INTERVIEW in NZZ
Naomi Oreskes, Geologin und Wissenschaftshistorikerin.
Über den Klimawandel wird seit mehr als einem halben Jahrhundert gesprochen. Die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes hat die lange Geschichte der Debatte intensiv studiert. Im Interview erklärt sie, warum wir so viel Zeit verloren haben und was wir von technologischen Innovationen erwarten können.
Frau Oreskes, Sie sind Historikerin. Der Klimawandel ist ein Problem der Gegenwart und der Zukunft. Was bringt es, die Geschichte dieses Problems und der zugehörigen Debatten zu studieren?
Es ist essenziell, zu verstehen, wie wir in die missliche Lage geraten sind, in der wir uns heute befinden. Für mich ist Geschichte in diesem Fall eine Art Diagnose: Um das Problem zu beheben, müssen wir analysieren, wie es entstanden ist. Wir müssen untersuchen, warum wir als Gesellschaft so schwach reagiert haben auf die Informationen, die uns die Wissenschafter seit langem gaben.....
Interessanterweise gab es auch ausserhalb der Wissenschaftswelt schon sehr früh einen Konsens: In den 1980er Jahren waren Politiker über die Parteigrenzen hinweg überzeugt von der Ernsthaftigkeit des Problems, Margaret Thatcher liess an seiner Existenz genauso wenig Zweifel wie George Bush.
Später wurde der Klimawandel zu einer weltanschaulichen Glaubensfrage, er erschien als linkes Thema. Wie ist diese Ideologisierung vonstattengegangen?
Dass die Existenz des Problems plötzlich als umstritten erschien, ist das Resultat von enormer Lobbyarbeit, welche die Ölindustrie seit dem Ende der 1980er Jahre betrieb. Zwar wussten die politischen Führer wirklich schon seit den späten 1970er Jahren Bescheid. Aber das Ganze wurde damals noch als etwas Theoretisches angesehen, als Prognose, die die Zukunft betrifft. Entsprechend gab es auch keinen organisierten Widerstand vonseiten der Industrie.
Das änderte sich 1988. In diesem Jahr trat der Klimaforscher James Hansen im amerikanischen Kongress auf und sagte sinngemäss: Der Klimawandel findet jetzt schon statt. In der Wissenschaft war das noch umstritten, aber die Medien griffen das Thema gross auf, die Leute begannen über Lösungen für das Problem nachzudenken. Innerhalb von wenigen Monaten, formierte sich dann die Opposition der Ölindustrie. Mit massiven Desinformationskampagnen hat sie den Kampf um ihr Überleben eingeläutet.
Ich habe immer noch Mühe zu sehen, wie man die Sorge ums Klima als linkes Projekt labeln konnte: Sozialisten und Kommunisten, die es damals noch gab, waren keine Umweltschützer. Im Gegenteil schädigten sie die Natur oft stärker als die kapitalistischen Länder.
Im Kern ging es um die Rolle, welche die Regierung bei der Lösung des Problems spielen sollte. Ökonomisch gesehen, handelt es sich beim Klimaproblem um ein Marktversagen: Fossile Brennstoffe werden verkauft, gekauft und benutzt. Es entstehen enorme Schäden und also enorme Kosten – für die keiner der Marktteilnehmer aufkommt. Die Lösung für ein derartiges Marktversagen wäre typischerweise eine Steuer auf das Produkt, das die Kosten verursacht. Und mit einer Steuer würde natürlich die Regierung involviert. Das wurde zum Thema, und so war es ein Leichtes, die Leute, die sich für Klimafragen engagierten, als Sozialisten zu diffamieren, als linke Verschwörer, die den Staat kapern und eine Planwirtschaft einführen wollen.
Hatten die frühen Klimaforscher denn eine politische Ausrichtung?
Sie verfolgten sicher keine linke Agenda. James Hansen zum Beispiel, den ich vorher erwähnte, ist ein konservativer Mann. Vielleicht gibt es ein paar Umweltaktivisten, die tatsächlich eine Planwirtschaft einführen möchten – das kann ich nicht ausschliessen, aber ich kenne persönlich niemanden, der dieses Ziel anstrebt.
Klar ist, dass durch die Debatten viel Zeit verlorenging. 2014 haben Sie ein Buch geschrieben, in dem eine fiktive Historikerin aus dem Jahr 2393 auf unsere Zeit zurückblickt und ein sehr düsteres Szenario schildert: Die aufgeklärten Menschen verschliessen die Augen vor den Fakten und leugnen die Probleme; die westliche Zivilisation geht dem Kollaps entgegen. Seither sind acht Jahre vergangen – sehen Sie die Dinge inzwischen etwas heller?
Stellen Sie diese Frage als Witz?
Eigentlich nicht. Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein für die Klimaproblematik stark gewachsen ist, seit die Jugend verbreitet auf die Strasse ging. Wie beurteilen Sie die Bedeutung der Schülerproteste in der jahrzehntelangen Geschichte der Klimafrage?
Ich will die Jugendbewegung keinesfalls geringschätzen. Die jungen Leute haben jedes Recht, wütend zu sein, und es ist richtig, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Thema lenkten.
Ganz grundsätzlich halte ich Sozialbewegungen für wichtig. Denn ich glaube, dass die meisten Politiker nicht wirklich führen, sondern eher auf Druck reagieren. Und in der Klimafrage Druck auf die Politik auszuüben, ist entscheidend. Nur hat die ganze Bewegung bisher mitnichten den Effekt gehabt, den wir brauchten. Das ist nicht ihr Fehler. Es ist einfach die Realität.
Des Weitern würde ich als positiv verbuchen, dass heute kaum noch jemand den Klimawandel leugnet – oder sehen Sie noch viel grundlegenden Zweifel?
Das stimmt zwar, aber es gibt neue Formen der Leugnung. Auf Englisch gibt es die Wendung: Delay ist the new denial. Inzwischen sagt zwar fast jeder, dass der Klimawandel schlimm sei und bekämpft werden müsse. Aber immer heisst es dann, dass zuerst ein drängenderes Problem zu lösen sei. Die Inflation. Der Ukraine-Krieg. Bei Barack Obama war es die Gesundheitsvorsorge – den Aufschub betreiben manchmal auch die Progressiven.
Die Energieeffizienz vieler Geräte hat sich verbessert, neue Dinge wie Elektroautos sind erfunden worden. Sind solche Entwicklungen nicht ermutigend?
Klar, es gibt viele Verbesserungen. Sie sind im Einzelnen alle toll, aber sie reichen nicht aus. Zum Teil ist das ein Problem der Politik. Elektroautos zum Beispiel sind grossartig! Aber ihrer Durchsetzung stehen enorme Hürden im Weg. In den USA fehlt die Infrastruktur: Es ist so gut wie unmöglich, mit einem Elektroauto von New York nach Kalifornien zu fahren, weil das Netz an Ladestationen ungenügend ist. Folglich schrecken viele Leute vor dem Kauf eines Elektroautos zurück. Hier wäre die Politik gefragt: Sie müsste ein Umfeld schaffen, das die Aufnahme dieser guten Erfindung erleichtert. Das ist etwas, was das Individuum nicht selber leisten kann.
Können die Individuen das Klimaproblem grundsätzlich nicht lösen?
Ich habe Respekt vor den Efforts der einzelnen Menschen, ich selber mache ja auch mein Möglichstes: In meinem Haus habe ich fast vollkommen auf Solarenergie umgestellt. Aber, und das ist ein grosses Aber: Letztlich ist es dem Klimasystem vollkommen gleichgültig, ob ich persönlich einen elektrischen Wagen fahre oder nicht. Die einzige Sache, welche das Klimasystem beeinflusst, ist die Konzentration des Treibhausgases in der Atmosphäre. Und diese ist heute höher als je zuvor.
Viele setzen darauf, dass weitere Innovationen, grosse technologische Würfe, das Problem lösen werden. Sie sind Wissenschaftshistorikerin: Gibt Ihnen die Geschichte diesbezüglich Anlass zur Hoffnung?
Die Vorstellung, dass wir bloss darauf zu warten brauchen, dass der Markt die Technologie produziert, die wir brauchen und die uns dann rettet: Das ist eine Form von magischem Denken. Neue Technologien tauchen nicht einfach irgendwie spontan einmal auf und vermögen dann unsere Probleme zu lösen. Die Geschichte stützt diese Annahme auf keine Weise.
In der Menschheitsgeschichte und vor allem in den letzten Jahrhunderten sind doch aber immer wieder neue Dinge erfunden worden, die man sich zuvor noch nicht einmal vorstellen konnte – Impfstoffe, zum Beispiel.
Ja, es hat sehr viel technologische Innovation gegeben. Allerdings gab es oft auch unsägliches Leiden: Abermillionen von Menschen sind an Infektionskrankheiten gestorben, bevor wir effiziente Impfstoffe entwickelten. Zudem ist keine einzige bedeutende Technologie des 20. Jahrhunderts spontan vom privaten Markt entwickelt worden. Von der Luftfahrt über die Atomkraft bis zum Computer und zum Internet: All diese Dinge sind aus öffentlich-privaten Partnerschaften hervorgegangen, und oft haben die Regierungen dabei die Führungsrolle übernommen. In der Klimafrage allein auf die Kraft des innovativen Markts zu setzen, ist für mich deswegen auch schon eine neue Form der Leugnung.
Welche Rolle kann die Technologie für die Klimafrage in Ihren Augen denn spielen?
Ich bin überzeugt davon, dass Technologie von entscheidender Bedeutung ist. Aber jetzt stellen Sie sich mal vor: Der grosse Durchbruch ist schon da! Die entscheidenden Technologien existieren. Sie heissen Solar- und Windkraft. Der Klimawandel wäre schon lange ein sehr guter Grund gewesen, sich von der fossilen Energie abzuwenden und auf die Erneuerbaren zu setzen. Jetzt gäbe es einen weiteren hervorragenden Grund, das zu tun: Man könnte sich so aus der Abhängigkeit von einem diktatorischen, totalitären Regime lösen. Der Krieg in der Ukraine hätte in meinen Augen der Moment sein müssen, in dem man sich definitiv für die erneuerbaren Energien entscheidet. Stattdessen ist in Deutschland davon die Rede, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder zu öffnen. Das ist einfach unglaublich.
Ist der Wechsel zu den Erneuerbaren nicht auch mit magischem Denken verbunden: Kann man mit ihnen schnell genügend Energie für ganz Europa produzieren?
Das ist absolut machbar, es gibt viele Studien, die zeigen, wie man vorgehen müsste. Manchmal ist es für Politiker schwierig, das Richtige zu tun, das anerkenne ich durchaus. Aber in diesem Fall müsste ihnen die Entscheidung leichtfallen: Solarenergie ist billiger als fossile Brennstoffe und viel günstiger als Atomkraft. Und man kann sie rasch nutzen: Einen grossen Solarpark hat man in rund einem Jahr erstellt, für eine Windkraftanlage braucht man vielleicht drei Jahre – was immer noch sehr wenig ist gegenüber einem Atomkraftwerk. Natürlich gibt es bei den Erneuerbaren keine Standardlösungen, die für jede Region passen. Man muss sich überlegen, was sich wo am besten eignet, das erfordert ein bisschen Flexibilität im Denken. Aber die Technologien sind da. Dass sie nicht eingesetzt werden, ist ein Führungsversagen. Und gerade vertun die Politiker wieder eine grosse Chance: Es bricht mir das Herz, dabei zusehen zu müssen.
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