Donnerstag, 1. September 2022

Ohne Gegenwind

Ich glaube in diesem Artikel ist das Geheimnis um den Erfolg einer örtlichen Energiewende verankert. Wir sollten uns das zu Herzen nehmen und in unseren Gemeinden daran arbeiten!

Zeit online hier  28. August 2022  Von Ruben Rehage

Erneuerbare Energien

Oft scheitert der Ausbau erneuerbarer Energien am Protest von Bürgerinitiativen. Doch ein Dorf im Allgäu schafft es, Bedenken in Begeisterung zu verwandeln.

Fährt man nach Wildpoldsried, in ein Dorf tief im Allgäu, kurz vor der österreichischen Grenze, dann fährt man über sanfte Hügel und vorbei an grünen Wiesen, in die Vergangenheit und in die Zukunft.

In die Vergangenheit, weil in Wildpoldsried irgendwie die Zeit stehen geblieben zu sein scheint: Die Jungen ziehen hier nicht weg, am Sonntag trifft sich die Gemeinde in der Kirche, und die CSU-Bürgermeisterin wurde mit 91 Prozent ins Amt gewählt.

In die Zukunft, weil dieses kleine Dorf für sich etwas geschafft hat, woran die Bundesrepublik schon so lange mit mäßigem Erfolg herumwerkelt: die Energiewende. Wildpoldsried erzeugt achtmal mehr Strom, als es selbst verbraucht. Und noch etwas ist besonders an der Stromproduktion hier: Die Anlagen gehören zu einem großen Teil den Bürgerinnen und Bürgern, sie wurden initiiert, geplant, umgesetzt aus ihrer Mitte und mit ihrem Geld ,praktisch ohne Widerstand. Alle profitieren, so gut wie niemand ist dagegen.

Es ist nicht ganz einfach zu prognostizieren, wie viele Windkraft- und Solaranlagen die Bundesrepublik bauen muss, um den Strombedarf im Jahr2050 klimaneutral zu decken. Das eine hängt vom anderen ab und beides vom Energiebedarf der Zukunft. Eine Faustformel lautet: Wir müssen die Kapazitäten in etwa verdoppeln. Beim Wind an Land, zum Beispiel, von etwa30.000 auf mehr als 65.000 Windräder, was einem Zubau von rund 1250Windrädern pro Jahr entspricht (wenn keins abgebaut wird). Im vergangenen Jahr wurden 484 Windräder gebaut, und rechnet man jene heraus, die aus Altersgründen abgebaut wurden, sind gerade mal 235 Windräder neu dazugekommen. Mit anderen Worten: Der Ausbau geht viel zu langsam.

Einer der Gründe dafür liegt im Widerstand, den vor allem Windenergie-, aber auch Solar-Projekte von Bürgerinitiativen erfahren. Theoretisch ist die Akzeptanz für die Energiewende quer durch alle Gesellschaftsschichten hoch. Praktisch aber wollen viele Menschen kein Windrad auf den Äckern ihrer Gemeinden stehen haben. Sie organisieren sich, sie klagen, sie ziehen Genehmigungsverfahren in die Länge, viele Projekte werden deshalb irgendwann wieder abgesagt.

"Das Geld des Dorfes dem Dorfe", das war die Idee des Bürgermeisters

Ein Hebel, um diese Akzeptanzprobleme abzufedern, liegt in der sogenannten Bürgerenergie. Bürgerinnen beteiligen sich finanziell an Projekten und profitieren dadurch unmittelbar – je näher sie daran wohnen, desto mehr. Die Europäische Kommission hat die Grundlage dafür vor einigen Jahren gesetzlich etabliert, in Deutschland ist das Konzept aber nie motiviert umgesetzt worden.
Dabei zeigt das Beispiel Wildpoldsried, welches Potenzial in der Bürgerenergie steckt.

Arno Zengerle sitzt an einem mal sonnigen und mal regnerischen Tag im Sommer in einem Elektroauto, fährt durch sein Dorf und sagt: "Wenn die anderen Gemeinden keine Windräder haben wollen, bauen wir die eben gerne hier, von uns aus versorgen wir die ganze Region mit Strom."

In Wildpoldsried stehen mittlerweile neun Windräder

Zengerle ist ein freundlicher älterer Herr, 24 Jahrelang war er der Bürgermeister von Wildpoldsried, es wirkt, als würde er in dem Ort jeden kennen, er hält hier einen Plausch durchs offene Autofenster, grüßt dort. Zengerle will zeigen, wie klimafreundlich sein Heimatdorf Energie produziert, es gibt eine große Biogasanlage, ein kleines Wasserkraftwerk und vor allem die Windräder, die auf einem Hügel über dem Ort thronen.

Mitte der Neunzigerjahre habe ein Bauer aus dem Dorf sich das erste Windrad gebaut, klein und ineffizient, aber auch neu und innovativ, erzählt Zengerle. Mit diesem Windrad sei ein Stein ins Rollen gekommen, denn Zengerle erkannte ein Potenzial.

Als Bürgermeister fragte er sich damals, wie Wildpoldsried in zwanzig Jahren aussehen solle. Zengerle sagt, er wollte "das wirtschaftliche Potenzial der Landbevölkerung nutzen", um das Leben im Dorf attraktiv zu halten. Das Windrad, sagt er, sei ein Beleg dafür, wie kreativ die Bauern hier seien: "Die denken andauernd darüber nach, wie sie ihr Geschäft weiterentwickeln können." Zengerle überlegte sich, dass er das Geld der Bürgerinnen und Bürger von Wildpoldsried in Wildpoldsried behalten wollte, "das Geld des Dorfes dem Dorfe", das war seine Formel.
Wieso also nicht einfach noch mehr Windräder bauen, die allen gehören, von denen alle profitieren?
Ein energetisch unabhängiges Dorf, das saubere Energie produziert, lebenswert, grün,freundlich, das war die Vision.

In den Neunzigern, daran muss man an dieser Stelle noch mal erinnern, wurde Energie noch weitgehend monopolistisch produziert und vertrieben.
Gemeinschaftlich gebaute Windräder waren in diesem System geradezu exotisch.

Zengerle und Wendelin Einsiedler, der Bauer mit dem Windrad, trommelten die Bürgerinnen und Bürger daraufhin in der Gaststube Hirsch zusammen (die es heute noch gibt) und beschrieben ihren Plan: Ein größeres und effizienteresWindrad als das des Bauern wollten sie bauen, direkt am Ortsrand, bezahlt mit dem Geld der Wildpoldsrieder. Wer wollte, konnte mitmachen. Sie rechneten vor, beantworteten alle Fragen, nach ein paar Tagen war das komplette Kapital gezeichnet.

Damals gab es noch ein paar Widerstände, aber Zengerle sagt, dass die Leute ihnen am Ende vertraut hätten, weil sie nicht irgendwelche dahergelaufenen Projektierer aus der großen Stadt gewesen seien, sondern aus der Mitte der Dorfgemeinschaft kamen.

Inzwischen stehen in Wildpoldsried neun Windräder, immer größere undeffizientere haben sie gebaut, und mittlerweile müssen sie die Einlagendeckeln, wenn sie ein neues bauen wollen, weil sich zu viele Bürgerinnen und Bürger beteiligen möchten. Denn dass sich das lohnt, haben die Wildpoldsrieder schnell verstanden: Im Schnitt, heißt es im Rathaus, haben die Anteilseigner neun Prozent Rendite pro Jahr herausgeholt. "Heute", sagt Zengerle, "führen wir hier überhaupt keine Diskussionen mehr. Wenn die uns lassen würden, würden wir einfach immer weiterbauen."

"Vor allem aber werden wir regulatorisch und planerisch genauso behandelt wie ein großes Energieunternehmen, das ein Atomkraftwerk baut", sagt Zengerle. Er meint damit, dass es für Projekte, die Bürger in ihrer eigenen Gemeinde umsetzen wollen, keine schnelleren Verfahren gibt, keine Ausnahmen, die eine Genehmigung beschleunigen, kurz: keine Unterstützung aus der Politik.
So empfindet er das. "Die kommen nur ab und zu vorbei, um sich fotografieren zu lassen und zu sagen, toll, was ihr hier geschafft habt." In Wildpoldsried hätten sie gezeigt, dass man Akzeptanzprobleme abbauen könne, wenn alle am Projekt mitverdienten. Bürgerenergieprojekte, findetZengerle, müssten deswegen Vorrang haben und gezielt gefördert werden. Eine Idee, die eigentlich gar nicht neu ist.

An einem der ersten heißen Tage des Jahres sitzt Lea Diestelmeier im Innenhof der juristischen Fakultät der Universität Groningen in den Niederlanden. Es ist Klausurenphase, Studierende sitzen lernend in der Sonne, Professoren laufen geschäftig mit Büchern unterm Arm über den Hof. Diestelmeier ist Juristin, sie forscht zu "Energy Communities", das ist, im Prinzip, die Bezeichnung im EU-Recht für Bürgerenergie. Diestelmeier sagt: "Nachhaltige Energieressourcen, also vor allem Wind und Sonne, gehören niemandem, niemand hat daran Eigentum. Das ermöglicht es, die Stromproduktion aus diesen Quellendemokratisch zu organisieren."

Hier an der Fakultät, an der Universität insgesamt, sitzen einige der führendenWissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aller möglichen Disziplinen im Bereich Energie. Im Norden von Groningen liegt ein großes Gasfeld, das über viele Jahre große Teile Europas versorgt hat. Bis es in dieser eigentlich seismisch ruhigen Region Erdbeben gab, die auf die Gasförderung zurückgeführt werden. Im nächsten Jahr soll das Feld geschlossen und die Förderung dort eingestellt werden. An der Universität forschen sie derweil an der Zukunft.

Energy Communities, sagt Diestelmeier, lägen eigentlich im Widerspruch zum politischen Kurs der EU-Kommission der vergangenen Jahrzehnte: möglichst viel Markt, möglichst viel Wettbewerb. Im EU-Recht sind die Energy Communities durch zwei Merkmale definiert: eine demokratische Organisation und sogenannte Gemeinschaftsvorteile, also die Tatsache, dass die Gesellschaft profitiert. Das, sagt Diestelmeier, gehe über Geld hinaus, und an dieser Stelle löst sich der Widerspruch zum Freier-Energiemarkt-Ideal der Kommission auf: "Alle sollen teilhaben, Kosten und Profite werden geteilt. Die Energiewende wird ein Projekt von und für jeden. So werden Widerstände abgebaut, und alle profitieren, am Ende auch der Markt."

Die Forschung zeigt, dass darin ein großes Potenzial liegt, in Dänemark zum Beispiel – dem europäischen Spitzenreiter bei der Stromproduktion aus Erneuerbaren – ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Entwickler ein Fünftel der Anteile seines Projekts den Anwohnerinnen zum Kauf anbietet.

Es ist nicht so, als würde der deutsche Gesetzgeber an dieser Stelle nichts tun. Bereits 2017 wurden sogenannte Bürgerenergiegesellschaften – im Prinzip das Äquivalent zu den europäischen Energy Communities – im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) verankert, wurden aber nie mit Kraft umgesetzt und haben deswegen auch nie richtig Auftrieb bekommen, im Gegenteil, der Ausbau der Erneuerbaren insgesamt brach infolge der EEG-Reform dramatisch ein. Eine verpasste Chance.

Vor allem wenn man bedenkt, dass die Idee einer demokratischen Energieproduktion vielleicht nicht in Deutschland erfunden wurde, aber zumindest einen ihrer Ursprünge hierzulande hat, in einem kleinen Ort tief im Schwarzwald, eingerahmt von hohen Bergen: bei den Elektrizitätswerken Schönau (EWS).

Skepsis gegenüber den EWS

Einmal im Jahr treffen sich die Genossinnen und Genossen der EWS zum sogenannten Stromseminar, einer Veranstaltung zum Zusammenkommen, zum Diskutieren, zum Weiterbilden – und zum Sich freuen darüber, wie weit man es gemeinsam geschafft hat. In einem kleinen Seminarraum abseits der Veranstaltung sitzt Wolf-Dieter Drescher und erzählt von früher. Drescher ist einer der Gründer der EWS und damit einer der Pioniere einer besonderen Idee.

Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 schaltete Drescher in der Lokalzeitung eine Anzeige, deren Inhalt er heute sinngemäß so zusammenfasst: "Mir geht das auf den Sack, das kann so nicht weitergehen. "Mit "das" meinte er eine Energieproduktion aus fossilen, giftigen und/oder strahlenden Ressourcen. Auf seine Anzeige meldeten sich andere aus Schönau, und wie die Geschichte von hier an weitergeht, ist längst Legende. Gemeinsam kauften sie zehn Jahre später die Konzession für das Stromnetz der Gemeinde, mit Geld von Privatleuten aus dem Ort. Fortan waren sie ein Energieunternehmen, demokratisch organisiert, nicht profitorientiert.

Fragt man Drescher nach Widerstand aus der Bevölkerung, dann lacht er, "schlimm war das, das halbe Dorf für uns, das halbe dagegen, und die so richtig". Viele hätten Angst um die sichere Energieversorgung gehabt, wenn ein paar dahergelaufene Hippies (so sagt Drescher das selbst) eine kritische Infrastruktur wie das Stromnetz übernehmen.

Im Rückblick, sagt er, konnten sie am Ende nur deswegen erfolgreich sein, weil sie selbst aus dem Ort kamen, ähnlich wie Arno Zengerle in Wildpoldsried.
Drescher leitet aus dieser Erfahrung eine Regel fürs Heute ab: "Eigentlich muss jemand aus der Mitte der Gemeinde den Menschen erst den Sinn eines Projekts erklären, nicht zuletzt den finanziellen, und sie dann fragen: Wo wollen wir das bauen?"

Ironischerweise sind die EWS heute so groß, dass das Unternehmen trotz der genossenschaftlichen Organisationsform mit den gleichen Widrigkeiten zu tun hat wie jedes Energieunternehmen, das einen Wind- oder Solarpark bauen will.

Mit mehr als 200.000 Kunden sind die EWS zu groß geworden für ihr kleines Tal im Schwarzwald, Flächen an anderen Orten in Deutschland müssen her –und wenn die EWS in einer Gemeinde bei Lübeck oder in Thüringen nach Grundstücken suchen, tritt man ihnen so skeptisch gegenüber wie jedem anderen Projektierer auch, einfach weil sie von außerhalb kommen, so erklärt sich Drescher das.

Diese Skepsis gegenüber den EWS ist für Drescher allerdings kein Argumentgegen demokratische Energieproduktion, sondern ein Beleg dafür, dass Politik noch niedriger ansetzen muss. Bei kleineren Initiativen, die tatsächlich aus den Gemeinden entstehen. Die Bundesregierung hat vor Kurzem eine Reform des EEG beschlossen, darin wird auch die Definition von Bürgerenergiegesellschaften erneuert, in der Hoffnung, dass das Konzeptattraktiver und damit erfolgreicher wird. 2023 soll die Reform in Kraft treten.

Arno Zengerle, der 24 Jahre lang Bürgermeister in Wildpoldsried war, sagt, sie hätten zwei Anlagen praktisch fertig geplant, und sie würden sich freuen, wenn es mit der Genehmigung endlich mal voranginge. Wolf-Dieter Drescher von den EWS sagt, dass die Landschaft sich zwangsläufig so radikal verändern werde, dass Akzeptanz nur entstehe, wenn alle teilhaben können. Und Lea Diestelmeier, die Forscherin, sagt: "Man schaut eben anders auf ein Windrad,wenn man finanziell davon profitiert."

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