ARD Analyse hier Stand: 07.09.2022 Von Marie Blöcher, Nils Naber und Isabel Schneider, NDR
Langfristig
immer mehr Fahrgäste, immer mehr Baustellen und immer mehr
Verspätungen:
Das System Deutsche Bahn steht vor dem Kollaps. Der enorme
Investitionsstau ist dabei nicht das einzige Problem.
Lokomotivführer Enrico Grudnick ist mit seinem Güterzug auf dem Weg von Hamburg nach Dresden. Immer wieder stehen Signale auf Rot und er muss warten, immer wieder muss der schwere Güterzug auf ein Abstellgleis, um schnellere Züge vorbeizulassen. "Das Verkehrsaufkommen ist so viel größer geworden. Bloß an der Infrastruktur ist nichts passiert", sagt Grudnick.
Ein paar Tage später am Hamburger Hauptbahnhof: die Bahnsteige voller wartender Menschen, die Anzeigetafeln voller Verspätungsmeldungen. Ein anderes Bild, aber der gleiche Grund: Das Schienennetz ist vielerorts überlastet. Im Juli lag die Pünktlichkeit von Fernzügen deutschlandweit bei nicht einmal 60 Prozent.
Ehrgeizige Ziele, aber zu wenig Geld
Dabei sind die Ziele der Ampel-Regierung im Hinblick auf die Bahn ehrgeizig: Sie will den Anteil der Schiene am Güterverkehr bis 2030 von rund 18 Prozent (im Jahr 2020) auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln. So steht es im Koalitionsvertrag.
Ziele, die laut Experten schon jetzt nicht mehr erreichbar sind. Auch das 9-Euro-Ticket hat gezeigt: Die Eisenbahnen sind vielerorts mit dem höheren Verkehrsaufkommen deutlich überlastet.
Ein Grund: Jahrelang ist zu wenig Geld ins Netz geflossen. Der Investitionsstau bei der Infrastruktur der Bahn ist riesig. Rund 60 Milliarden Euro müssten laut DB ausgegeben werden, um alle Probleme im Netz zu beheben, die sich über die vergangenen Jahre angesammelt haben. Der Zustand von Strecken und Gleisen wurde über viele Jahre vernachlässigt, sagt Bahnexperte Christian Böttger: "Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, wo man mehr Geld reinstecken muss. Und die Bauarbeiten bedeuten dann eben auch zugleich immer stärkere Sperrungen und damit eben weitere Verzögerungen."
Widerstand der Bevölkerung verhindert Gleisausbau
Ein zweiter wesentlicher Grund für Verspätungen sind zu wenig Gleise. An vielen Stellen im Netz wurde jahrelang versäumt, ausreichend neue Gleise zu bauen. Aktuell verzögern also überfällige Reparaturen den Verkehr - und gleichzeitig lässt der Bau neuer Gleise weiter auf sich warten. Die Folge: Das deutsche Schienennetz kommt gerade an viel befahrenen Strecken an seine Grenzen. Und das liegt nicht allein an zu geringen Investitionen, sondern auch daran, dass Bauvorhaben immer wieder an den Widerständen der Bevölkerung scheitern oder durch diese massiv in die Länge gezogen werden.
Ein Beispiel ist die Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Seit Jahrzehnten wird versucht, die Zahl der Züge zwischen den beiden Städten deutlich zu erhöhen. Die ursprüngliche Neubau-Variante, die sogenannte "Y-Trasse", war als ICE-Trasse von Hannover nach Hamburg und Bremen gedacht, scheiterte aber an Protesten aus der Bevölkerung. 2015 einigte sich dann das "Dialogforum Schiene Nord", ein Zusammenschluss unter anderem aus Kommunen, dem Land, dem Bund und der Bahn, auf die sogenannte "Alpha-E-Variante": Die heutigen Strecken sollten danach lediglich modernisiert und etwas ausgebaut werden, unter anderem mit einem weiteren Gleis zwischen Lüneburg und Uelzen.
Aber schon 2016 stellte ein Bundesgutachter fest, dass diese Variante nicht ausreicht, weil auf der Trasse mehr Kapazität benötigt wird. Deshalb folgte darauf das Projekt "Optimiertes Alpha-E plus Bremen". Diese Variante geht über die Einigung von 2015 hinaus. Denn für das Projekt sind laut DB zwei zusätzliche Gleise zwischen Stelle bei Hamburg und Celle notwendig.
Einigung scheint in weiter Ferne
Dafür prüft die Bahn aktuell drei verschiedene Optionen: Eine Option wäre, die neuen Gleise direkt entlang der bestehenden Strecke zu bauen, die durch diverse Städte und Orte führt. Darüber hinaus könnte die Strecke auch an einzelnen Orten vorbeigeführt werden. Eine andere Möglichkeit wäre, eine Neubautrasse abseits der bisherigen Gleise zu bauen, zum Beispiel entlang der Autobahn A7. Die Ergebnisse der Prüfung will die Bahn bis Ende des Jahres vorlegen. Wann auf der Strecke tatsächlich etwas passiert, ist allerdings völlig offen. Gegen jede der Streckenvarianten gibt es Widerstand aus der Bevölkerung.
Schon längst sprechen nicht mehr alle von der gleichen Variante, wenn es um den Streckenausbau zwischen Hamburg und Hannover geht. In einigen angrenzenden Gemeinden beziehen sich Landräte und Bürgermeister noch immer auf den Kompromiss von 2015, dringen also darauf, die ursprüngliche Alpha-E Variante umzusetzen. Auch Niedersachsens Verkehrsminister Bernd Althusmann fordert das aktuell im Wahlkampf. Und das, obwohl klar ist, dass die ursprüngliche "Alpha-E-Variante" für das Bundesverkehrsministerium schon seit Jahren vom Tisch ist. Das bestätigt der Schienenbeauftrage der Bundesregierung Michael Theurer (FDP). Stattdessen sei das "Optimierte Alpha E Plus" durch einen Bundestagsbeschluss in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden: "Das ist gültiges oder geltendes Bundesgesetz."
Wie lassen sich Bauvorhaben durchsetzen?
Die Strecke zwischen Hamburg und Hannover ist nur ein Beispiel dafür, wie langwierig und kompliziert Bauvorhaben der Bahn sind. Doch genau auf den schnellen Bau von mehr Gleisen käme es an, wenn auch nur annähernd das erreicht werden soll, was die Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt hat.
FDP-Mann Theurer im Bundesverkehrsministerium verweist darauf, dass man in das Schienennetz investieren wolle. Mehr Geld also soll der Bahn aus dem Chaos helfen. Damit die Menschen "die Uhr wieder nach der Bahn stellen können", wie Verkehrsminister Volker Wissing unlängst ankündigte, braucht es aber auch den politischen Willen, neue Bahntrassen schnell zu bauen - auch gegen Widerstände.
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