Freitag, 10. Juni 2022

Eine Woche 9-Euro-Ticket "Spaßabo" oder Beginn der Verkehrswende?

ARD Tagesschau hier 08.06.2022 Von Tim Diekmann, SWR

Chaos am Pfingstwochenende, aber Regelbetrieb beim Pendelverkehr: Seit einer Woche gilt das 9-Euro-Ticket, das dauerhaft Menschen für den ÖPNV begeistern soll. Doch Experten zweifeln an der Wirkung.

.... In Baden-Württemberg ist am Wochenende vor allem die Strecke an den Bodensee beliebt. Die Bahnen melden volle Züge. Während hier das große Chaos aber ausblieb, führte die neue Lust am Bahnfahren anderswo zu größeren Problemen. In Köln, Hamburg und Berlin mussten Bahnsteige wegen des Andrangs zeitweise gesperrt werden. In Stendal in Sachen-Anhalt halfen Bundespolizisten dabei, einen überfüllten Zug zu räumen. Fahrradreisende wurden zum Teil nicht mehr mitgenommen.

Verkehrsbetriebe ziehen positive Bilanz

Der Präsident des Verbandes Verkehrsunternehmen (VDV) Ingo Wortmann zieht dagegen eine erste positive Bilanz: "Wir haben für das Pfingstwochenende mit sehr vollen Fahrzeugen und Bahnsteigen gerechnet und das hat sich bestätigt." Räumungen von Fahrzeugen blieben laut Wortmann aber die "absolute Ausnahme". Die DB Regio teilt mit, sie habe auf die zu erwartende steigende Kundenzahl reagiert und über 50 zusätzliche Züge auf die Schiene gebracht. "Wir setzen hierfür buchstäblich alles in Bewegung, was wir haben - Züge, Busse, Servicekräfte", sagt der Chef der DB Regio Jörg Sandvoß. Dennoch sei es, wie erwartet, "vor allem auf den touristischen Hauptrouten punktuell zu Belastungsspitzen gekommen". Mit 86.000 Zugfahrten habe die DB Regio aber alles auf die Schiene geschickt, was rollen kann.

Der Betriebsrat der DB Regio, Ralf Damde, schildert es dem Redaktionsnetzwerk Deutschland so: "Die 9-Euro-Aktion hat erwartungsgemäß einen großen Ansturm auf die Regionalzüge ausgelöst, der bundesweit zu deutlich mehr Fällen von Überlastung geführt hat." Insgesamt habe es am ersten langen Wochenende mehr als 400 überfüllte Züge gegeben. Zudem habe es laut Damde täglich 700 Meldungen von Überlastungen, Störungen oder Problemen gegeben.

Mobilitätsexperten bezweifeln Wirkung

Über die Berichte von überfüllten deutschen Bahnen kann Mobilitätsexperte Andreas Herrmann von der Schweizer Universität St. Gallen nur den Kopf schütteln. "Das waren Pannen mit Ansage", sagt der Professor, der unter anderem zu Mikromobilität in Städten forscht. Die Bahn sei schon vor dem 9-Euro-Ticket am Anschlag gewesen. "Viele Züge sind reparaturbedürftig. Man hat das Verkehrsmittel in Deutschland zu Tode gespart." Herrmann glaubt, dass die Bahn nicht in der Lage ist, die zusätzliche Nachfrage zu bedienen. Die entscheidende Frage sei aber auch: "Wie beeinflusst man damit die Verkehrsströme? In erster Linie soll es ja die Pendler entlasten und eine Verlagerung vom Auto auf die Bahn bewirken. Momentan schafft man vor allem an den Wochenenden und in den Ferienzeiten einen Zusatzverkehr."

Während die touristischen Routen in den ersten Tagen des 9-Euro-Tickets also besonders beliebt sind, scheint es im städtischen Verkehr eher ruhig zu bleiben. "Im Netz der SSB ist seit dem 1. Juni ein ruhiger und normaler Alltags- und Berufsverkehr bei gleichmäßiger Auslastung zu beobachten", berichten etwa die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB). Bis heute habe man über 300.000 Tickets ausgestellt. "Höhere Fahrgastzahlen durch das 9-Euro-Ticket vermuten die SSB-Verantwortlichen vor allem im Regional- und Ausflugsverkehr."

Droht das 9-Euro-Ticket also zum günstigen "Sommer-Spaßabo" zu verkommen, statt Impulsgeber für einen nachhaltigen Mobilitätswandel zu sein? Mobilitätsexperte Herrmann ist zumindest skeptisch: "Ich bin mir noch nicht sicher, ob sich das Nutzungsverhalten wirklich nachhaltig ändert. Bevor Menschen dauerhaft vom Auto auf den Zug umsteigen, braucht es einiges. Der Tagesablauf muss ganz neu organisiert werden", sagt Herrmann. Dabei gehe es auch um die Frage, wie man von zu Hause zur S-Bahn und von der Haltestelle weiter zur Arbeit komme.

Politische Diskussionen um die Zeit danach

Bundesverkehrsminister Volker Wissing betont, dass man mit der auf drei Monate begrenzten Aktion die Chance nutzen wolle "mehr Menschen für den ÖPNV zu begeistern". Aus Sicht der Länder sind dafür aber dauerhaft mehr Regionalisierungsmittel notwendig. Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Herrmann sagte dazu: "Wer dauerhaft will, dass mehr Menschen den klimaschonenden ÖPNV nutzen, muss für einen Ausbau der Infrastruktur und für zusätzliche Fahrzeuge sorgen. Beides setzt den politischen Willen und mehr Geld voraus." Die Entscheidung des Bundes gegen eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel sei deshalb "ein großer Fehler". Verbraucherschützer warnen bereits jetzt vor drohenden Preiserhöhungen nach dem Ende der Aktion und fordern die Einführung dauerhaft günstiger Ticketpreise...

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