerflichkeit des Vorgehens eine Rolle und angesichts des verfassungsgerichtlichen Klimabeschlusses ist neu zu fragen, was als verwerflich gilt. Dieser Konflikt wird in den Gerichten nun massenhaft ausgetragen. In der Öffentlichkeit hingegen wird auf das geltende Recht zum Klimaschutz meist nur von der aktivistischen Seite Bezug genommen. Von der Politik kaum. Wenn doch, dann oftmals als abstraktes Bekenntnis und nicht, um konkretes politisches Handeln zu rechtfertigen.
ZEIT ONLINE: Warum ist das in Ihren Augen so?
Eschenhagen: Das kann ich nur in Ansätzen beantworten. Das Recht ist nicht nur Ausdruck von Machtverhältnissen, sondern konstituiert diese zugleich auch. Aus sozialphilosophischer Sicht verwundert es also nicht, wenn man sich in Machtpositionen auf geltendes Recht bezieht, um eigene politische Interessen durchzusetzen.
ZEIT ONLINE: Was genau werfen Sie den Grünen vor? Welche Unterlassung ist das Ärgernis?
Eschenhagen: Ich hätte mir gewünscht, dass man im Konflikt um Lützerath angibt, aus welchen energiepolitischen Gründen es sachlich notwendig ist, die Entscheidung zu treffen, die Kohle unter diesem Dorf abzubaggern und zu verbrennen. So hat es Robert Habeck gemacht, als er darauf bestand, die Energiesicherheit sei der entscheidende Faktor. Viele andere aber haben sich ohne sachliche Rechtfertigung auf vermeintlich objektives Recht zurückgezogen. Das kommt einer politischen Selbstentmündigung gleich. Für die Demokratie wäre es ein ernstes Problem, wenn sich die Verantwortlichen im Bund wie in den Ländern nicht in der Lage sähen, nach Sachgründen politisch zu entscheiden.
ZEIT ONLINE: Worüber genau entscheiden denn im Zweifel die Gerichte oder eben die Politik, am Beispiel Lützerath?
Eschenhagen: Das buchstabiert sich natürlich in jedem Zusammenhang anders aus. Im Falle von Lützerath sieht es so aus: Über das Eigentum an den Grundstücken ist rechtskräftig entschieden. Die zuständige Behörde könnte sich allerdings entscheiden, diese Grundstücke wieder zu enteignen, solange sie die Grenzen des Artikel 14 Grundgesetz einhält. Dort ist die Möglichkeit der Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit vorgesehen. Die Grundstücke in Lützerath sind ja zum Teil erst durch Enteignung der vorherigen Eigentümer in das Eigentum von RWE übergegangen, und zwar aufgrund politischer Entscheidungen.
Auch über die Vergesellschaftung von RWE auf Grundlage von Artikel 15 Grundgesetz wird aktuell nachgedacht. Weiterhin ist denkbar, den Hauptbetriebsplan von RWE für die Abbaggerung der Kohle unter Lützerath zu widerrufen. Und natürlich kann man sich politisch dafür einsetzen, dass diese Kohle nicht verstromt wird. Aber mir selbst geht es gar nicht primär darum, dass die rechtlichen Spielräume in Bezug auf Lützerath ausgeschöpft werden, um die Abbaggerung zu stoppen. Mir geht es um die Rolle der Politik. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in der Öffentlichkeit eine Sehnsucht nach Sicherheit durch objektiv geltendes Recht zu geben scheint, die sich neuerdings überall bemerkbar macht. Recht ist aber notwendigerweise ambivalent, das macht auch seine Stärke aus.
Auch über die Vergesellschaftung von RWE auf Grundlage von Artikel 15 Grundgesetz wird aktuell nachgedacht. Weiterhin ist denkbar, den Hauptbetriebsplan von RWE für die Abbaggerung der Kohle unter Lützerath zu widerrufen. Und natürlich kann man sich politisch dafür einsetzen, dass diese Kohle nicht verstromt wird. Aber mir selbst geht es gar nicht primär darum, dass die rechtlichen Spielräume in Bezug auf Lützerath ausgeschöpft werden, um die Abbaggerung zu stoppen. Mir geht es um die Rolle der Politik. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in der Öffentlichkeit eine Sehnsucht nach Sicherheit durch objektiv geltendes Recht zu geben scheint, die sich neuerdings überall bemerkbar macht. Recht ist aber notwendigerweise ambivalent, das macht auch seine Stärke aus.
ZEIT ONLINE: Das Recht hat nun mal die Aufgabe, für Ordnung zu sorgen.
Eschenhagen: Es hat eine Ordnungsfunktion. Recht wird jedoch performativ erzeugt und ist fluide, es ist in Bewegung und immer auch abhängig von politischen Entscheidungen. Und es fließen Erfahrungshorizonte in seine Auslegung ein. Immer sind Menschen am Werk. Das gilt auch im Zusammenhang des Ukraine-Kriegs und in der Diskussion um Waffenlieferungen: Viele berufen sich auf die angeblich völkerrechtliche Argumentation, dass Deutschland durch Waffenlieferungen Kriegspartei werde, sodass Russland uns legitimerweise angreifen dürfte. Zunächst stimmt das nach mehrheitlicher Auffassung der Völkerrechtswissenschaft schlicht nicht. Außerdem führt damit auch der vermeintlich objektive Begriff der Kriegspartei in der Debatte nicht weiter, weil er dazu dient, politische Handlungsspielräume zu verengen. Auf das politische Handeln aber kommt es an: Parlamentarier und Parteien sollten sich bewusst sein, dass sie politische Entscheidungen treffen können und müssen.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?
Eschenhagen: Es heißt zum einen, dass Recht nicht als politisches Blockademittel missbraucht werden darf. Und zum anderen heißt es, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass alles bereits gut geregelt ist. Wo immer Recht ausgelegt und angewandt wird, entsteht es neu. Das bedeutet aber auch, dass seine normative Wirksamkeit auf einen solchen Wiedererzeugungsprozess für konkrete Sachverhalte angewiesen ist. Würde die Klimabewegung heute sagen, sie stelle die Arbeit ein, weil es ja jetzt ein Klimagesetz gibt, dann würde das Verkehrsministerium nicht mehr daran erinnert, dass es seinen gesetzlichen Pflichten nicht nachkommt.
ZEIT ONLINE: Ist die Demokratie inzwischen so schwach, dass sich die Klimabewegung selbst immer mehr nach Rechtswegen umschaut, weil die am meisten Wirkung versprechen?
Eschenhagen: Eine politisch handlungsfähige Demokratie ist von einer demokratischen Rechtskultur nicht zu trennen. Es kommt deshalb auf eine starke Zivilgesellschaft und die Teilhabe der Öffentlichkeit im Recht an: Im Gerichtssaal sollten Juristen und Angeklagte nicht unter sich sein, wenn es um Klimaproteste geht. Dort trägt die Anwesenheit der Öffentlichkeit dazu bei, dass die Rechtsprechung kontrolliert wird. Und wir sollten danach fragen, ob und wie Gerichtsentscheidungen auf die Öffentlichkeit einwirken. Bei den Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Münster zu Lützerath gelang die Übersetzung nicht. Ich halte es außerdem für fatal, wenn man den demokratischen Rechtsstaat und den Klimaschutz als Gegensatz auffasste, wie es oft in Talkshows geschieht. Es verhält sich ja umgekehrt: Sie bedingen einander. Die Aktivisten der Letzten Generation wollen auch den Rechtsstaat durch Klimaschutz schützen. Viele Richterinnen und Richter, die jetzt über ihre Protestformen zu urteilen haben, wissen das und erkennen den Gewissenskonflikt an.
Philipp Eschenhagen ist Referendar am Kammergericht Berlin und promoviert am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel. Zusammen mit Ennio Friedemann veröffentlichte er jüngst den viel beachteten Artikel "Handeln erlaubt" auf dem Portal "Verfassungsblog.de". Eschenhagen ist Redaktionsmitglied des Portals "Völkerrechtsblog.org". © privat
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