Sonntag, 19. Juni 2022

Deutschland geht in den Dispo

DER SPIEGEL - Klimabericht <themennewsletter@newsletter.spiegel.de>  hier

Kurt Stukenberg /  Ressortleiter Wissenschaft

Formulierungen, die ein Versprechen suggerieren, dass dehnbar genug ist, um es nie wirklich einfordern zu können, sind bei wahlkämpfenden Politikern beliebt. Auch bei solchen, die gerade frisch ins Amt einsteigen. Auf der Präsentation des Regierungsprogramms der Ampelkoalition im November benutzte Klimaminister Robert Habeck einen Wortlaut, der schon im Programm seiner Partei zur Bundestagswahl mehrmals aufgetaucht war: Mit dem Koalitionsvertrag, befinde sich die neue Regierung »auf dem 1,5-Grad-Pfad«, so der Grüne.

Man konnte schon damals ahnen, dass diese Ausdrucksweise zwar den Anschein erweckt, die Regierungsvorhaben deckten sich mit dem Limit aus dem Pariser Klimavertrag, nachdem sich die Erde um nicht mehr als 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit erwärmen soll – sich mit ihr aber auch eine erkleckliche Zielverfehlung rechtfertigen ließe. Ein gutes halbes Jahr nachdem die Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat, zeichnet sich nun immer deutlicher ab, dass letzteres wohl der Fall sein wird. Mitte der Woche hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung eine neue Berechnung vorgelegt, aus der hervorgeht, dass die aktuelle Klimapolitik Deutschlands wohl eher zu einem 1,75-Grad-Pfad führt. Jedenfalls dann, wenn man eine faire globale Lastenteilung beim Klimaschutz anstrebt.

Deutschland müsste schon 2031 klimaneutral sein

Möglich wird das durch die Berechnung eines sogenannten CO2-Budgets. Dieses gibt einen Richtwert an, wie viele Tonnen Treibhausgase die Weltgemeinschaft noch in die Atmosphäre entlassen darf, ohne dass bestimmte Schwellen in der Temperaturentwicklung gerissen werden, das 1,5-Grad-Limit etwa. Diese vom Weltklimarat IPCC ausgewiesene Gesamtmenge lässt sich dann etwa je nach Einwohnerzahl auch auf einzelne Länder herunterbrechen. Für Deutschland bleiben nach dieser Rechnung laut dem SRU noch 3,1 Gigatonnen CO₂ übrig, um zumindest eine 50-prozentige Chance zu haben, die 1,5-Grad-Schwelle nicht zu reißen. Nimmt man an, dass die Emissionen ab jetzt linear sinken würden, dürfte die Bundesrepublik netto schon 2031 kein CO₂ mehr ausstoßen.

Man kann ganz nüchtern festhalten, dass dieses Ziel nie und nimmer erreicht werden wird. Zum Vergleich: Aktuell plant die Bundesregierung im Jahr 2045 klimaneutral zu sein und auch dieses Vorhaben klappt nur, wenn die Energiewende bei Strom, Wärme und Verkehr wie am Schnürchen läuft. Die Deutschen werden also in den Klimadispo gehen – die weltweiten Ziele werden sich nur halten lassen, wenn andere Länder deutlich weniger Treibhausgase ausstoßen, als ihnen nach der Budgetberechnung eigentlich noch zustehen würden.

Verschleppte Energiewende als Ursache

Aus den Zahlen der Regierunsgberater geht immerhin hervor, dass Deutschland gerade eben so seinen Beitrag zu einer Marke von 1,75 Grad Erwärmung schaffen könnte – womit die Politik immerhin noch das harte Pariser Limit einer Begrenzung der Erderwärmung auf »deutlich unter zwei Grad« halten würde.

»Deutschland muss von allen fossilen Energieträgern unabhängig werden, nicht nur von denen aus Russland«, sagt Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung für Erdsystemanalyse am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und Mitglied im Rat »Das noch verbleibende CO2-Budget schmilzt rapide. Dies ist vor allem eine Folge der zuletzt verschleppten Energiewende in Deutschland.«

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen