t-online hier Johannes Bebermeier, Sven Böll am 17.09.2022
Atomkraft, Jein danke? Warum eine echte Laufzeitverlängerung für die Grünen nicht infrage kommt, erklärt Umweltministerin Steffi Lemke im Interview.
Steffi Lemke hat im Moment viel zu tun. Die grüne Umweltministerin muss nicht nur dafür sorgen, dass der Naturschutz nicht unter dem Ausbau der erneuerbaren Energien leidet. Also gewissermaßen das Windrad mit dem Rotmilan versöhnen.
Lemke ist als Ministerin auch für die nukleare Sicherheit zuständig. Und damit ist sie als Grüne plötzlich mittendrin in den Plänen der Bundesregierung, zwei Atomkraftwerke, falls nötig, ein paar Monate länger laufen zu lassen. Ein Gespräch auch über die Zumutungen des Regierens.
t-online: Frau Lemke, sind Umwelt- und Klimaschutz nur in guten Zeiten wichtig?
Steffi Lemke: Definitiv nicht.
Was macht Sie da so sicher?
Wir haben doch gerade erst in diesem Sommer in ganz Europa wieder Hitzewellen, verheerende Waldbrände und ausgetrocknete Flüsse erlebt. Pakistan ist von einer fürchterlichen Flutkatastrophe betroffen. All das zeigt doch: Es liegt in unserem ureigenen Interesse, endlich Vorsorge zu treffen. Es geht eben nicht nur um den Klimaschutz, sondern um unser aller Schutz – vor Hochwasser, Dürre, Bränden. Klima- und Naturschutz sind Menschenschutz.
Das klingt plausibel. Aber unser Eindruck kommt ja nicht von ungefähr: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine versucht ein grüner Wirtschaftsminister, in aller Welt Gas zu besorgen, Kohlekraftwerke werden reaktiviert, die Erhöhung des CO2-Preises wird verschoben – und selbst eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke (AKW) ist kein Tabu mehr. Muss man sich Klima- und Umweltschutz nicht doch leisten können?
Wir bekommen gerade die Rechnung für fehlenden Umwelt- und Klimaschutz der vergangenen Jahrzehnte serviert. Und die ist ziemlich hoch.
Inwiefern?
Die Tatsache, dass vorherige Bundesregierungen in den letzten 16 Jahren die Bekämpfung der Klimakrise verschleppt und die erneuerbaren Energien nicht ausgebaut haben und außerdem noch eine fatale Abhängigkeit von russischem Erdgas zuließen, hat uns doch erst in diese dramatische Situation gebracht. Die Fehler von früher zwingen uns nun, für kurze Zeit noch mal verstärkt auf fossile Energien zurückzugreifen. Das ist die traurige Wahrheit. Wären die Nord-Stream-Pipelines nicht gebaut worden, wäre nicht in Bayern jedes einzelne Windrad bekämpft worden, wäre nicht die Solarindustrie in Sachsen-Anhalt kaputtgegangen, wären wir jetzt in einer viel besseren Situation.
Aber der Blick zurück hilft uns jetzt auch nicht weiter.
Da haben Sie recht. Mir geht es auch weniger darum, die Fehler von früher zu beklagen, als aufzuzeigen, dass die erneuerbaren Energien die Lösung sind. Nicht der Klimaschutz hat uns in diese Situation gebracht, sondern der fehlende Klimaschutz. Hätten wir 100 Prozent erneuerbare Energien, wären die Strompreise übrigens deutlich niedriger.
Haben Sie den Eindruck, dass die Mehrheit der Bürger Ihre Analyse teilt? Ist es vielen nicht im Moment eher egal, wie heiß der nächste Sommer wird, wenn sie angesichts explodierender Energiepreise nicht wissen, ob sie im Winter frieren müssen?
Niemand wird im Winter frieren müssen. Aber ich weiß natürlich, dass die hohen Energiekosten viele Menschen und Unternehmen extrem belasten. Deshalb hat die Bundesregierung drei Hilfspakete verabschiedet. Und wir ahnen doch alle, dass diese Beschlüsse noch nicht das Ende der Fahnenstange bedeuten.
Das heißt: Es wird mindestens ein viertes Hilfspaket geben?
Die Bundesregierung wird tun, was notwendig ist, um die Energieversorgung zu sichern und unsere Gesellschaft zusammenzuhalten.
Dieses Vorgehen bringt die Grünen aber immer wieder in Schwierigkeiten. Damit Deutschland Flüssigerdgas importieren kann, werden LNG-Terminals gebaut. Robert Habeck hat die Tierschützer gebeten, die sich um die Schweinswale sorgen, von Klagen abzusehen, damit es rasch vorangeht. Das muss Sie als Umweltministerin doch schmerzen?
Wir haben in der Regierung gemeinsam entschieden, dass wir einen Energienotstand im Winter verhindern müssen. Dafür sind auch LNG-Terminals notwendig. Und natürlich gibt es Kritik daran, aber das gehört auch in Krisenzeiten zur Demokratie dazu.
Ist das der Preis fürs Regieren: Man muss pragmatisch bis zum Anschlag sein?
So sehe ich das nicht. Wer regiert, kann gestalten. Im Moment heißt das aber in allererster Linie Krisenbewältigung.
Wenn Deutschland erst einmal wieder viel Gas importiert und durch die Reaktivierung von Kraftwerken auch über mehr Kohlestrom verfügt: Was macht Sie so sicher, dass wir darauf schnell verzichten?
Unabhängig vom beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, den diese Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, macht mir eine Entwicklung Hoffnung: Wir erleben gerade, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in die preiswerten erneuerbaren Energien investieren wollen und dass wir so viel Energie einsparen wie lange nicht mehr.
Glauben Sie denn, dass alle weiter sparsam sind, wenn die Preise wieder sinken?
Das wird jede Familie individuell entscheiden, aber der Ausbau der Erneuerbaren wird ganz sicher bleiben.
Der Kohleausstieg soll laut Koalitionsvertrag "idealerweise" 2030 geschehen. Kommt er dann tatsächlich?
Wir werden den Ausbau der erneuerbaren Energien so beschleunigen, dass wir den Kohleausstieg bis 2030 schaffen.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist das Herzensanliegen der Grünen. Aber auch da mussten Sie als Umweltministerin Kompromisse machen: Um schneller mehr Windräder zu ermöglichen, wurde der Artenschutz aufgeweicht.
Ich bin nicht nur Naturschützerin, sondern auch Klimaschützerin – und beides ist nicht voneinander zu trennen. Das Paket, das wir verabschiedet haben, beschleunigt den Klimaschutz, wahrt aber den Artenschutz. Für mich ist das ein guter Kompromiss.
Der Naturschutzbund (Nabu) kritisiert allerdings die Liste, mit der Deutschland die kollisionsgefährdeten Vogelarten definieren will. Sie enthalte nicht alle tatsächlich gefährdeten, also auch solche nicht, die nach EU-Recht geschützt sind. Der Nabu fürchtet deshalb sogar einen langsameren Ausbau der Erneuerbaren wegen Rechtsstreitigkeiten über die Vogelarten.
Das Regelwerk, das wir verabschiedet haben, ist fraglos komplex. Eben, weil es den Klima- mit dem Artenschutz verbindet. Die Liste enthält alle Brutvogelarten, für die sich nach derzeitigem Kenntnisstand während der Brut eine wesentliche Gefährdung durch Windenergieanlagen ergeben kann und die bei den Genehmigungen somit eine Rolle spielen könnten. Ich gehe davon aus, dass unsere Regelung so rechtsfest ist, dass wir gemeinsam feststellen können, dass notwendiger Artenschutz und notwendiger Klimaschutz dadurch vorangebracht werden. Haupttreiber des Artenaussterbens sind übrigens nicht die erneuerbaren Energien, sondern die industrialisierte Landwirtschaft sowie der Verkehrs- und Siedlungsbau. Deshalb dürfen wir uns nicht immer wieder auf Windräder fokussieren.
Die Koalition streitet über den Weiterbetrieb der drei AKWs, die noch am Netz sind: Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Robert Habeck schlägt einen sogenannten Reservebetrieb zweier AKWs bis April vor: Sie sollen nur dann laufen, wenn ein Mangel absehbar ist. Was spricht angesichts möglicher Stromengpässe gegen eine allgemeine Verlängerung der Laufzeiten?
Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie. Das hat sich immer wieder im Betrieb gezeigt – und leider auch durch diverse Katastrophen. Wir haben mit Saporischschja in der Ukraine gerade sogar ein AKW, das zum Kriegsziel wird. Auch die Frage der Endlagerung ist nicht gelöst, es gibt weltweit kein einziges in Betrieb befindliches Endlager, und AKWs sind verdammt teuer.
Robert Habeck sagt sinngemäß, wenn die französischen AKWs im Winter genug Strom liefern, brauchen wir unsere nicht mehr. Ist französischer Atomstrom ungefährlicher als deutscher?
Die massiven Versorgungsprobleme in Frankreich, wo in diesem Sommer wegen Sicherheitsproblemen und Wassermangels 30 AKWs stillstanden, sind der beste Beleg dafür, wie überfällig der Atomausstieg bei uns ist.
Nächster Versuch: Das AKW Emsland hat 1988 seinen Betrieb aufgenommen und soll nach den Plänen von Robert Habeck definitiv vom Netz gehen. Der erste Reaktorblock des französischen AKW Cattenom, das nur gut 10 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt liegt, ging zwei Jahre früher in Betrieb. Warum ist das AKW im Emsland problematischer als das in Cattenom?
In Niedersachsen wird im Gegensatz zu Bayern so viel erneuerbarer Strom produziert, dass das AKW Emsland nicht gebraucht wird. Die europäischen Staaten entscheiden autonom, wo sie welches AKW erlauben. Frankreich setzt auf Atomkraft, Deutschland steigt definitiv aus. Übrigens auf Grundlage eines Gesetzes von Union und FDP, nach vielem Hin und Her. Dieser Zickzackkurs war gefährlich und extrem teuer. Wir tun gut daran, diese unverantwortliche Politik jetzt nicht weiterzuführen.
Der Atomausstieg ist gerade vor allem ein Anliegen Ihrer Partei. Fürchten Sie nicht, dass die Opposition im Falle einer Stromknappheit im Winter sagt: "Typisch Grüne – erst die Partei, dann das Land"?
Die Union tut das doch jetzt schon, von daher würde sich wenig ändern. Es ist Unsinn, aber sehr bequem für die heutige Opposition, weil sie dann nicht über ihr eigenes Versagen beim Ausbau der erneuerbaren Energien sprechen muss. Das ist schon verblüffend dreist.
Die Union scheint aber wild entschlossen zu sein.
Sie meinen, die Union agiert ideologisch? Wenn sich der ehemalige Verkehrsminister der CSU, Andreas Scheuer, hinstellt und sagt "Wir lösen unsere Probleme mit 3 + 3 + 3", also indem wir drei AKWs am Netz halten, drei bereits im Rückbau befindliche wieder ans Netz nehmen und dann drei neue bauen, dann ist das vielleicht wild entschlossen, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Er macht sich damit nur noch lächerlich.
Sie sind als Ministerin für die nukleare Sicherheit verantwortlich. Sind unsere AKWs sicher genug, um sie einige Monate länger laufen zu lassen?
Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass die Betreiber und die Atomaufsicht die Sicherheit gewährleisten. Das tun die Betreiber jetzt und das würden sie auch im Januar und Februar tun.
Die periodische Sicherheitsüberprüfung, also die gründlichere, ist für die Meiler inzwischen schon 13 statt wie üblich 10 Jahre her. Das war auch immer ein grünes Argument gegen einen Weiterbetrieb. Sagt man jetzt: Auf die paar Monate mehr kommt es auch nicht an?
Das ist erst einmal ein wesentliches Argument gegen eine Laufzeitverlängerung und das Beschaffen von neuen Brennelementen, wie es die FDP fordert. Das Aussetzen dieser Überprüfung wurde vor drei Jahren erlaubt, weil die Meiler Ende 2022 abgeschaltet werden sollten. Wer jetzt ernsthaft eine Laufzeitverlängerung von mehreren Jahren fordert, der verschweigt, dass diese Überprüfung nötig würde. Und anschließend bräuchte es vermutlich Nachrüstungen, was den Prozess insgesamt extrem langwierig und teuer machen würde.
Aber noch mal: Für die weiteren Monate nimmt man dann einfach ein Restrisiko in Kauf?
Die Sicherheit muss von den Betreibern auch jetzt gewährleistet werden, das ist Recht und Gesetz. Wenn das nicht der Fall ist, dürfen die AKWs nicht betrieben werden, selbst bei einer Strommangellage nicht. Eine Hochrisikotechnologie bleibt Atomkraft dennoch. Und deshalb kann man die periodische Sicherheitsüberprüfung nicht einfach für weitere zwei oder drei Jahre aussetzen.
Der Betreiber des AKW Isar 2 in Bayern, Preussen Elektra, hat in einem Brief an das Wirtschaftsministerium Bedenken geäußert, der Plan eines Reservebetriebs könne zu unsicher sein. Hätte man das Vorhaben besser mit den Betreibern abklären müssen?
In diesem Brief wird von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wie es zu diesem – ich nenne es jetzt mal: Missverständnis – gekommen ist, kann ich nicht erklären. Das müssten Sie Preussen Elektra fragen.
Finanzminister Christian Lindner machte diese Woche deutlich, dass er den Reservebetrieb noch gar nicht als beschlossene Sache ansieht. Kommt er?
Damit der Reservebetrieb funktionieren kann, muss der Bundestag Gesetze ändern. Das ist noch nicht geschehen. Insofern hat Herr Lindner recht.
Aber das ist dann eher ein formales Argument oder diskutiert die Regierung intern über andere Pläne?
Wir werden keine Laufzeitverlängerung beschließen, aber für den kommenden Winter klären, ob die AKWs einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.
Stand heute: Rechnen Sie denn damit, dass die AKWs Isar 2 und Neckarwestheim 2 noch zum Einsatz kommen bis April?
Wir führen gegenwärtig Gespräche, um zu klären, wie gewährleistet werden kann, dass die AKWs einen Beitrag leisten könnten, wenn es nötig ist.
Und wer wird im Winter darüber entscheiden, ob die AKWs jetzt gebraucht werden oder nicht?
Darüber sprechen wir gerade in der Bundesregierung.
Ein Problem der Atomenergie ist die Endlagerung. Deutschland sucht seit Urzeiten nach einem geeigneten Standort, der Prozess könnte noch Jahrzehnte dauern. Die Schweiz scheint da entschlossener vorzugehen.
Die Schweiz hat diese Woche bekannt gegeben, wo potenziell ein Endlager entstehen kann. Es gibt keine Entscheidung über einen Standort, geschweige denn wird dort bald mit dem Bau begonnen. Es wird auch in der Schweiz noch Jahre dauern, bis alle Fragen geklärt sind und über das Endlager entschieden ist.
Ärgert es Sie, dass das Schweizer Endlager nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze gebaut werden könnte?
Bei der Suche in der Schweiz wird, ähnlich wie in Deutschland, der Geologie und Sicherheit absolute Priorität eingeräumt. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Das zeigt ja das Beispiel Gorleben. Dort hat die Bundesrepublik jahrelang wichtige Zeit mit einer politisch motivierten Endlagersuche verschwendet: Der Standort sollte möglichst nah an der damaligen Grenze zur DDR liegen. Wir sollten also nicht die Schweiz dafür kritisieren, wenn sie möglicherweise ein Endlager in der Nähe zur deutschen Grenze baut, das sich an Sicherheitskriterien ausrichtet.
Es gibt Berichte über benachbarte Anwohner in Deutschland, die angesichts der Schweizer Pläne um ihr Trinkwasser fürchten. Haben Sie dafür Verständnis?
Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sagt: Ich hätte gern ein Atommüllendlager in meiner Gemeinde. Deshalb kann es nur das Kriterium Sicherheit geben.
Kann man aus der Schweiz noch etwas für die deutsche Suche nach einem Endlager lernen? Hier soll erst bis 2031 ein Standort gefunden sein.
Ich hoffe, dass der Konsens bestehen bleibt, dass sich alle Bundesländer an diesem immens schwierigen Prozess der Endlagersuche beteiligen. Das war vor fünf Jahren noch nicht so. Die Grünen haben diesen Konsens geschaffen, dass überall ergebnisoffen gesucht wird. Da hat damals Baden-Württemberg einen Durchbruch ermöglicht, während ein anderes süddeutsches Bundesland nicht so dafür zu haben war …
… Bayern …
… das liegt ziemlich südlich, ja.
Frau Ministerin, vielen Dank für das Gespräch.
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