Donnerstag, 8. September 2022

Weltretten für Fortgeschrittene: Fünf Kehrtwenden für eine lebenswerte Zukunft

Standard  hier 6. September 2022

Club of Rom

50 Jahre nach dem Bestseller "Die Grenzen des Wachstums" schreiben Fachleute in "Earth for all" darüber, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern müssten

Um Herausforderungen wie die Klimakrise zu bewältigen, ist ein Systemwandel nötig, wie die Expertinnen und Experten deutlich machen.

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Es ist noch nicht zu spät – eine optimistische Nachricht, die die Menschheit angesichts der Konflikte, Umweltkatastrophen, Missstände und der Klimakrise immer wieder hören muss. Dieser Auffassung sind die Autorinnen und Autoren von "Earth for All", dem am Dienstag erschienenen Nachfolgebericht des wachrüttelnden Bestsellers "Die Grenzen des Wachstums", der vor 50 Jahren veröffentlicht wurde. Mit dem Ziel einer "Erde für alle" schreiben sie an gegen die Überlastung der Welt, die bei den derzeitigen Wirtschaftspraktiken bevorsteht.

Denn schon in den 1970er-Jahren waren die Aussichten unter der Maxime des anhaltenden Wachstums düster, wie damals der Report im Auftrag des Thinktanks Club of Rome deutlich machte. Die dramatische Zukunftsaussicht gilt bis heute als Standardwerk und schien zu interessieren, 30 Millionen Exemplare wurden verkauft. Kurz und knapp verkündete es: Wenn Unternehmen und Regierungen ohne Rücksicht auf die Kosten weiterhin ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum anstreben, ist der Niedergang oder Zusammenbruch der industriellen Zivilisation früher oder später unausweichlich.

Der große Sprung

Im Detail stellten die Fachleute damals mithilfe eines Computermodells zwölf Zukunftsszenarien vor, die zeigen, wie Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum den Planeten an seine Grenzen bringen. Vor allem aber geht es um eine für alle Menschen lebenswerte Zukunft, die durch "business as usual" verunmöglicht wird.

Das zeigt auch der aktuelle Bericht auf, der sich auf nur zwei Szenarien konzentriert. Das eine nennt sich "Too Little too Late" – wenn zu wenig und zu spät reagiert wird, das heißt, wenn das dominierende Wirtschaftssystem der vergangenen 50 Jahre größtenteils beibehalten wird. Die Gegendarstellung zeigt sich beim Szenario "Giant Leap", dem Riesensprung. Er macht klar, wie deutliche und baldige Veränderungen widerstandsfähige Gesellschaften schaffen können, die nachhaltig mit den Ressourcen der Natur und der Mitmenschen umgehen.

Hinter dem neuen Bericht steckt eine zweijährige Forschungszusammenarbeit des Kollektivs "Earth 4 All", zu dem Fachleute aus der Ökonomie und anderen Wissenschaften gehören. Neben dem Club of Rome sind unter anderen das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und die Norwegian Business School beteiligt, deren Experten zu den Hauptautoren zählen: PIK-Direktor und Erdsystemwissenschafter Johan Rockström und Klimastratege Jørgen Randers gehören ebenso zu den federführenden Beteiligten wie die Entwicklungsökonomin Jayati Ghosh von der University of Massachusetts und Club-of-Rome-Co-Präsidentin Sandrine Dixson-Declève.

Fünf Kehrtwenden

Für die erhoffte Entwicklung seien fünf große Kehrtwenden nötig: Armut muss beendet werden, eklatante Ungleichheiten beseitigt, außerdem gilt es, Frauen zu ermächtigen (Stichwort Empowerment), ein für Menschen und Ökosysteme gesundes Nahrungsmittelsystem aufzubauen und saubere Energie zu verwenden. Freilich bleibt es nicht bei vagen und hochgestochenen Zielen, vielmehr werden die derzeitigen Probleme und Zusammenhänge nachvollziehbar erläutert und mit konkreten Lösungen kombiniert.

Das zeigt sich beim Appell für globale Gerechtigkeit: "Wir wissen, dass die reichste Milliarde Menschen 72 Prozent der globalen Ressourcen verbraucht, während es bei den ärmsten 1,2 Milliarden nur ein Prozent ist", heißt es in "Earth for All". Während die reichsten Gesellschaften profitieren, müssen sie nur einen Bruchteil der Konsequenzen tragen, die bei der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe entstehen.



Gefährliche Zukunft

Diese extreme Ungleichheit führe sozial, ökonomisch und ökologisch zu verheerenden Spannungen: "Es begünstigt Verhältnisse, die für alle gefährlich sind." Durch untergrabenes Vertrauen werden Demokratien geschädigt und können keine langfristigen Entscheidungen treffen, von denen alle profitieren. Aus diesen Überlegungen wird in Sachen Einkommen ein Mindestziel abgeleitet: Vier arme Personen sollen gemeinsam zumindest das gleiche Jahreseinkommen haben wie jemand, der zu den reichsten zehn Prozent gehört.

Im Buch werden vier fiktive Schicksale nachgezeichnet, um weitere Probleme deutlich zu machen. Die Lebensläufe von vier Mädchen, die 2020 in China, den USA, Nigeria und Bangladesch zur Welt kamen, zeigen, wie wichtig Bildung ist, von der in vielen Ländern hauptsächlich Burschen profitieren. Insbesondere kritisches Denken und Medienkompetenz sind angesichts von Fake News und den künftigen Voraussetzungen wichtiger denn je, schreiben die Autorinnen und Autoren. Durch soziale Medien sei eine Industrie der Desinformation entstanden, "was der Polarisierung von Gesellschaften und einem Vertrauensverlust Vorschub leistet und dazu beiträgt, dass wir angesichts der kollektiven Herausforderungen unfähig sind, zusammenzuarbeiten oder uns auch nur über Grundtatsachen zu verständigen".

Planet der Hühner

Weitere Kapitel über Veränderungen in den Bereichen Ernährung und Energie verdeutlichen, dass das Ziel ohne einen umgestellten und geringeren Konsum nicht erreichbar ist. Mit Zahlen untermauert das Team den eklatanten Einfluss des Wirtschaftssystems und der Standards auf die Tierwelt: Menschen stellen 36 Prozent der Masse aller Säugetiere auf der Erde – und bei 60 Prozent der Masse handelt es sich um Tiere, die etwa zur Ernährung gehalten werden. Es bleiben vier Prozent wildlebende Säugetiere übrig. Dass 70 Prozent der Vögel Zuchtgeflügel sind, nehmen die Autorinnen und Autoren zum Anlass, die Welt als "Planeten der Hühner" zu bezeichnen.

Wer sich bereits regelmäßig mit den drängenden Problemen um Klimakrise und Co auseinandersetzt, dürfte bei der Lektüre kaum bahnbrechend Neues erfahren. Die Kernaussagen decken sich auch etwa mit der Forderung zeitgenössischer Initiativen wie "System Change, not Climate Change" – die, wie der Name schon sagt, einen Systemwandel statt Klimawandel fordern. Und dennoch ist das Buch eine hilfreiche Erinnerung, ein für viele noch immer notwendiger Weckruf.

Die Ziele sind groß, aber noch nicht außerhalb unseres Gestaltungsrahmens: Die Welt lässt sich für die Menschheit also noch retten. Schneller Wandel sei schwierig, die Corona-Pandemie habe aber gezeigt, wie rasch sich etwa für viele Arbeit im Homeoffice umsetzen ließ, die Emissionen reduziert. Mit Optimismus und Eindringlichkeit fassen die Fachleute die schwierigen Umwälzungen zusammen, die noch im ersten Jahrzehnt des Wandels angegangen werden müssen: "Jetzt. Wenn Sie dieses Buch zuschlagen." (sic, red, 6.9.2022)

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