SZ hier 11. Juni 2022, Von Marco Völklein
Nach dem Ansturm auf das Neun-Euro-Ticket und dem Zugunglück in Garmisch wird so intensiv über den Zustand des Schienennetzes diskutiert wie lange nicht. Was nun passieren muss.
...Bereits im Dezember hatten Güterbahnbetreiber darüber geklagt, dass zahlreiche Baustellen der Deutschen Bahn (DB) und der Mangel an leistungsfähigen Umleitungsstrecken die Züge ausbremsten. Stundenlange Verspätungen waren die Folge, teils mussten Züge abgestellt, Frachtaufträge storniert werden. Zuletzt sorgte ein von der Wirtschaftswoche veröffentlichtes, internes Video des für den Gütertransport zuständigen DB-Vorstands Ralf Kloß für Aufsehen. Der Manager sprach von Baumaßnahmen und Störungen im Netz, die kaum noch beherrschbar seien. "Wir sind in einer Situation, die ist fast schon unbeschreiblich." Und er warnte seine Belegschaft: Die bisherigen Baumaßnahmen seien "nur der Beginn".
Tatsächlich hat sich bei der Bahn ein immenser Sanierungsstau aufgebaut: Strecken, Bahnhöfe und Tunnel müssen erneuert, marode Brücken ersetzt werden. Zudem wurden in der Vergangenheit viele Gleise abgebaut, die Länge des Schienennetzes schrumpfte seit der Bahnprivatisierung im Jahr 1994 von 44 600 Kilometern auf aktuell 38 400 Kilometer. Zugleich will die Bundesregierung künftig mehr Fahrgäste und Güter auf die Schiene holen, um beim Klimaschutz voranzukommen. Bis 2030 soll der "Deutschland-Takt" stehen, ein bundesweit integrierter Fahrplan mit getakteten An- und Abfahrtszeiten an wichtigen Bahnhöfen. Man habe ein "kurzfristig kaum auflösbares Dilemma", sagt DB-Chef Richard Lutz: "Gleichzeitig wachsen und modernisieren."
In den nächsten Wochen will er mit dem Bund ein Konzept vorlegen, um zentrale Trassen von 2024 an grundlegend zu sanieren. Projekte sollen dabei gebündelt und hochbelastete Strecken notfalls auch für längere Zeit gesperrt werden. Für die Fahrgäste heißt das erst mal nichts Gutes: Sie werden sich weiter mit Verspätungen, Umleitungen, Zugausfällen und Ersatzbussen herumschlagen müssen. Lutz räumt ein, dass der Konzern jetzt schon von seinem Pünktlichkeitsziel von 80 Prozent im Fernverkehr "signifikant weg" sei. Im April war fast ein Drittel der Züge unpünktlich. Und Güter werde man in Einzelfällen während der Sanierungen auf der Straße transportieren müssen - womit der Bahnchef Kritik von Konkurrenten auf sich zieht: Einmal an den Lkw verlorene Frachtkunden könne man nur schwer wieder zurückgewinnen. Und so auf lange Sicht auch nicht die Autobahnen entlasten.
Eine schnelle Sanierung des Netzes allein wird aus Sicht von Fachleuten nicht genügen, um die ambitionierten Ziele zu erreichen. So müssen für den Deutschland-Takt mehr als 180 Neu- und Ausbauprojekte bewältigt werden. Doch es geht nur langsam voran: Nach Berechnungen des Lobbyverbands Allianz Pro Schiene wuchs das Bundesschienennetz 2021 per Saldo um zwei Kilometer - elf Kilometer wurden neu in Betrieb genommen, gleichzeitig knapp neun Kilometer stillgelegt, verkauft oder zurückgebaut.
Zwar stiegen die jährlichen Investitionen des Bundes ins Bahnnetz zuletzt: von 49 Euro pro Kopf im Jahr 2014 auf 88 Euro im Jahr 2020. Im Vergleich zu anderen Ländern wie der Schweiz (440 Euro) oder Österreich (249 Euro) sei das aber zu wenig, klagt der Verband. Der Deutschland-Takt sei in Gefahr, sollte der Bund nicht mehr Finanzmittel geben und diese langfristig im Haushalt absichern - so wie von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag vereinbart. Dort hat die Ampel auch eine Neuausrichtung der für die Infrastruktur zuständigen DB-Töchter vorgesehen. Branchenkenner berichten indes, dass es nicht nur am Geld mangelt: Unter anderem fehlen Fachleute in Planungsbüros und Genehmigungsbehörden; auch Baufirmen müssen wegen Personalknappheit Aufträge der Bahn ablehnen. Kritiker hoffen: Ist absehbar, dass auf Jahre hinaus mehr Geld verlässlicher als bisher in die Schiene fließt, werden Unternehmen und Behörden ihre Kapazitäten aufstocken.
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