Die Zeit hier Von Andrea Reidl
"Viele fahren gern mit dem Auto, und das soll auch so bleiben", hat der neue Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Dezember in seiner ersten Regierungserklärung gesagt. Allerdings vergaß er zu erwähnen, dass viele Menschen durchaus öfter mit dem Rad fahren würden, wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Eine aktuelle Studie der Hochschulprofessorin Jana Heimel zeigt: 51 Prozent der Autofahrerinnen und Autofahrer würden am liebsten mit dem Fahrrad zur Arbeit pendeln – und viele tun es auch, wenn man die richtigen Anreize setzt.
"Das Potenzial des Fahrrads
als ein Standbein der Verkehrswende ist riesig", sagt Heimel,
Professorin an der Hochschule Heilbronn.
Aber für den Wechsel fehlten in Deutschland noch oft die Anreize.
"Jemand muss
offensiv die Rolle des Motivators übernehmen", sagt Heimel. Mit ihrem
Projekt PendlerRatD,
das vom Bundesverkehrsministerium gefördert wurde, hat sie in den
vergangenen drei Jahren 401 Autofahrerinnen und Autofahrer aufs Fahrrad
gebracht. Die Teilnehmenden hatten verschiedene berufliche Hintergründe,
kamen etwa aus der Bank-, Auto- und Bahnbranche, aus
Kliniken, dem Einzelhandel, der Metallbranche und vielen anderen
Arbeitsfeldern
in der Region Stuttgart-Heilbronn. 85 Prozent von ihnen erklärten am
Projektende, dass sie zukünftig weiterhin mit dem Rad zur Arbeit fahren
würden.
Das Ergebnis deckt sich mit früheren Studien. 2014 verschenkte die Region Nordbrabant in den Niederlanden im Rahmen des Projekts B-Riders E-Bikes an Autopendler. Diese hatten sich bereiterklärt, für anderthalb Jahre mit dem E-Bike statt mit dem Privatwagen zur Arbeit zu fahren. Nach Auslaufen des Projekts haben 80 Prozent der Pendlerinnen und Pendler ihr verändertes Mobilitätsverhalten beibehalten und sind weiterhin mit dem E-Bike zur Arbeit geradelt. Ähnliche Erfahrungen machte das Team um Uwe Tegtbur, Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Bei einer Studie haben sie die gesundheitlichen Effekte des E-Bike-Fahrens auf Mitarbeiter untersucht. Dabei zeigte sich, dass nach Studienende drei Viertel der Teilnehmer weiterhin mit dem Rad zur MHH fuhren.
Der entscheidende Schritt ist es, die Menschen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Für die Teilnehmerinnen von PendlerRatD war der Wechsel aufs Rad leicht. Sie bekamen die gesamte Ausrüstung gestellt: die E-Bikes, die Schlösser, die Fahrradtaschen und sogar die Regencapes. Da viele Autofahrer die attraktiven Schleichwege zu ihrem Arbeitsplatz nicht kannten, erstellte Heimels Team für alle Teilnehmer die optimale Route, die sie über die projekteigene App herunterladen konnten. Damit sie auf ihrer ersten Fahrt mit dem neuen E-Bike keine Überraschungen erlebten, wurden die Umsteigerinnen von Fahrradpaten begleitet.
Zwischen einem und sieben Monaten waren die 15 Projektgruppen mit den Leihrädern unterwegs. In dieser Zeit konnten sie Boni erradeln, die die Arbeitgeber oder Sponsoren zur Verfügung gestellt hatten. Die Landesbank Baden-Württemberg etwa spendierte ihren Angestellten für 15 Pendelfahrten einen Salat in der Kantine und die Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen schenkte ihren Umsteigerinnen 500 Euro für 100 Pendelfahrten im Jahr.
"Für Unternehmen ist es attraktiv, wenn ihre Mitarbeiter vom Auto aufs Fahrrad wechseln", sagt Heimel. Wer regelmäßig mit dem Rad statt mit dem Privatwagen zur Arbeit fahre, brauche keinen Parkplatz. Das spare den Unternehmen langfristig Geld. Außerdem seien Radfahrer im Schnitt zwei Tage seltener krank, wie verschiedene Studien belegen. "Das macht etwa 1.000 Euro im Jahr pro Person aus", sagt sie. Für Arbeitgeber lohnt es sich deshalb, wenn die Belegschaft radelt.
Die Fahrradinfrastruktur kann im Testgebiet allerdings noch deutlich besser werden. Beim ADFC-Fahrradklimatest 2020 hat Stuttgart mit der Schulnote 4,2 und Heilbronn mit der Note 3,9 schlecht abgeschnitten. Trotzdem legten die Teilnehmerinnen dort täglich im Schnitt rund 34 Kilometer mit den E-Bikes zurück. Das Ergebnis zeigt das große Potenzial von E-Bikes als Autoersatz. Laut der Studie Mobilität in Deutschland (MID) von 2017 ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. 57 Prozent aller Wege werden damit zurückgelegt. Dabei liegt die durchschnittliche Wegelänge gerade mal bei zwölf Kilometern. Damals wurden nur vier Prozent der Wege zwischen fünf und 20 Kilometern Länge mit dem Fahrrad zurückgelegt. In den Niederlanden waren es mit 16 Prozent deutlich mehr.
Mit den richtigen Anreizen ließe sich diese Zahl deutlich steigern, sagt Professorin Heimel. Um die Hemmschwelle zu senken, müsse die Politik die Radwege allerdings zügig ausbauen und die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zum Radfahren motivieren. Die Angestellten seien bereit für den Umstieg. Das Wetter, das bei allen Projektteilnehmern laut Heimel anfangs ein großes Thema war, wurde im Verlauf des Projekts immer mehr zur Nebensache. "Je länger die Autofahrer mit dem Rad zur Arbeit pendelten, umso wetterresistenter wurden sie", sagt sie. Jetzt will die Hochschulprofessorin ihr Projekt deutschlandweit ausrollen.
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