Mittwoch, 22. Juni 2022

"Junge Menschen wollen Energiekonzernen an den Kragen"

Wem von uns war es denn bisher bekannt, dass solche Regelwerke im Hintergrund schlummern, die unsere Klima-Ziele konterkarieren? Die Energie-Lobby hat sich nicht nur einfach abgesichert in der Vergangenheit, die spielen mit mehreren Netzen und Abseilungen. Und das macht es schwer für den Klimaschutz.

ENERGIECHARTA  hier im Stern  am  21.06.2022

Vor dem Europäischen Gerichtshof

Zwölf Staaten sollen aus der Energiecharta austreten. Das fordert eine Gruppe junger Menschen zwischen 17 und 31 Jahren. Dafür ziehen sie sogar vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Nach dem Jahr 2021 steht auch dieses Jahr wieder ganz im Zeichen der Naturkatastrophen. Aus Lateinamerika und Südasien mehren sich Berichte von zerstörerischen Überschwemmungen, während sich Europa im Süden aber auch in der Mitte vor Hitzewellen und Waldbränden zu schützen versucht. Immer mehr Menschen sind von Umweltkatastrophen betroffen – wenige versuchen dagegen vorzugehen. Eine Ausnahme ist da etwa eine Gruppe 17- bis 31-Jähriger. Die fünf jungen Menschen stammen laut dem britischen "Guardian" aus verschiedenen Ländern, teilen aber ihre Erfahrungen mit Umweltkatastrophen.

Am Donnerstag ziehen sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um gegen die bisher kaum bekannte Energiecharta vorzugehen. Ihr Argument: Das Abkommen behindere den Kampf gegen die Klimakrise. Laut dem Medienbericht wird das Gericht in Straßburg damit zum ersten Mal damit beauftragt, den Vertrag zu prüfen.

Was ist die Energiecharta?

Bei dem Energiecharta-Vertrag (englisch: Energy Charter Treaty, kurz: ECT) handelt es sich um einen internationalen Vertrag, der die Integration der Energiesektoren der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas nach dem Kalten Krieg in den europäischen und globalen Markt regeln sollte. Dessen Grundlage, die Energiecharta, wurde 1991 in Den Haag, der rechtsverbindliche Vertrag drei Jahre später in Lissabon unterzeichnet. Beides trat 1998 in Kraft. Die ECT zählt 51 Mitgliedsstaaten aus Europa und Asien.
Ziel der Charta war es, Unternehmen vor Enteignungen und unfairen Wettbewerbsnachteilen zu schützen. Bei möglicher Benachteiligung können sie auf Schadensersatz klagen. Dabei werden ihnen nicht nur Kosten rückerstattet, sondern auch mutmaßlich entgangene Gewinne.

Wegen seiner Industriefreundlichkeit steht die Charta schon länger in der Kritik. Wie der "Guardian" berichtet, verklagt die Gruppe nun zwölf der insgesamt 55 Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich.
Der Grund: Sie alle beheimaten Unternehmen, die von den Vorzügen der ECT-Charta massiv profitierten. So hatte der 
Energiekonzern RWE die Niederlande wegen eines geplanten Kohleausstieges auf 1,4 Milliarde Euro verklagt, während der Konzern Rockhopper Exploration mit Sitz in Großbritannien gegen Italien vorging, nachdem dort neue Bohrungen in Küstennähe verboten worden waren.

Die jungen Kläger argumentieren, die Mitgliedschaft in der ECT-Charta verletze Artikel zwei und acht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Beeinträchtigt wären demnach das Recht auf Leben und das recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Der Preis für den Klimaschutz ist hoch

Die Klage fällt in eine Zeit, in der die ECT-Charta ohnehin unter die Lupe genommen wird, weil sie die Ziele des Pariser Klimaabkommens bedroht.
Sollten Länder vorzeitig aus der Kohle-, Gas- oder Ölproduktion aussteigen, könnten die betroffenen Unternehmen die Staaten bis 2050 auf schätzungsweise 1,3 Billionen Euro Entschädigung verklagen.

Für Klimaaktivisten ein Horrorszenario, in dem der Übergang in eine grüne Zukunft massiv behindert würde – während sich die Erde konstant weiter erwärmt.

In einem Brief, der dem "Guardian" vorliegt und der von 76 Klimaforschern unterzeichnet wurde, mahnten die Wissenschaftler bereits, dass das Abkommen das Ende fossiler Energieträger bremse oder hohe Kompensationszahlungen erfordere. "Beide Optionen werden das EU-Klimaneutralitätsziel und den EU Green Deal gefährden", schreiben die Forscher und fordern die französische Ratspräsidentschaft dazu auf, auf einen Austritt der Mitgliedstaaten aus dem Vertrag hinzuarbeiten.

Noch in dieser Woche wollen sich die ECT-Mitgliedsstaaten auf eine "Modernisierung" des Abkommens einigen. Die EUropäische Kommission, die im Namen der 27 Mitgliedstaaten handelt, hat eine hat einen schrittweisen Ausstieg aus dem Investorenschutz für fossile Brennstoffe bis Ende 2040 vorgeschlagen. Für Aktivisten kommt dieser Schritt zu spät. Sie sehen in dem Kompromissvorschlag nur eine Besänftigung jener Länder, die Investoren für fossile Energieträger schützen wollen.

Frankreich, Deutschland, Polen und Spanien haben die Kommission laut "Guardian" damit beauftragt zu prüfen, wie die EU aus dem Abkommen ausscheiden könnte. Das berichtete die Website "Euractive" unter Berufung auf geleakte Dokumente. Die Länder sind skeptisch, ob die Charta jemals mit den europäischen Klimazielen vereinbar wäre, wie die Dokumente zeigen. Die Vertreter der ECT-Charta weisen dieser Vorwürfe zurück. Ihrer Ansicht nach diene die Charta lediglich dazu, die Rechte von Energiekonzernen zu schützen.


Artikel in Euractive  hier

Mehrere EU-Länder sind angesichts der langsamen Reform des Energiechartavertrags (ECT) ungeduldig. Der ECT behindert der laut Kritiker:innen die internationalen Bemühungen um den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen.

Deutschland, die Niederlande, Polen und Spanien sind von den Versuchen, den ECT zu reformieren, frustriert und bezweifeln, dass die EU ihr Mandat erfüllen kann, den Vertrag mit dem Pariser Abkommen zum Klimawandel in Einklang zu bringen.

Die vier Länder haben die Europäische Kommission, die im Namen der 27 EU-Mitgliedstaaten verhandelt, aufgefordert, zu prüfen, wie ein koordinierter Austritt gemäß den EU-Verfahren eingeleitet werden könnte, und sich rechtzeitig auf „mögliche Ausstiegsszenarien“ vorzubereiten, wie aus den durchgesickerten Berichten hervorgeht, die EURACTIV vorliegen.

„Spanien machte auch deutlich, dass es ein Ausstiegsszenario in Betracht ziehen würde, da es nicht sehe, wie der Energiechartavertrag an das Pariser Abkommen angepasst werden könne“, heißt es in den Dokumenten, die aus einer nicht näher bezeichneten europäischen Sprache ins Englische übersetzt wurden.

Japan behindert die Gespräche nach wie vor erheblich und hat „Rückschritte bei der Definition von Investitionen und nachhaltiger Entwicklung“ gemacht, die rechtliche Eckpfeiler der Vertragsarchitektur darstellen, heißt es dort.
Gemeinsam mit Aserbaidschan (was wohl Thomas Bareiß dazu zu sagen hat?) lehnt Tokio auch den Verweis auf Arbeitnehmerrechte im reformierten Vertrag ab und widersetzt sich Änderungen an der Definition des Begriffs „wirtschaftliche Tätigkeit“ – dem umstrittensten Aspekt.

Die EU beabsichtigt, den Investitionsschutz für fossile Brennstoffe schrittweise abzubauen.
Der 1994 zum Schutz grenzüberschreitender Investitionen im Energiesektor unterzeichnete Vertrag über die Energiecharta sieht sich zunehmender Kritik von Umweltgruppen und Regierungen ausgesetzt, die behaupten, er behindere den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen.

Das Abkommen ist umstritten, weil es ausländischen Investor:innen die Möglichkeit gibt, von Regierungen eine finanzielle Entschädigung zu fordern, wenn sich Änderungen in der Energiepolitik negativ auf ihre Investitionen auswirken.
So haben die Energieversorger RWE und Uniper das Abkommen genutzt, um die niederländische Regierung wegen des geplanten Kohleausstiegs zu verklagen. Auch der deutsche Energiekonzern Vattenfall hat schon mit Berufung auf den ECT geklagt.
Die Gespräche zur Reform des Abkommens begannen im Juli 2020, haben aber bisher kaum Fortschritte erzielt.

Eine Reform der Charta ist schwierig, da sie Einstimmigkeit unter den mehr als 50 Unterzeichnern erfordert, zu denen fast alle EU-Länder und die Europäische Union als internationale Organisation gehören.
Frankreich und Spanien zählen zu den größten Befürwortern radikaler Reformen und forderten die EU-Länder auf, gemeinsam auszusteigen, wenn die Verhandlungen bis Ende 2021 keine Fortschritte bringen.

Doch obwohl die letzte Verhandlungsrunde die Atmosphäre verbesserte, „blieb die Diskussion schwierig, und die Fortschritte waren geringer als die Europäische Kommission erhofft hatte“, heißt es in den geleakten Dokumenten.
Die EU-Exekutive versucht nun, einen bilateralen Kompromiss mit Japan zu schmieden, der einen 15-jährigen Ausstiegszeitraum für bestehende Investitionen vorsieht.

Die Kommission hofft, dass die anderen Vertragsparteien diesen Vereinbarungen folgen und am 24. Juni auf einer Ad-hoc-Energiechartakonferenz in Brüssel eine politische Einigung erzielen können. Der Konferenz soll am 23. Juni eine eintägige Sitzung der Arbeitsgruppe für die Anpassung des Vertrags vorausgehen, in der Meinungsverschiedenheiten in letzter Minute ausgeräumt werden könnten.

Umweltschützer:innen erhöhen unterdessen den Druck auf die Kommission, indem sie im Laufe des Tages in Brüssel am Schumann-Kreisel im Herzen des Europaviertels protestieren wollen.
„Der Klimakiller ECT kann niemals mit dem Pariser Abkommen und dem europäischen Green Deal in Einklang gebracht werden“, sagte Paul de Clerck, ein Aktivist bei Friends of the Earth Europe.

Er prangerte den zaghaften Kompromiss an, der mit Japan ausgehandelt wurde und sagte: „Die erwartete Einigung wird den Schutz von Investitionen in fossile Brennstoffe um mindestens ein weiteres Jahrzehnt verlängern, was mit dem Pariser Abkommen unvereinbar ist.“
„Die einzige vernünftige Option für die EU und ihre Mitgliedstaaten, um ihrer Klimaverantwortung gerecht zu werden, ist der Rückzug aus diesem toxischen ECT.“


Reform der Energiecharta gescheitert?

Ohne greifbare Fortschritte ging in Brüssel offenbar die jüngste Verhandlungsrunde um den Energiecharta-Vertrag zu Ende. Umweltschützer sprechen jetzt von einem endgültigen Scheitern der angestrebten Reform. Die mitverhandelnde EU hält sich bislang bedeckt.


...Für Lilian Löwenbrück vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin war ebenfalls abzusehen, dass die Reformgespräche nicht zu grundlegenden Veränderungen führen würden. "Umso wichtiger ist es jetzt, dass möglichst viele Mitgliedsstaaten einen rechtssicheren Ausstieg aus dem ECT in die Wege leiten", sagte Löwenbrück.

Auch sie sieht die Bundesregierung besonders in der Pflicht: "Deutschland sollte sich für einen gemeinsamen Ausstieg der EU-Mitgliedsstaaten in besonderem Maße einsetzen." Schließlich seien es zwei deutsche Energiekonzerne, die die Niederlande für ihr 2019 beschlossenes Gesetz zum Kohleausstieg auf Schadenersatz in Milliardenhöhe verklagen.

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