Süddeutsche Zeitung hier Natur und Garten Text: Claudia Fromme
Was heißt schon schön! Viele meiner Nachbarn haben da eine ganz andere Vorstellung davon als ich. Aber seit ich vor 40 Jahren mal gelesen habe, dass der damals unschlagbare Gartenliebling Forsythie von keiner einzigen Insektenart besucht wird, empfinde ich die gelbe Blütenflut im Frühjahr nur noch als öde. Man könnte sich statt dessen auch Plastikblumen in den Garten stellen. ...
Schönheit hat also auch was zu tun mit dem Bewusstsein des Betrachters.
Für mich muss ein Garten leben: da muss etwas blühen, Insekten müssen unterwegs sein, man muss etwas beobachten können. Und Vögel müssen singen. Und natürlich: es ist ganz wunderbar wenn man dann auch noch etwas ernten kann.
Lasst es wachsen
Gleich um die Ecke, hinter der Verkaufsmeile mit den Duftkerzen und Spitzhacken, wartet das Paradies. Schlüsselblumen blühen in zartem Orange, eine weiße Ramblerrose rankt neben Polsterminze, Blaublattfunkien, Storchschnabel, Eichenfarn, Rhabarber, Pastinaken und mehr als hundert anderen Gewächsen. Vögel zwitschern, Hummeln brummen.
Von
einem Wasserfall in der Mitte weht ein feiner Nebel auf die üppige
grüne Szenerie, die von einer Kordel umgeben ist. Frauen in
Blumenkleidern stehen davor, an diesem letzten Maisamstag, Männer mit
Panamahüten. Sie fotografieren, sagen „Oh“ und „Ah“. Ein paar Tage zuvor
hat sich die Queen den Garten angesehen, hier auf der Chelsea Flower
Show in London.
Die Gartendesignerin Sarah Eberle hat für ihn eine
Goldmedaille bekommen.
rechts: nichts blüht schöner als Natternkopf und ist auch noch so Insektenfreundlich
unten: ein überwucherndes Beet, besucht von vielen Insekten
Und nun zu etwas völlig anderem: dem eigenen Garten. Dem mit dem verdichteten Boden. Dem Giersch. Den Nacktschnecken. Dem moosigen Rasen. Dem Rosenrost. Den Wühlmäusen. Den Funkien, dem Fenchel, den Fackellilien, die von alldem angefallen oder überwuchert werden. Dem Bienenhotel, in das keine Biene einchecken will. Dem Zaun, an dem nie die Queen vorbeiflanieren wird, aber immerhin die loyale Familie steht und „Ja, okay“ sagt. An den man verzagt denkt, wenn man in Chelsea vor den summenden und brummenden prämierten Gärten steht.
Wer einen Garten hat, weiß, dass Anspruch und Wirklichkeit oft weit auseinanderliegen. Wer ihn auch noch ökologisch korrekt bewirtschaften möchte, steht vor einem Dilemma. Ein Garten ist gestaltete Natur, näher an der Kultur als an der Wildnis. Soll er dem Menschen zur Erbauung und Ernte dienen oder der Natur zur Erholung? Wie verträgt sich die gelernte Ästhetik mit dem Artenschutz, wie die Selbstversorgung mit den Schnecken, die über alles herfallen? Wie viel Kultur darf, wie viel Natur muss sein?
Natürlich gibt es auf der Chelsea Flower Show weiter die Starzüchter klassischer Rosen wie Peter Beales und David Austin, natürlich gibt es exotische Orchideen und einen Stand mit Mährobotern.
Aber das bestimmende Thema ist nachhaltiges Gärtnern. Es geht um torffreie Erde (damit die Moore, die Kohlendioxid speichern, nicht weiter Schaden nehmen). Um Gärten, in denen Bienen in ungefüllten Blumen und heimischen Blühsträuchern genügend Nektar finden (und so als Bestäuber tätig werden können). Um das Mulchen von Beeten und eine dichte Bepflanzung (spart Wasser, weil keine nackte Erde da ist, die sowieso in der Natur nicht vorkommt). Es geht um Wildblumenwiesen, was in der Heimat des nagelscherenkurzen Rasens beachtlich ist.
links: der BUND-Garten in Gottmadingen, Gemüse und der Erhalt seltener Pflanzenarten in enger Nachbarschaft
Und es geht um Beete, in denen verschiedene Gemüsearten und Blumen in einer Mischkultur wachsen (spart Platz, schont den Boden und schützt vor Schädlingen; Lavendel und Kohl passen beispielsweise zueinander, Tagetes und Kartoffeln, Erdbeeren und Knoblauch). Und bitte nicht umgraben, nur mit der Grabegabel lockern, sonst sterben die Mikroorganismen im Boden.
Die Sehnsucht nach Ausgleich im Grünen ist in diesen Zeiten größer denn je
Eigentlich ist das alles nichts Neues. So beackern britische Gartenheroen wie Monty Don und Charles Dowding ihre Beete seit Jahrzehnten, so ist es hierzulande bei Marie-Luise Kreuter und Wolf-Dieter Storl nachzulesen. Deren Gartenratgeber sind längst Bestseller.
Für eine konservative Gartenschau wie Chelsea ist die neue Natürlichkeit aber bemerkenswert. Und sie entspricht dem Zeitgeist: Die Pandemie und die weltpolitischen Wirren befördern die Sehnsucht nach dem Ausgleich im Grünen, den Willen zur Selbstversorgung, den Wunsch, mit den eigenen Händen etwas gegen das Artensterben zu tun. Im Garten. Im Hochbeet. In Balkonkübeln. Zur Not auf dem Fensterbrett in der Küche.
Knapp 80 Prozent aller Haushalte in Deutschland verfügen über einen Garten oder andere Außenflächen wie einen Balkon oder eine Terrasse. 26 Prozent besitzen sogar beides. Sieben Prozent haben einen Schrebergarten – und immer mehr träumen davon, Laubenpieper zu werden. Die Bewerbungen türmen sich bei den Kleingartenvereinen, besonders in Großstädten, in Berlin wartet man inzwischen bis zu zehn Jahre auf eine Parzelle.
links: Wildbiene auf einem aufrecht stehenden , abgestorbenen Stengel, wichtig für das Überleben dieser Art
Wie viele Menschen ihre Gärten nachhaltig bewirtschaften? Dazu gibt es keine Zahlen, aber viele gefühlte Wahrheiten und Hinweise, dass es mehr und mehr werden.
Bei Bioversandgärtnereien waren die meisten Jungpflanzen lange vor den Eisheiligen ausverkauft. Staudengärtner mit nachhaltiger Ware lieferten zeitweise nur noch an Stammkunden. Menschen sagen jetzt nicht mehr „Unkraut“, sondern „Beikraut“. Sie haben bei Instagram und Facebook Aufrufe zum „No Mow May“ geteilt, den auch die Deutsche Gartenbau-Gesellschaft erstmals ausgerufen hat in diesem Jahr, damit der Rasen im Mai ungemäht bleibt und so Insekten und Bienen ausreichend Futter finden.
Giersch im Garten ist nicht mehr die Pest, sondern wird zu Pesto verarbeitet. Wenn man würgen muss, wenn man das Haus verlässt, ist soeben des Nachbarn Brennnesseljauche fertig gegoren, sie riecht wirklich erbärmlich, 1:10 verdünnt als Gießwasser soll sie aber fast jeder Art von Pflanzen den Wuppdich verleihen. Wie das duftet!
Nie war es so einfach, ökologisch korrekt zu gärtnern, es gibt Informationen in rauen Mengen überall dazu. Nie war es aber auch so schwierig, ökologisch korrekt zu gärtnern, weil man durch dieses ganze Wissen weiß, dass es mit der Nachhaltigkeit noch weit hin ist im eigenen Garten.
Den Rasenmäher im Mai angeworfen, weil man nicht mehr zur Hütte durchgekommen ist? Doch die Zuchtrose „Teasing Georgia“ gekauft, die zwar nix für Bienen ist, aber schön duftet und eine herrlich ironische Brechung im Schrebergarten darstellt, weil die der deutsche Moderator Ulrich Meyer seiner Frau Georgia Tornow für teuer Geld von eben jenem David Austin hat züchten lassen? Die Kanadische Goldrute stehen gelassen, die zwar ein Neophyt ist, sich also derart breitmacht, dass sie heimische Arten verdrängt, die aber doch so schön gelb blüht? Die Nerven verloren und Eisen-III-Phosphat ins Salatbeet geworfen, um den Nacktschnecken die Stirn zu bieten, die dort ein Massaker angerichtet haben?
links: Wildbiene in einer Mauerfuge im Garten, wo sie jede Nacht verbringt
In der Theorie haben alle den voll korrekten grünen Daumen, in der Praxis ist noch Luft nach oben. Sonst wären Schneckenkorn und Wühlmausschreck nicht Bestseller bei Amazon. Sonst gäbe es nicht Nachbarschaftsstreitigkeiten um ewig knatternde Rasenmäher, sonst müssten Schottergärten nicht gesetzlich verboten werden. Sonst gäbe es nicht die Aufrufe von Naturschützern zur Abkehr vom wohlsortierten und geputzten Garten, der immer noch der ästhetische Standard ist.
In Chelsea bringt eine Szene das sehr schön auf den Punkt: Drei Frauen um die sechzig stehen vor einem der Schaugärten mit vielerlei Blumen und Gräsern, dicht an dicht, in dem es summt und brummt und es kein Fitzelchen Rasen gibt. Eine der Frauen sagt: „Herrlich.“ Die zweite setzt leise nach: „Sorry, aber für mich sieht das alles sehr durcheinander aus.“ Die dritte nickt still. Abgang.
Matthias Glaubrecht sitzt in seinem Haus in Hamburg mit Blick auf eine Wildblumenwiese. Hirtentäschel wächst dort, die Samen der Butterblume mag der Gimpel. In seinem Garten am Rande eines Waldes hat der Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg bislang 37 verschiedene Wirbeltierarten gezählt, berichtet er am Telefon, von Mäusen über verschiedene Vogelarten bis zum Marder.
Er mahnt, dass der Mensch für seine Ernährung die wichtigsten Schatzkammern der Artenvielfalt und klimaschützende CO2-Speicher vernichtet, indem er zum Beispiel tropische Regenwälder rodet, vom Amazonas bis nach Neuguinea. In Deutschland seien in den vergangenen 30 Jahren drei Viertel der Biomasse von Insekten verschwunden. Weil diese Nahrung für viele Vogelarten sind, gibt es auch bei ihnen einen dramatischen Schwund vor einem Drittel bis zur Hälfte der Bestände. Alles menschengemacht.
Kann man da mit seinem bescheidenen Garten noch irgendetwas ausrichten?
„Wir müssen lernen, dass wir in unseren Gärten genauso wie in der Agrarlandschaft intelligenter mit der Natur umgehen“, sagt Glaubrecht. „So wie auf einem Feld nicht jeder Bachlauf begradigt und jede Hecke ausgerissen werden muss, müssen wir lernen, dass unsere Gärten mit allem, was im Obi-Baumarkt angeboten wird, nicht vollgepflastert werden müssen.“
Der Mensch sei inzwischen so entwöhnt von der Natur, dass er nicht zuerst den Artenreichtum eines alten Baumes in seinem Garten sehe, sondern sofort die Gefahr, dass er bei einem Sturm aufs Haus stürzt. Also wird er gefällt und durch ein mickriges Apfelbäumchen ersetzt, mit dem viele Tiere gar nichts anfangen könnten.
Der Professor für Biodiversität der Tiere hat einen Rat: einfach die Natur machen lassen
Sein Rat: die Natur machen lassen. Nicht die industrielle Blühmischung in den Garten werfen, sondern wachsen lassen, was da wächst. Sonnenexponierte Steinhaufen für Eidechsen und andere Reptilien aufschichten, Totholzhaufen für Insekten, Spinnen, Igel und andere Arten. Nicht nur auf die Honigbiene schauen. „Wir haben 556 Wildbienenarten in Europa, und es gibt eine domestizierte Art, die Honigbiene, das ist das Hausschwein unter den Bienen“, sagt der Evolutionsbiologe. Die sei für die Bestäubung wichtig, aber das könnten auch andere Bienen. Es gehe darum, die Vielfalt der Bienen zu erhalten.
Und die Nacktschnecken? Lassen. „Die Nacktschnecken sind Teil der Biodiversität, die wir erhalten wollen. Wir wollen Salat – dann kriegen wir auch Schnecken.“ Man könne nicht nur den Ausschnitt der Natur tolerieren, der einem gerade gefällt.
Das klingt alles schon sehr ambitioniert. Bäume sichern, Haufen aufschütten, Schnecken ertragen, Baumarkt ignorieren. Und wenn der Artenforscher exakt einen Rat geben dürfte? „Mähroboter abschaffen, wir sind Gärtner und nicht Golfer“, sagt Matthias Glaubrecht. „Ein Mähroboter zerstört die Vielfalt der Pflanzen und damit auch die der Insekten und Vögel, weil er sofort alles weghaut, sobald da ein Grashalm wächst.“
Verzichte man auf diese Monokultur, habe man schon sehr viel für die Biodiversität getan. „Jeder Gärtner ist sein eigener Schöpfer, darum sollte man auch niemandem vorschreiben, was für einen Garten er haben sollte“, sagt der Wissenschaftler. Aber ganz grundsätzlich sei es einfach so: „Ein unordentlicher Garten kann dazu beitragen, dass wir wieder eine Vielfalt von Arten haben.“
rechts: eine Wildbiene verlässt gerade sehr vorsichtig den Nistplatz in der Mauer
Wobei man gedanklich wieder zurück in London wäre. Bei den Ladys, von denen einige es eigentlich lieber geordnet wollen im Beet. Bei den prämierten Gärten, die teils sehr ursprünglich aussehen, aber hinter denen ein genau orchestrierter Pflanzplan steht, der einem an vielen Kordeln am jeweiligen Grün gereicht wird.
Die Generaldirektorin der Royal Horticultural Society, Sue Biggs, steht gerade zufällig am Paradegarten von Sarah Eberle, der mit der Goldmedaille und dem Wasserfall. Eine gute Gelegenheit, die Chefin der Chelsea Flower Show zu fragen: Warum sehen alle Gärten hier so aus, wie man es selber nie hinbekommen wird? Wo sind die Schnecken, die Wühlmäuse, das Unkraut? Sue Biggs lacht und sieht einen sehr nachsichtig an. „Darling“, sagt sie, „wir sind hier auf einer Show. Der Garten zu Hause ist eine ganz andere Geschichte.“
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