Ausstieg oder Reform - das ist die große Frage. Schnell wird es auf keinen Fall gehen, obwohl das einem Normalbürger kaum zu vermitteln ist, angesichts der dramatischen Auswirkungen für das Klima.
Wie konnte es nur zu solchen Knebelverträgen kommen? Wieso hat Deutschland da mitgemacht?
FAZ hier:
Kein Schutz mehr für fossile Projekte
- -AKTUALISIERT AM
Freitag hier Tatjana Söding
Energiecharta-Vertrag: In den Fesseln der Fossilen Industrie
Die aktivistische Klimagerechtigkeitsbewegung erhält vermehrt Zulauf von Wissenschaftler:innen, die längst nicht mehr all ihre Hoffnung in das Erforschen und Vermitteln von Klimawissenschaft legen. Sie sind frustriert, sauer, und verärgert, dass die Fakten, die sie über die Klima- und Biodiversitätskrise tagtäglich an die Öffentlichkeit bringen, nicht die politischen Konsequenzen herbeiführen, die es bedarf, um die schlimmsten Folgen noch aufzuhalten und die am stärksten bedrohten Gesellschaften und Ökosysteme zu schützen. Grund dafür sind politische Pfadabhängigkeiten, wirtschaftliche Machtinteressen, Rechtssysteme und groß aufgezogene Lobbyorganisationen.
Eines der dringlichsten institutionellen Blockaden zu effektiver Klimapolitik ist der so genannte Energiecharta-Vertrag (ECT), der Ende der 1990er in Kraft trat und die EU-Staaten sowie 53 weitere Länder den finanziellen Interessen der Fossilen Lobby unterwirft. Als der Vertrag 1991 entworfen wurde, lag das politische Interesse der Signaturstaaten darin, die ost- und westeuropäischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion in einen gemeinsamen Energiemarkt einzubinden, um somit für Annäherung und Stabilität zu sorgen. Energiepolitisch erhofften sich die Staaten Westeuropas, deren Märkte abhängig von Energieimporten sind, somit ein kontinuierliches Angebot an fossiler Energie zu sichern. Aus wirtschaftspolitischer Sicht sollte der Vertrag den energieexportierenden Staaten Osteuropas fortlaufende Profite durch einen rechtlichen Investitionsschutz sichern.
Hierfür hat der Energiecharta-Vertrag ein eigenes Schiedsgericht eingeführt, wie es etwa aus dem Sport bekannt ist. Durch sogenannte „Investor-Staat-Streitbeilegung“ (ISDS) können Investoren Staaten in privaten Schiedsverfahren auf milliardenhohen Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetzeslage auf eine Art und Weise verändern, die den Profit der Energieunternehmen verringern würde. Beispielsweise, für den Klimaschutz, den Schutz lokaler Ökosysteme oder gegen die Zwangsräumung von Dörfern, die dem Kohlebagger weichen müssen. Egal wie notwendig die Gesetzesänderung aus sozial-ökologischer Sicht auch sei, Investoren können Staaten verklagen. Und das tun sie auch. So wurde Russland 2012 beispielsweise durch den Ölkonzern Yukos auf einen Schadensersatz in Höhe von 50 Milliarden Dollar verklagt. Laut Investigative Europe ist dies etwa die gleiche Summe, die der russische Staat für die Gesundheitsversorgung von 95 Millionen Bürger:innen pro Jahr bereitstellt.
Meistens reicht die Drohung mit einer Klage unter dem Energiecharta-Vertrag
Als sei diese perfide Rechtslage nicht schon genug, hat der ECT durch eine sogenannte Zombie-Klausel für sein Fortbestehen vorgesorgt. Auch wenn Staaten aus dem Vertrag aussteigen, können Energieunternehmen sie um 20 weitere Jahre verklagen. Dies war zum Beispiel in Italien der Fall, wo der britische Öl- und Gaskonzern Rockhopper das Land nach seinem Austritt aus dem Vertrag 2015 auf einen Schadensersatz verklagte, weil dieses Offshore-Bohrungen entlang seiner Küste verbieten wollte. Die Liste der bereits vollzogenen Streitbeilegungen ist lang. Viel gravierender ist jedoch der sogenannte „Chilling Effekt“ den die Fossilen Unternehmen allein durch die Androhung einer Klage unter dem ECT auf Länder auswirken. So legte Frankreich 2017 etwa ein ambitiöses Klimaschutzgesetz auf Eis, nachdem der Kanadische Ölkonzern Vermillion die Regierung mit einem Verweis auf den ECT unter Druck setze. Yamina Saheb, Wistleblowerin des ECT und IPCC Hauptautorin, spricht deshalb von einem „Ökozid Vertrag“.
Nun
soll der ECT modernisiert werden, um Staaten mehr Freiraum für
Klimaschutzpolitik und den Ausstieg aus Fossilen Energieträgern zu
gewähren. Letzte Woche fanden hierzu weitere Verhandlungen in Brüssel
statt. Diese Art von Modernisierung wird sozialgerechten Klimaschutz
jedoch nicht voranbringen.
Denn für eine gerechte Transformation ist nicht nur entscheidend, den
gesamtgesellschaftlichen CO2-Ausstoß zu verringern. Auch die
demokratische Teilhabe über die Verteilung eines Energiebudgets und
staatlicher Haushalte muss Bürger:innen gewährt werden, wenn
Klimaschutzpolitik verträglich und mehrheitsfähig gestaltet werden soll.
Anstelle einer Machtverschiebung sieht der Modernisierungsplan jedoch
vor, Fossilen Unternehmen weiterhin die Möglichkeit zu geben,
Klimaschutzpolitik mitzubestimmen, obgleich diese auf nationaler Ebene
häufig schon Entschädigungen für Klimaschutzgesetze bekommen und sowieso
längst der Vergangenheit angehören sollten.
Warum modernisieren wir etwas, um denjenigen weiterhin Macht zu ermöglichen, die sie nicht mehr haben sollten? Weil sich Europäische Wirtschaftliche Expansionspolitik in ein Patt manövriert hat: Energiesicherheit hieß, und heißt immer noch, so viel Energie wie möglich zu produzieren, um energieintensive industrielle Prozesse anzufeuern und so beispielsweise die deutsche Exportwirtschaft zu stützen. Tatsache ist auch: Die EU will gar nicht gegen die Fossile Energie vorgehen. Das ist spätestens seit dem Versuch der Von-der-Leyen Administration klar, die fossiles Erdgas zur grünen Energie erklärt hat. Bürger:innen sollten das aber anders sehen: sei es, um für den Klimaschutz einzutreten, demokratische Prozesse vor der Macht von Lobbykonzernen zu schützen, oder für eine sozial-gerechte Verteilung von Energie und Finanzen einzutreten. Statt einer Modernisierung ist der sofortige Austritt aller EU-Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag somit die einzige Lösung, die den Werten des Klimaschutzes, der Demokratie, und der sozialen Gerechtigkeit gerecht wird. Spanien und die Niederlande haben sich nun als erstes offen dafür ausgesprochen, diesen Schritt zu gehen. Die deutsche Regierung sprach sich bislang zwar nicht deutlich für den Ausstieg aus dem ECT aus. Sie stellte jedoch am Donnerstag eine neue Handelsagenda vor, die auch fünf Punkte zum ECT enthält – und vier von diesen wären laut PowerShift e.V. auch mit einer durch die EU modernisierten Fassung des Vertrags nicht kompatibel. Das deutet darauf hin, dass auch die Ampel einen Ausstieg erwägen dürfte.
EU erhält „Ausnahmeregelung“
Investitionen in neue Projekte für fossile Brennstoffe werden in der EU und auf britischem Gebiet keinen rechtlichen Schutz mehr genießen. Dies wurde am Freitag (24. Juni) vereinbart, um den Energiecharta-Vertrag von 1994 zu reformieren.
Umweltverbände hatten kritisiert, dass der Energiecharta-Vertrag gegen die Ziele des Pariser Abkommens verstößt, weil er klimaschädlichen Investitionen in fossile Brennstoffe rechtlichen Schutz gewährt.
Das hatte auch die Europäischen Kommission anerkannt, die den ECT als „veraltet“ bezeichnete und vor vier Jahren begann, im Namen der 27 EU-Mitgliedstaaten über eine Reform des Vertrages zu verhandeln.
2019 bekräftigten die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Reformgespräche das „Recht der EU auf Regulierung“ und forderten, dass die Neufassung des Vertrags die EU-Ziele in den Bereichen Klima und saubere Energie widerspiegeln sollte.
Diese Ziele wurden mit der am Freitag verkündeten Einigung teilweise erfüllt.
„Die Ausnahmeregelung hat zur Folge, dass es innerhalb der EU keinen
Investitionsschutz für fossile Brennstoffe auf der Grundlage der
Energiecharta geben sollte“, sagte ein Beamter am Donnerstag vor der
Presse.
Der Rechtsschutz für neue Investitionen in fossile Brennstoffe wird
„nach dem 15. August 2023“ mit „begrenzten Ausnahmen“ auslaufen, heißt
es in einer Zusammenfassung des Abkommens, die von einem hochrangigen ECT-Beamten in den sozialen Medien veröffentlicht wurde.
Für bestehende Investitionen wird der Rechtsschutz „nach 10 Jahren ab
Inkrafttreten der entsprechenden Bestimmungen“ auslaufen, heißt es in
dem Dokument.
Diese Bestimmungen wurden auch vom Vereinigten Königreich unterstützt, das sich der EU-Initiative angeschlossen hat.
Es wird nun erwartet, dass die 54 Unterzeichner des ECT, zu denen
alle 27 EU-Länder außer Italien gehören, den überarbeiteten Vertrag auf
einer für November geplanten Konferenz der Vertragsparteien formell
annehmen werden.
Damit der modernisierte Vertrag angenommen werden kann, müssen sie
ihn einstimmig annehmen. Sobald mindestens drei Viertel der
Unterzeichnerstaaten den Vertrag ratifiziert haben, kann der Vertrag in
Kraft treten – ein Prozess, der mehrere Jahre dauern kann.
10 Jahre Übergangsfrist für bestehende Investitionen
Umweltschützer:innen verurteilten die 10-jährige Übergangsfrist für
bestehende Investitionen als „Verrat“ an zukünftigen Generationen, die
am meisten unter den Auswirkungen des Klimawandels zu leiden haben
werden.
„Mit anderen Worten: Das ist das Ende des EU-Ziels der
Klimaneutralität“, sagte Yamina Saheb, eine ehemalige ECT-Mitarbeiterin,
die sich jetzt dafür einsetzt, dass Europa aus dem Vertrag austritt.
Andere äußerten sich positiver und sagten, dass die Einstimmigkeitsprinzip des ECT die Ambitionen der EU einschränkt
„Es ist ein sehr guter Deal für die EU, wenn man bedenkt, dass die
Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein
schweres Verfahren darstellt“, sagte Andrei Belyi, außerordentlicher
Professor für Energierecht und -politik an der Universität Ostfinnland.
„Wenn der Green Deal der EU und die Energiewendeagenda des
Vereinigten Königreichs gelingen, dann wird der Schutz fossiler
Brennstoffe bis 2030 überholt sein“, erklärte er gegenüber EURACTIV in
einer E-Mail. „Die Industrie weiß das und hat 10 Jahre Zeit, sich darauf
einzustellen.“
Bis dahin trage ein funktionierender Vertrag dazu bei, Investitionen
in erneuerbare Energien zu schützen, die bereits mehr als 60 Prozent der
innergemeinschaftlichen Fälle ausmachen.
Neue erneuerbare Energiequellen wurden ebenfalls in die Investitionsliste des Abkommens aufgenommen, so Belyi: Biomasse, Biogas sowie Wasserstoff und seine Derivate wie Ammoniak und andere synthetische Kraftstoffe stehen nun ebenfalls auf der Liste geschützter Investitionen.
Aktivist:innen waren jedoch nicht begeistert. „Das Abkommen ist eine
Katastrophe, da es die EU für mindestens ein weiteres Jahrzehnt und bis
2040 für neue Gasinfrastrukturen an den Investitionsschutz für fossile
Brennstoffe bindet“, sagte Paul de Clerck von Friends of the Earth.
In Anlehnung an frühere EU-Vorschläge soll der Schutz für
kohlenstoffarmen Wasserstoff sowie für Pipelines und Gaskraftwerke, die
weniger als eine bestimmte Menge CO2 ausstoßen, bis 2040 weiter gelten.
„Der Schutz für Wasserstoff und Biomasse wird sogar noch ausgeweitet, wodurch sich die Risiken von Rechtsstreitigkeiten erhöhen“, so de Clerck, der darauf hinweist, dass der Kompromiss weit hinter dem ursprünglichen EU-Mandat zurückbleibt.
„Noch schlimmer ist jedoch, dass das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente nicht einmal die Möglichkeit haben werden, über ein so wichtiges Abkommen abzustimmen. Der gesamte Prozess ist zutiefst undemokratisch und inakzeptabel, und wir fordern die Mitgliedsstaaten auf, aus dem ECT auszutreten“, sagte er.
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