Montag, 20. Juni 2022

Geothermie: Immer verfügbar, klimaneutral – aber kaum genutzt

 Die Zeit  hier

Mit Geothermie könnte Deutschland unabhängiger heizen, kühlen, Strom erzeugen. Die Energiewende braucht die Wärme aus dem Boden. Über Vorteile und Risiken der Technologie

Ein Großteil der Energie wird in Deutschland fürs Heizen gebraucht und zu fast 70 Prozent mit fossilen Brennstoffen erzeugt – allem voran mit russischem Erdgas. Seit dem Krieg gegen die Ukraine will Deutschland nun so schnell wie möglich ohne das Gas auskommen. Könnte Geothermie Teil der Lösung sein? Ihr Potenzial auszuschöpfen, das forderten kürzlich mehrere Verbände in einem gemeinsamen Positionspapier. Die Erdwärme ließe sich fast überall nutzen.

Was ist Geothermie?

Mit der Geothermie gewinnt man Energie aus dem Boden. Genauer gesagt: aus den unterirdischen Erd- und Gesteinsschichten und Wasserreservoirs. Denn je tiefer man bohrt, desto wärmer wird es in der Erde – im Durchschnitt zwei bis drei Grad pro 100 Meter. Diese Energie kann man mit der Geothermie heraufholen und als Wärme, zur Kühlung oder zur Stromerzeugung nutzen.

Dabei unterscheidet man zwei Arten: Die oberflächennahe Geothermie bis 400 Meter Tiefe und die Tiefengeothermie, die in mehrere Kilometer Tiefe vordringt. Außerdem lässt sich Geothermie auch als Energiespeicher nutzen – in den Niederlanden gibt es rund 2.000 solcher Speicher. Dabei wird meist ein Wärmeüberschuss aus dem Sommer ohne große Verluste monatelang in unterirdischen Wasserbecken, Gestein oder Erdwärmesonden gespeichert. Im Winter kann die Wärme dann zum Heizen genutzt werden.

Wie funktioniert die Technik?

Es gibt verschiedene Ansätze, die Wärme aus der Erde zu nutzen, die sich vor allem je nach Tiefe unterscheiden. Bei der oberflächennahen Geothermie kommen im Wesentlichen zwei Verfahren zur Anwendung. Zum einen die Erdwärmekollektoren, ein System aus Kunststoffrohren, die bis 1,5 Meter Tiefe verlegt werden und in denen eine Mischung aus Wasser und Sole zirkuliert. Diese Flüssigkeit nimmt die Wärme aus dem Erdreich auf und gibt sie an das Heizsystem ab. Zum anderen gibt es Erdwärmesonden, mit denen man die Erdwärme bei 50 bis 100 Metern Tiefe nutzt. Auch hier zirkuliert eine Trägerflüssigkeit, allerdings werden die Sonden in vertikale oder schräge Bohrlöcher eingelassen und nutzen so den Anstieg der Temperatur in der Tiefe. Beide Systeme benötigen zudem eine Wärmepumpe, damit das erwärmte Wasser auch wieder nach oben gelangt. Sie werden vor allem zum Heizen und Kühlen von Ein- und Mehrfamilienhäusern genutzt, eignen sich also vorwiegend für Privatleute und Gewerbe.

Ganze Stadtviertel hingegen kann die Tiefengeothermie ab 400 Metern Tiefe mit Wärme versorgen. Zu einem geringeren Teil wird damit auch Strom erzeugt. Hier ist die gängigste Technik die sogenannte hydrothermale Geothermie: Dabei werden wasserführende Schichten in bis zu 5.000 Metern Tiefe angezapft, die bis zu 180 Grad warm sein können. Dieses Thermalwasser wird in geschlossenen Kreisläufen an die Erdoberfläche gepumpt und die Wärme über Wärmetauscher abgegeben.....

Brauchen wir Geothermie für die Energiewende?

Ja, unbedingt. Geothermie gilt als erneuerbare Energie, sie ist unerschöpflich, klimaneutral und zudem immer vorhanden. Sie ist unabhängig von Jahres- oder Tageszeiten oder dem Wetter. Die Erde selbst ist der Speicher: Überschüssige Energie im Sommer kann in unterirdischen Wasservorkommen gespeichert und im Winter zum Heizen genutzt werden. Damit ist Geothermie grundlastfähig – eine Eigenschaft, die der schwankenden Sonnen- und Windkraft erst mal fehlt. Wegen des geringen Flächenbedarfs – der Großteil der Anlagen ist unterirdisch – eignet sie sich auch für Städte mit wenig Platz. "Wir brauchen Geothermie vor allem für die Wärmewende, die hat Deutschland seit Jahren verschlafen", sagt Maximilian Keim, Geowissenschaftler und Experte für Tiefengeothermie an der TU München. In den letzten zwei Jahrzehnten habe man sich in Deutschland bei der Energiewende auf Strom konzentriert und die Wärme vernachlässigt. Obwohl der Wärmesektor mit 56 Prozent mehr als die Hälfte des nationalen Energiebedarfs ausmacht und der erneuerbare Anteil seit Jahren bei rund 15 Prozent stagniert. "Deutschland hat beim Heizen viel zu lange auf Öl und Gas gesetzt", sagt Keim. Wärmegewinnung mit Geothermie ist aber derzeit nur ein kleiner Bruchteil der gesamten Wärmegewinnung, der Anteil von Geothermie und Umweltwärme, bei der auch Energiegewinnung aus Luft und Wasser hinzugerechnet wird, lag 2021, bezogen auf den Endenergieverbrauch bei weniger als zwei Prozent

Nun aber hat Deutschland sich auch bei der Wärme ambitionierte Klimaziele gesetzt: Bis 2030 soll die Hälfte der Wärmeerzeugung klimaneutral sein. Weil zugleich das ganze Land unabhängig werden will von russischem Erdgas, gilt die Geothermie unter Energieexperten plötzlich als unverzichtbarer Baustein der Wärmewende. Und sogar als wettbewerbsfähig angesichts steigender Energiepreise. Deutlich mehr als 300 Terrawattstunden Jahresarbeit könne die hydrothermale Geothermie liefern, haben Forschende von mehreren Helmholtz- und Fraunhofer-Forschungsinstituten sowie dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in einer kürzlich erschienenen "Roadmap für Tiefengeothermie für Deutschland" errechnet. Rechne man die petrothermale Geothermie sowie die Oberflächengeothermie zur Gebäudeheizung und -kühlung hinzu, komme man auf deutlich höhere Werte. Um das 50-Prozent-Ziel klimaneutraler Wärme bis 2030 abzudecken – das entspricht etwa 400 Terrawattstunden –, empfehlen die Forscherinnen, mindestens 100 Terrawattstunden aus tiefer Geothermie bereitzustellen. 

Kann man Geothermie überall nutzen?

Erdwärme ist überall vorhanden, für die Oberflächengeothermie eignet sich erst einmal jeder Standort in Deutschland. Bei der Tiefen Geothermie gibt es regionale Unterschiede. Besonders geeignet ist dafür der süddeutsche Raum mit dem Alpenvorland und dem Oberrheingraben und das norddeutsche Tiefland. Bohrt man zwischen Basel und Frankfurt einen Kilometer in die Tiefe, steigt die Temperatur mancherorts über 100 Grad.

Ist Geothermie gefährlich?

Seit sich im badischen Staufen nach oberflächennahen Geothermie-Bohrungen das Gelände hob, gilt vielen Menschen Geothermie als gefährlich. "Dabei ist Staufen mit der darunter liegenden quellfähigen Gesteinsschicht ein geologischer Sonderfall, das kann in den meisten Gegenden Deutschlands nicht passieren", sagt Geowissenschaftler Keim. Die Bohrlöcher waren in Staufen nicht gut abgedichtet worden, woraufhin Wasser in die Anhydrit-Gipsschicht eindrang – die dann aufquoll. Bis Rathaus und 270 Stadthäuser Risse und andere Schäden bekamen und Leitungen barsten. Zwei Häuser mussten abgerissen werden. "Dazu kommt, dass hier geologisches und technisches Wissen ignoriert wurde. Tausende ähnliche Projekte in Deutschland laufen einwandfrei", sagt Keim.

Was dagegen nicht von der Hand zu weisen ist: Die tiefen Bohrungen lösen immer wieder Erschütterungen aus. Doch diese sind weit entfernt von Erdbeben, auch wenn das immer wieder so dargestellt wird: "Das ist eher vergleichbar mit einem großen Lkw, der nah am Haus entlangfährt. Da wackeln vielleicht die Gläser im Schrank", sagt Keim. Und es könnten Putzrisse entstehen – mehr jedoch nicht. Und die Technik ist inzwischen sehr ausgefeilt, um mögliche Erschütterungen einzuschätzen und zu überwachen. Auch das Umweltbundesamt befürchtet keine Schäden (Umweltbundesamt: Plenefisch et al., 2015). 

Laut der Geothermie-Roadmap ist die Tiefengeothermie der sicherste geologische Energieträger im Vergleich zu Erdgas, Erdöl, Kohle oder Kernenergie.

Schadet Geothermie dem Grundwasser?

Nein, wenn die Bohrungen korrekt durchgeführt werden. Es hält sich aber der Vorwurf, dass Geothermie Grundwasser kontaminieren oder schaden kann, weil die Bohrungen teils durch grundwasserführende Schichten gehen oder Grundwasser für Wärme oder Kühlung genutzt wird. "Weltweit gibt es viele Tausend Anlagen, die seit Jahren oder sogar Jahrzehnten einwandfrei funktionieren. In der Vergangenheit gab es zwei oder drei prominente negative Beispiele vor allem aus der tiefen Geothermie, bei denen es zu Grundwasserproblemen oder Erschütterungen kam", sagt Edith Haslinger vom Austrian Institute of Technology. Das Know-how hat sich in den letzten Jahren vor allem in der Erkundung und Bohrtechnik stark weiterentwickelt, die Bohrunternehmen wüssten, wie sich die Grundwasserstockwerke trotz der Bohrlöcher nicht vermischen, sagt Haslinger. Und die Kontrollen sind streng: Die Behörden überwachen die Verfahren und würden im Ernstfall sofort eingreifen.

Wie verbreitet ist Geothermie in Deutschland?

In Deutschland laufen derzeit 42 Tiefengeothermie-Anlagen, davon drei geothermische Kraftwerke, die vor allem Wärme liefern (359 Megawatt). Dazu kommen mehr als 440.000 oberflächennahe Erdwärme-Systeme, die 4400 Megawatt Wärme liefern. Ein Zentrum der Geothermie ist im Großraum München, wo Geothermie bereits flächendeckend vor allem zur Wärmeversorgung eingesetzt wird. ....

Warum wird Geothermie nicht mehr genutzt?

Dass sich Geothermie in Deutschland noch immer in der Nische befindet, liegt vor allem an den hohen Anfangsinvestitionen, verbunden mit hohem Risiko – und dem politischen Willen. "Erst die Bohrung liefert Gewissheit, ob an dem Standort ausreichend heißes Thermalwasser vorhanden und er damit geeignet ist", sagt Geowissenschaftler Keim. Und dafür muss man auf jeden Fall mehrere Millionen Euro in die Hand nehmen. "Das können sich viele Kommunen nicht leisten." Kein Wunder, sagt er, dass das relativ reiche Münchner Umland mit der Energieversorgung durch Geothermie schon recht weit sei, während die ärmeren Kommunen außerhalb des Speckgürtels eher Blockheizkraftwerke installiert hätten.

Auch der Roadmap-Bericht rechnet immense Investitionssummen vor: Um in zehn Jahren ein Viertel der Wärme aus Geothermie zu decken, braucht es rund 60 Milliarden Euro an Investitionen. Um in 20 Jahren den Anteil auf 70 Gigawatt nahezu zu verdreifachen, würden auch die Kosten um den Faktor drei steigen. Oder, anders ausgedrückt: Je Gigawatt installierter Leistung kommen Investitionen von bis zu 2,5 Milliarden Euro auf uns zu.

Ist Geothermie überhaupt wirtschaftlich?

Jahrelang überwog bei Industrie und Politik die Meinung, Geothermie lohne sich nicht. Zu groß das Risiko, zu teuer die Anfangsinvestitionen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gas und Öl waren vergleichsweise zu billig. Das ändert sich jetzt, zusammen mit der Nachfrage von Endverbraucherinnen und Industrie nach autarker Energieversorgung. "Die Betriebskosten einmal installierter Anlagen sind sehr niedrig. Dass sich die Geothermie nicht rechnet – das langjährig vorherrschende Argument – gilt unter den momentanen Rahmenbedingungen nicht mehr", sagt Haslinger. Auch die Autorinnen der Roadmap kommen zu dem Schluss: "Tiefe Geothermie ist wettbewerbsfähig" – schon heute. Das gilt vor allem für die Wärmeversorgung aus Geothermie, weniger für Strom.....

Welche politischen Maßnahmen wären nötig, um die Geothermie zu etablieren?

Es bräuchte ein ganzes Bündel an Maßnahmen. Etwa mehr Förderung: "Die Branche wartet seit zwei Jahren auf die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze", sagt Keim.
Die Folge: Statt zu investieren, warten die Betriebe, weil sie die Förderung verständlicherweise nutzen wollen. Außerdem: Die bereits erwähnte staatliche Absicherung des Fündigkeitsrisikos. Und in einem gemeinsamen Positionspapier fordern mehrere Energieverbände, dass erneuerbare Wärmeerzeugung wie die Geothermie in allen Gesetzen klar priorisiert werde. Und der bereits absehbare Fachkräftemangel in Forschung und Anwendung mit Aus- und Weiterbildungsprogrammen angegangen werde. Die Autorinnen der Geothermie-Roadmap nennen als erstes: politische Ausbauziele, am besten gestaffelt in Fünfjahresschritten, umgesetzt vom Gesetzgeber. 

"Außerdem brauchen wir Behörden, die die Genehmigungsverfahren schneller bearbeiten können", sagt Keim. Momentan fehlt es überall an Personal, so dass die Verfahren manchmal mehrere Jahre dauern. "So erreichen wir das Ziel von 50 Prozent klimaneutraler Wärme bis 2030 nicht", sagt er. Nicht zuletzt braucht es Öffentlichkeitsarbeit, die die Akzeptanz in der Bevölkerung steigert. "Staufen sitzt tief in den Köpfen der Leute", sagt Keim. "Aber wenn man mit den Leuten redet und die Technologie erklärt, kann man die bestehenden Sorgen in aller Regel nehmen."

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