Ein wunderbarer Artikel aus unserem Nachbarland Schweiz.
Dieser Artikel führt mich gedanklich vor allem zu den Menschen, die die Klimaaktivisten verurteilt sehen wollen. Warum? Was treibt sie an? Es ist schlichtweg nicht nachzuvollziehen, wenn man sich die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen führt. Gibt es noch Menschen, die nicht damit rechnen, dass sie das auch betreffen wird?
Republik aus der Schweiz hier Von Brigitte Hürlimann, 21.09.2022
Früher hat Richter Roger Harris Klimaaktivisten verurteilt. Heute spricht er sie konsequent frei. Sonst würden bald alle friedlichen Demonstranten verfolgt, befürchtet er.Die kleine, stinkreiche Schweiz tut sich schwer mit der Klimakrise. Allzu gerne jammern die Hiesigen zwar über heisse Sommer, trockene Wiesen und Felder, ausgedünnte Flüsse, verheerende Stürme oder über die rasant schmelzenden Gletscher. Aber ernsthafte, wirkungsvolle Massnahmen ergreifen, sofort, nicht erst übermorgen? Lieber nicht. So die weitverbreitete Haltung in der Politik, hier und heute, bis in die oberste Stufe hinauf.
Das ist der Grund für den zivilen Ungehorsam, der auch hierzulande ab und zu aufflackert und der bisher friedlich verlaufen ist. Trotzdem sind Hunderte von Aktivistinnen festgenommen worden. Auffallend viele von ihnen kamen in Polizeihaft, und fast alle wurden sie bestraft, zunächst im Schnellverfahren, also per Strafbefehl. Wer sich dagegen wehrt, muss sich vor Gericht verantworten – und auch hier überwiegen die Schuldsprüche: wegen Nötigung, Landfriedensbruchs oder der Behinderung des öffentlichen Verkehrs.
Doch es gibt Richter, die scheren aus. In Lausanne befand Einzelrichter Philippe Colelough (FDP), die Klimaaktivistinnen, die in einer Schalterhalle der Credit Suisse Tennis spielten, dürften sich auf den Notstand berufen. In Basel entschied Einzelrichterin Susanne Nese (SP), bei einer Aktion vor der UBS sei niemand genötigt worden – und es sei kein Verbrechen, das Klima zu schützen.
In Zürich spricht Einzelrichter Roger Harris (Mitte-Partei) friedlich demonstrierende Klimaaktivisten neuerdings konsequent frei – nachdem er zuvor Schuldsprüche verhängt hatte. Bei seiner jüngsten Urteilseröffnung von Anfang dieser Woche erklärt er einmal mehr, wie es zu seinem Sinneswandel kam.
Kurzer Applaus und Jubel im Saal.
Normalerweise mögen die Richterinnen solch spontane Reaktionen aus den Zuschauerreihen gar nicht und rufen subito nach Ruhe und Ordnung. Doch Roger Harris lässt die Leute gewähren. Überhaupt ist vieles anders als sonst, an diesem Strafprozess vor dem Bezirksgericht Zürich. Ungewöhnlich viel Publikum hat sich eingefunden, Jung und Alt, man spricht Deutsch, Französisch und Italienisch, einige scheinen sich zu kennen, andere sind aus wissenschaftlichem Interesse hier, zwei Kinder im Primarschulalter setzen sich mit Papier und Farbstift in der Hand artig auf ihre Stühle.
Sie alle sind aus zwei Gründen nach Zürich gekommen. Erstens, um die Beschuldigte zu unterstützen, eine 46 Jahre alte Übersetzerin, dreifache Mutter und Klimaaktivistin. Zweitens, um zu hören, ob das stimmt, was im Vorfeld des Prozesses die Runde gemacht hat: Dass Richter Harris keine Schuldsprüche mehr verhängen wird, wenn Demonstranten vor ihm sitzen, die gewaltfrei aufs drängendste Problem unserer Zeit aufmerksam machen. Auf die Klimakrise.
Roger Harris erfüllt die Erwartungen.
Er macht die Frau auf der Anklagebank zunächst auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam, und sie antwortet ihm, dass sie viel zu sagen habe. Und ja, sie halte an ihrer Einsprache fest.
Die nicht vorbestrafte Schweizerin hat im Oktober 2021 an einer Aktion in der Stadt Zürich teilgenommen, zu der die Organisation Extinction Rebellion aufgerufen hatte. Die Stadtbehörde wusste davon. Eine «grössere Anzahl Personen», so heisst es im Strafbefehl, habe auf der Rudolf-Brun-Brücke die Strasse blockiert. Der Verkehr habe «grosszügig» umgeleitet werden müssen. Trotz Abmahnung der Polizei sei eine «grosse Anzahl von Teilnehmerinnen dieser illegalen Demonstration» auf der Strasse geblieben. Darunter die 46-jährige Frau.
Sie wurde von der Polizei festgenommen und kam zwei Tage lang in Haft – das ist das Maximum, das ohne richterlichen Beschluss verhängt werden kann. Vor Gericht schildert die Frau, wie sie sich für eine Leibesvisitation habe nackt ausziehen müssen. Dass man ihr eine DNA-Probe entnommen habe (das Bundesgericht hat dies in einem ähnlichen Kontext für unzulässig erklärt). Sie habe nicht mit ihrer Familie telefonieren dürfen, und sie sei zusammen mit einer anderen Aktivistin eingesperrt worden: mit einer 73-jährigen Frau.
Die Zellengenossin sitzt am Montagnachmittag hinter ihr im Gerichtssaal und hört aufmerksam zu.
Ja, fährt die Frau auf der Anklagebank fort, sie gebe zu, an der Kundgebung beteiligt gewesen zu sein. Aber es sei empörend, dass sie hier sitze. Und nicht all die Bundesräte, die seit fünfzig Jahren einen schlechten Job machten. Spätestens seit dem Umweltgipfel in Stockholm von 1972 seien die Gefahren bekannt. Die Schweizer Landesregierung missachte ihre Pflichten dem Volk gegenüber, und sie missachte die Verfassung: «Aber ich werde kriminalisiert.»
Verteidiger Markus Wyttenbach, der neben ihr sitzt, sagt nicht viel. Er hat sein vierzigseitiges Plädoyer dem Gericht vor der Hauptverhandlung zukommen lassen, und der Richter erspart es ihm, das Aufgeschriebene vorlesen zu müssen. Dem Publikum im Saal genügen die Ausführungen der Beschuldigten. Und die einzige anwesende Medienvertreterin bekommt – zum Glück! – vom Verteidiger eine Papierkopie ausgehändigt.
Die Staatsanwaltschaft hat darauf verzichtet, am Prozess teilzunehmen. Via Strafbefehl, der zur Anklageschrift mutierte, verlangt sie einen Schuldspruch wegen Nötigung: gesühnt mit einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 30 Franken.
Warum soll die Frau nach Meinung des Verteidigers freigesprochen werden? Einige der wichtigsten Argumente aus dem schriftlichen Plädoyer:
Die Zürcher Strafverfolger gehen einseitig und mit unverhältnismässiger Härte gegen friedliche Klimaaktivistinnen vor. Mit der Anordnung der maximalen Polizeihaft und mit anderen Massnahmen wird ein chilling effect angestrebt. Die Menschen sollen davon abgebracht werden, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.
Andere gewaltfreie Kundgebungen werden toleriert, auch wenn sie ohne Bewilligung stattfinden und obwohl Fussgänger und Automobilistinnen behindert werden: etwa Umzüge von Corona-Massnahme-Gegnern, von Velolobbyistinnen oder Fan-Märsche.
Auch unbewilligte Demos stehen unter dem Schutz der Versammlungs- und der Meinungsäusserungsfreiheit; beide Grundrechte sind sowohl in der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch in der Verfassung verankert.
Die Anklageschrift ist ungenügend.
Es wurde niemand genötigt. Dafür war die Blockade zu kurz und es standen andere Verkehrswege zur Verfügung. Überhaupt kommt es in einer Stadt wie Zürich ständig zu Verkehrsbehinderungen.
Es gibt kein Bedürfnis für eine Bestrafung der Beschuldigten.
Es liegt ein Klimanotstand vor.
Richter Harris bestätigt, dass er das Plädoyer von Markus Wyttenbach gelesen habe. Dann erteilt er der Beschuldigten das Schlusswort.
Die Frau sagt, wie sehr es sie nerve, wenn Richter bei ihren Schuldsprüchen erwähnten, dass die Sache und die Sorge zwar legitim seien, sich die Klimaaktivistinnen aber legaler Mittel zu bedienen hätten. «Ich habe keine kriminelle Energie, wie es in Ihrem Jargon heisst, aber diese billige Moralisierung löst in mir einen tiefsitzenden Zorn aus.»
Der Saal wird geräumt, der Richter zieht sich zur Urteilsfindung eine halbe Stunde lang zurück. Als alle wieder drinnen sitzen und gespannt nach vorne schauen, sagt er:
«Die Beschuldigte ist nicht schuldig und wird freigesprochen.»
Sie erhalte eine Prozessentschädigung sowie 600 Franken für die zwei Tage in Haft.
«In diesem Strafverfahren ist wirklich alles falsch gelaufen. Die Nötigung wird nicht umschrieben, man hat sich beim Strafbefehl keine Mühe gegeben, was typisch ist für den Umgang mit Massendelikten», so Roger Harris bei der mündlichen Urteilsbegründung. Der Sachverhalt sei nicht erstellt, es bleibe unklar, was die Frau genau getan haben soll und wie viele Leute vor Ort gewesen seien. Die Abmahnung durch die Polizei sei eine blosse Behauptung, und es sei völlig offen, welcher Verkehr wann und wie habe umgeleitet werden müssen: «Es gibt links und rechts noch andere Brücken. Wer wurde genötigt und wie lange?»
Harris betont, er sei nicht mehr bereit, friedliche Demonstranten schuldig zu sprechen und solche staatlichen Strafaktionen zu unterstützen. Jeder habe das Recht, gewaltfrei zu demonstrieren. Eine derartige Nutzung des öffentlichen Bodens sei schlicht hinzunehmen. Nur bei Gewalt müsse eingegriffen werden.
«Ich habe früher anders entschieden. Ich habe etwas länger gebraucht, um zu merken, was das Ausmass ist, dass irgendwann jeder verfolgt wird, wenn das so weitergeht. Wir sind an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Es gibt ein Mass an Behinderungen, das geduldet werden muss, damit die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit gewährleistet sind. Eine halbe Stunde lang eine blockierte Brücke in Zürich zu haben, das muss man hinnehmen. Vor allem für ein derart wichtiges Anliegen.»
Es sei ihm bewusst, sagt Richter Harris, dass er mit solchen Auffassungen noch allein dastehe. Die Staatsanwaltschaft habe gegen sämtliche Freisprüche von ihm Berufung angemeldet. Und an die Frau auf der Anklagebank gerichtet: «Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Machen Sie weiter so.»
Dann schweift sein Blick zu den zwei Kindern im Saal (das jüngste ist erst sieben und durfte nicht mitkommen): «Jungs, ihr könnt stolz sein auf eure Mutter.»
Während er die Aktivistin freispricht und im Saal der Jubel losbricht, kommt es fast zeitgleich und ebenfalls in Zürich zu zwei Schuldsprüchen. Das Obergericht, die Berufungsinstanz, verurteilt zwei Klimaaktivistinnen wegen Nötigung und wegen Störung des öffentlichen Verkehrs. Die beiden hatten im Juni 2020 an einer Kundgebung auf der Zürcher Quaibrücke teilgenommen. Die Gruppe Extinction Rebellion hatte dazu aufgerufen.
Das Verdikt aus dem Obergericht wird die Staatsanwaltschaft freuen und beruhigen. Ihre nächste Berufungsanmeldung dürfte so sicher sein wie das Amen in der Kirche. (Oder wie die Dringlichkeit der Klimakrise.)
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