Mittwoch, 22. Juni 2022

aktuelle Verkehrspolitik: „Klimapolitische Geisterfahrt“

 heise online   21.06.2022 Stefan Krempl  hier

Greenpeace fordert Vollbremsung der aktuellen Verkehrspolitik

Angesichts des verfehlten Klimaziels müsse das Verkehrsministerium widersprüchliche Förderprogramme und fiskalische Maßnahmen ändern, verlangt Greenpeace.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) muss bis Mitte Juli ein Sofortprogramm zum Klimaschutz vorlegen. Grund ist, dass Deutschland im Verkehrssektor 2021 deutlich mehr Treibhausgase ausgestoßen hat, als im Bundesklimaschutzgesetz als Höchstmenge vorgesehen.
Tobias Austrup, Experte für Mobilität bei Greenpeace, sieht Wissing dabei unter Zugzwang: Nötig sei eine "Vollbremsung" hinsichtlich der bisherigen Verkehrspolitik.

Der Verkehrsminister müsse in diesem Bereich gleichermaßen "alles ändern", erklärte Austrup am Dienstag in einem Fachgespräch der Grünen-Bundestagsfraktion. Dies betreffe etwa "widersprüchliche Förderprogramme" und andere fiskalische Maßnahmen. Es gebe in der Verkehrspolitik bislang gar keine "ausreichenden strukturellen Pfade", um die ambitionierten Klimaziele auch nur annähernd auf Dauer zu erreichen.

Mittelfristig müsse sich das Mobilitätsverhalten der Bürger verändern, betonte der Vertreter der Klimaschutzorganisation. Dafür reiche es nicht aus, sich aus dem verfügbaren Instrumentenkasten ein paar Werkzeuge rauszusuchen. Vielmehr müssten etwa der Rad- und Fußverkehr zusammen mit dem ÖPNV deutlich gestärkt werden. Die Niederlande seien da schon weiter. In Eindhoven signalisiere etwa eine ringförmige Brücke für Radfahrer über einer Kreuzung, dass sie Autos nicht nur überschweben könnten, sondern als Verkehrsteilnehmer ernst genommen würden.

Neuzulassungssteuer für Pkw

Als wichtigen Anreiz zur Wende plädierte Austrup für eine Neuzulassungssteuer. Mit einem solchen zweiten Preisschild mit Zusatzkosten zwischen 10.000 und 30.000 Euro könnte der Staat klarmachen: "Kauft am besten ein E-Auto, keinen Spritfresser." Es brauche eine deutliche Lenkungswirkung vonseiten der Politik, die klimaneutralen Antrieben einen "ganz klaren Vorrang" einräume und im urbanen Raum Flächen neu verteile.

Bei Letzterem sei die Straßenverkehrsordnung immer noch ein "Korsett" für die Kommunen, erläuterte der Aktivist. Für den ÖPNV und die Schiene könnte der Staat etwa sehr viel Geld aus dem Autobahnbau "umwidmen". Für die Nachfolge des 9-Euro-Tickets biete es sich an, von Österreich zu lernen. Dort gebe es ein Jahresticket für 365 Euro für die eigene Stadt, der man den Nachbarverkehrsverbund noch hinzufügen könnte. Infrage komme dabei eine "Nutznießerfinanzierung", um die Kosten zu decken: Unternehmen etwa könnten pro Arbeitnehmer, der "nicht schon eine Stunde im Stau gestanden" habe, einen gewissen Beitrag leisten.

Eine Vollbremsung von Wirtschaft und Gesellschaft, um die Pariser Klimaziele zu erreichen, wolle das Bundesverfassungsgericht nicht, verdeutlichte Philipp Schönberger von der Umweltrechtsberatung Green Legal Impact. Die Karlsruher Richter plädierten in ihrem jüngsten einschlägigen Grundsatzurteil für einen "freiheitsschonenden Übergang zur Klimaneutralität".
Dies erfordere es andererseits, Transformationsprozesse möglichst frühzeitig einzuleiten.

Umsetzungs- und Vollzugsdefizit

Das Klimaschutzgesetz sieht derzeit vor, den Treibhausgas-Ausstoß bis 2045 auf Netto Null zu senken. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen habe das verbliebene maximale CO₂-Budget für Deutschland aber gerade deutlich auf 6,1 Gigatonnen CO₂ gesenkt, berichtete Schönberger. Um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, müsste die Klimaneutralität so bereits bis 2031 erreicht werden, für die 1,75-Grad-Vorgabe bis 2040.

Trotz der verschärften Situation beklagt Schönberger an der Politik "insgesamt ein Umsetzungs- und Vollzugsdefizit". Es gelte etwa, Instrumente für die Treibhausgas-Mengensteuerung auf Projektebene zu schaffen. Die Verkehrswegeplanung wäre hier ein sinnvolles Werkzeug. In der Raumordnung werde der Ausbau von Fernstraßen aber noch in einem Bundesgesetz festgeschrieben. Gemeinden könnten sich so kaum dagegenstellen. Hier müsse der Gesetzgeber intervenieren und "die ganze Kiste aufmachen". Andere Beteiligte wie Wiebke Zimmer von der Agora Verkehrswende verwiesen auf Forderungen wie eine verursachergerechte Maut in Höhe von 5,4 Cent pro Kilometer.

Höhere Kraftstoffpreise

"Die fossilen Kraftstoffe müssen teurer werden", warb Uta Maria Pfeiffer, Abteilungsleiterin Mobilität und Logistik beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), für weiter steigende Benzin- und Dieselpreise entgegen dem derzeitigen Tankrabatt. Die Energiesteuerrichtlinie sollte zudem umgestaltet werden, um alternative, strombasierte Kraftstoffe wie E-Fuels etwa auch für Langstreckenflugzeuge günstiger zu machen. So würden die Leute schon aufgrund des Geldbeutels auf die Elektromobilität umsteigen. Die Kaufprämie für E-Fahrzeuge sollte aufrechterhalten, aber abgeschmolzen und neu austariert werden.

Eine weitere wichtige Maßnahme sei der Infrastrukturausbau, um mehr Güterverkehr auf Binnenschiffe und die Schiene verlagern zu können. Das Bahnnetz könne den zusätzlichen Bedarf momentan gar nicht abdecken. Baustellen müssten aber so gestaltet werden, dass sie Industrien wie die Stahlbranche nicht von Versorgungswegen abschnitten.

Die Politik müsse "jetzt reingehen in Schiene und Fahrrad", forderte der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Stefan Gelbhaar. Entscheidend seien etwa deutliche Effizienzsteigerungen im Verkehrsbereich, der hierzulande durch "unglaublich viele leere, stehende Fahrzeuge" geprägt sei. Deutschland brauche keine 50 Millionen Autos. Um die Vorgaben aus Karlsruhe zu erfüllen, "dürfen wir nicht beim veralteten Freiheitsbegriff stehen bleiben". Die Ampel-Koalition sollte stärker "ans Handeln und Umsteuern kommen".


Hier der Artikel von Greenpeace dazu

„Klimapolitische Geisterfahrt“

Das EU-Parlament stellt die Weichen für ein Verbrenner-Aus, große Teile der Branche gehen mit. Doch Verkehrsminister Wissing (FDP) ist dagegen. Schade, dass er keine bessere Idee hat.

„Mit Spannung erwartet“ beschreibt Dienstag, den 7. Juni, nur unzureichend. Es war ein Tag der Entscheidung, vielleicht sogar eine Zeitenwende. Das europäische Parlament stimmte ab über das Ende von Diesel und Benziner. Und aller Lobbyanstrengungen von Autoindustrie und Mineralölwirtschaft zum Trotz, stimmte das Parlament dafür, dass ab 2035 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. Eben das hatte auch die EU-Kommission in ihrem „Fit for 55“-Programm vorgeschlagen. Auch wenn die Mitgliedsstaaten noch zustimmen müssen und obwohl das Datum mindestens fünf Jahre zu spät für das 1,5-Grad-Ziel wäre: Es war ein unüberhörbares Signal an die Branche und ihre Kunden, dass die Zukunft elektrischen Antrieben gehört. 

Noch vor ein paar Monaten hätte man gedacht, dass Volker Wissing diese Nachricht mit Genugtuung aufnimmt. „Wenn man sich die EU-Regulierung anschaut, sieht man, dass die Entscheidung für die E-Mobilität längst gefallen ist“, sagte der FDP-Mann, kaum dass er den Posten als Verkehrsministers übernommen hatte. Von dieser Einsicht scheint Wissing heute weit entfernt. Im Nachgang der EU-Entscheidung teilte der Minister mit: „Wir wollen, dass auch nach 2035 Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor neu zugelassen werden können, wenn diese nachweisbar nur mit E-Fuels betankbar sind." Eine 180-Grad-Wende verglichen mit seinen früheren Aussagen, und das Gegenteil dessen, worauf die Ampelparteien sich in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt haben.
„In den Verhandlungen über das EU-Programm ‚Fit for 55‘ unterstützen wir die Vorschläge der EU-Kommission“, heißt es dort auf Seite 43.

Mit dem Verweis auf so genannte E-Fuels füttert Wissing einen alten Mythos. Diese auf Basis erneuerbarer Energien hergestellten Treibstoffe können theoretisch klimaneutral sein. Kann der alte Motor also mit sauberem Treibstoff weiterbetrieben werden? Beim Auto wird das nicht funktionieren, denn E-Fuels verbrauchen mindestens fünfmal so viel Energie, wie heute verfügbare E-Autos. Eine solche Verschwendung sauberer Energie können wir uns nicht leisten.
Anfang des Jahres hat das Volker Wissing selbst sehr klar auf den Punkt gebracht: „Auf absehbare Zeit werden wir aber nicht genug E-Fuels haben, um die jetzt zugelassenen Pkw mit Verbrennungsmotor damit zu betreiben.“ Teure E-Fuels müssen dort eingesetzt werden, wo Batterieantriebe nicht möglich sind, also etwa in Flugzeugen.

FDP muss Klimaschutzmaßnahmen für Verkehr vorlegen

Selbst die Automobilbranche ist in großen Teilen aufgeschlossen für den EU-Zeitplan. Volkswagen, der mit Abstand größte deutsche Autobauer, nannte die Ziele „ambitioniert, aber erreichbar“ und auch Mercedes-Benz begrüßte das Votum. Für die Autofahrenden wäre ein vollständiger Umstieg auf saubere Antriebe sogar schon ab dem Jahr 2030 die günstigere Alternative, wie die Brüsseler Umweltschutzorganisation ICCT in einer Kalkulation zeigt.
Das lässt Wissings Warnung, ein Verbrenner-Aus bedeute „für die Bürgerinnen und Bürger einen harten Schritt“, wie eine kalkulierte Angstmache klingen. Der tiefere Sinn der Verweigerungshaltung des Verkehrsministers bleibt unklar.

Ein vorgezogener Ausstieg aus dem Verbrenner wäre eine deutliche Entlastung für die Haushalte.  Würden ab dem Jahr 2030 ausschließlich abgasfreie Autos zugelassen, würde das die Energiekosten - also die eingesparten Spritkosten gegengerechnet mit den höheren Stromkosten für mehr E-Autos - allein in Deutschland um 128 Milliarden Euro senken, zeigen Berechnungen von Greenpeace. Ein Vorziehen auf das Jahr 2028, wie es Greenpeace fordert, um die Emission in Einklang mit dem 1,5-Grad-Klimaziel zu bringen, könnte die Energiekosten sogar um 177 Milliarden senken. Der CO2-Ausstoß würde jeweils deutlich zurückgehen. 

(Der Artikel wurde am 9. Juni 2022 veröffentlicht und am 20 Juni aktualisiert.)

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