hier Spektrum der Wissenschaft von Thomas Krumenacker
Wälder brauchen Zugvögel und Säugetiere, um sich an das sich ändernde Klima anzupassen. Scheitert der Artenschutz, scheitert der Kampf gegen den Klimawandel.
Der Klimawandel treibt das Leben auf unserem Planeten aus seinen angestammten Orten. Immer mehr Organismen fliehen im Wettlauf mit der Erderwärmung nach Norden, um in der wärmeren Welt einen neuen Platz zum Überleben zu finden.
So hat sich der Verbreitungsschwerpunkt der europäischen Vogelarten in den vergangenen 30 Jahren im Mittel um 28 Kilometer nordwärts verschoben, also um etwa einen Kilometer pro Jahr. Auch viele Pflanzen suchen ihr Heil in der Flucht in kühlere Regionen. Um weiterhin mit den wärmeren Temperaturen kompatible Lebensbedingungen vorzufinden, müssen manche ihre Verbreitungsgebiete pro Jahr im Schnitt nur um wenige Meter, andere um eine zweistellige Kilometerzahl nach Norden verlagern.
Doch anders als Vögel oder Säugetiere können Pflanzen nicht ohne fremde Hilfe umsiedeln. Sie sind auf Mitfluggelegenheiten durch Zugvögel oder auf »Mitfahrgelegenheiten« durch Säugetiere angewiesen. Diese lassen sich ihren Service in Form von Samen und Beeren bezahlen: Die Tiere fressen die Früchte der Pflanzen und scheiden die Samen andernorts wieder aus. Diese Win-win-Situation wird als Ökosystemleistung bezeichnet. Wie wichtig dieser Service auch für Menschen ist, hat der Weltbiodiversitätsrat IPBES geschätzt. Er beziffert den zusammengefassten Wert durch Bestäubung und Ausbreitung von Samen allein für die menschliche Lebensmittelproduktion auf jährlich mehr als 500 Milliarden Dollar.
Aber auch im Kampf gegen den Klimawandel ist die Bedeutung der Samenverbreitung einer neuen Untersuchung zufolge kaum zu überschätzen. »Die Samentransporte durch Tiere sind entscheidend für die Widerstandsfähigkeit von Wäldern«, sagt Evan C. Fricke, einer der Autoren der Studie. Und Wälder wiederum spielten eine Schlüsselrolle im Klimaschutz, weil sie enorme Mengen von Kohlenstoffen speichern können. Laut dem Biologen von der Rice University in Houston ist etwa die Hälfte aller Pflanzenarten auf die Verbreitung durch Tiere angewiesen, darunter die große Mehrheit der Bäume tropischer Wälder. »Deshalb beeinflussen die Samenverbreiter auch die Kohlenstoffspeicherung der weltweiten Vegetation.«
Ausrottung von Wisent, Elefant und Auerochse verringert Klimaresistenz von Pflanzen
...Besonders stark ins Gewicht fällt demnach, dass vielerorts große Tierarten fehlen – weil sie weitgehend oder sogar vollständig ausgerottet wurden. »Die größten Vögel und Säugetiere sind besonders wichtig, weil sie viele Samen über die großen Entfernungen verbreiten können, die notwendig sind, um mit dem Klimawandel Schritt zu halten«, sagt Fricke.
Der dänische Biodiversitätsforscher und Koautor der Untersuchung Jens-Christian Svenning nennt den Verlust der Megafauna, also großer, meist Pflanzen fressender Tierarten wie Wisente, Wildpferde und den im 17. Jahrhundert ausgerotteten Auerochsen als besonders gravierend für Europa. Auch das Aussterben der europäischen Elefanten vor etwa 4000 Jahren hinterlasse bis heute Spuren....
Neben dem vollständigen Verlust ganzer Arten schwächt auch der zahlenmäßige Schwund vieler Vogelarten die Widerstandskraft von Wäldern und anderer Ökosysteme gegen den Klimawandel. So stellten Ornithologen kürzlich fest, dass vor allem durch die intensive Landwirtschaft innerhalb der letzten vier Jahrzehnte europaweit 600 Millionen Vögel verloren gingen. In Deutschland schätzen Experten des Dachverbands Deutscher Avifaunisten, dass im selben Zeitraum 16 Millionen Vögel verschwunden sind – das entspricht rechnerisch einem Verlust von 40 000 Vögeln pro Tag. »Die Anzahl der Tiere spielt natürlich eine große Rolle für die Leistungsfähigkeit des ganzen Systems«, sagt Svenning. »Der massive Rückgang der Bestandszahlen vieler Vogelarten hat eindeutig deren Rolle als Verbreiter von Samen stark beeinträchtigt.«.....
Neue Bundesregierung erkennt den Wert von Ökosystemen für Klimaschutz
Die neue Bundesregierung hat die Bedeutung der Biodiversität auch für den Klimaschutz offenbar erkannt. Umweltministerin Steffi Lemke sagte in ihrer ersten Rede als Ministerin vor dem Bundestag, die Krise des Artensterbens müsse und werde stärker ins Zentrum der Politik rücken. »Fruchtbare Äcker gibt es nicht ohne biologische Vielfalt. Pflanzen brauchen Bestäuber, Hochwasserschutz braucht Auen, Klimaschutz braucht Moore und alte Wälder – hier und weltweit«, sagte die Grünen-Politikerin, und kündigte an, »nach Jahrzehnten der Naturzerstörung« nun »ein Zeitalter der Renaturierung« einzuläuten.....
»Die Wiederetablierung von Arten würde helfen, auch wenn das meistens nur in Teilgebieten möglich ist«, sagt Svenning. Die in zahlreichen europäischen Ländern laufenden Projekte zur Wiedereinbürgerung von Wisenten seien besonders wichtig, sagt der Forscher. Auch sein texanischer Kollege Evan Fricke wirbt für die so genannten Rewilding-Prozesse: »Die Wiederansiedlung von Arten, die im großen Maßstab Samen verbreiten in ihren historischen Verbreitungsgebieten würde einen großen Beitrag zur Umkehrung der von uns festgestellten Verluste leisten.«
Das Thema der Renaturierung von Ökosystemen auch als Mittel des Klimaschutzes hat derzeit unter dem Stichwort nature-based solutions Konjunktur. Gerade verhandeln mehr als 190 Staaten darüber, den Schutz von 30 Prozent der Land- und Meeresfläche der Erde beim bevorstehenden Weltbiodiversitätsgipfel als Ziel zu beschließen. Die europäischen Staaten sind dafür.
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