Montag, 13. Dezember 2021

Elf Dinge, die ich als Radfahrerin nicht mehr hören kann

Heise Telepolis  hier , Auszüge daraus in blau


Die Debatte über den automobilen Straßenverkehr als Gegenmodell zur Fahrradmobilität wird von vielen Scheinargumenten bestimmt. Zeit für einen Faktencheck

"Jeder siebte Mensch, der 2019 im Straßenverkehr ums Leben kam, war mit dem Fahrrad unterwegs", schreibt das Statistische Bundesamt. Die vielen im Straßenverkehr getöteten Fahrradfahrer sind eine Entwicklung gegen den Trend. Einerseits gibt es immer weniger Verkehrstote auf Deutschlands Straßen, aber immer mehr davon sind mit dem Rad unterwegs.

Besonders betroffen Menschen über 65 und Kinder. Im Jahr 2010 gab es 381 Tote; 2019 waren es bereits 445. Schon 2012 stellte der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers bei der Analyse der Unfallzahlen fest: "Zunehmend sterben die Leute nicht mehr im Auto, sondern davor." Bis heute hat sich daran nichts geändert.

Artikel, die sich mit der Sicherheit von Radfahrer:innen befassen, bieten in den Kommentarspalten, die ewig gleichen Argumente, die so ermüdend, wie notorisch und einfältig sind, dass ich mir vorgenommen habe, diese durchzugehen und nach Faktenlage zu beurteilen.

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1. Radfahrer:innen halten sich nicht an Regeln

"Die sollen erst mal die Verkehrsregeln lernen", "Die fahren immer bei Rot", "Radfahrer verhalten sich rücksichtslos" – das sind gängige Sprüche, die man zu hören bekommt. Und im Feuilleton bekommt man zu lesen: "Viele Velofahrer fühlen sich auch moralisch überlegen. Sie leisten einen Beitrag für die Umwelt, verzichten dafür auf den Luxus eines Autos, sie trotzen Regen und Schnee. Und weil sie das tun, glauben sie, sich im Gegenzug über Regeln hinwegsetzen zu dürfen."....

2017 kontrollierte die Hamburger Polizei mit 148 Beamten Kreuzungen im Stadtgebiet von sechs bis 22 Uhr. Sie zählten 226 Autofahrer:innen, die bei Rot fuhren und 22 Radfahrer:innen, die das auch taten.

In einer britischen Studie gaben sechs von zehn Radfahrenden an, manchmal rote Ampeln zu überfahren. In Deutschland ist es ähnlich. Wenn man mit dem Rad unterwegs ist, schaut man genau nach rechts und links, ob man gefahrlos queren kann. Radfahrende gefährden zudem meist nur sich selbst, im Gegensatz zu Autofahrenden, die vor allem andere Verkehrsteilnehmer:innen gefährden, wenn sie bei Rot fahren.

Es kommt hinzu, dass Radfahrende sehr viel gefährdeter sind, wenn sie bei Grün fahren. Klingt paradox, ist aber leicht zu erklären. Folgenschwere Abbiegeunfälle sind schuld. Unfallverursachend in den meisten Fällen sind Autofahrer:innen (zu 75 Prozent) oder LKW-Fahrer (zu 80 Prozent)....

2. Straßen sind für Autos gemacht

Stimmt es, dass Straßen für Autos gemacht sind? Straßen gibt es seit tausenden von Jahren, genutzt zu Fuß, mit Karren, Kutschen, Pferden, Bussen, Rädern und Autos. Erst in den letzten sieben, acht Dekaden wurde entschieden, den Autos Vorrang einzuräumen. Straßen kontrollieren nicht uns, wir kontrollieren sie. Wir sind diejenigen, die sie planen und bauen. Wir entscheiden, wie und auf welche Weise wir sie nutzen wollen. Wir machen sie sicher und komfortabel.....

Das Problem ist: Je besser die Auto-Infrastruktur, desto bequemer das Fahren, desto mehr Autoverkehr. 1955 lag die Autodichte in Nordrhein-Westfalen bei 31 PKW pro tausend Einwohner. 2019 waren es bereits 563 PKW pro Tausend Einwohner.

Mittlerweile gibt es bei vielen Planern ein Umdenken, was die Beurteilung von Straßen angeht. Standard ist aber immer noch das bereits angeführte Handbuch, nach dem weiterhin Straßen ausgebaut werden.

Zudem hat sich unsere gesamte Wahrnehmung durch die Zentrierung auf das Auto derart rückgebildet, dass es vielen schwerfällt, sich überhaupt etwas anderes als den brutalen Ist-Zustand vorzustellen. Den meisten Menschen gelingt es nicht einmal, die Benachteiligung von Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen, wahrzunehmen, geschweige denn sich etwas anderes vorzustellen.

3. Es gibt nicht genug Platz für Radwege, ohne dass es zu Stau kommt

In Deutschland ist Autofahren relativ günstig und bequem. Diesel kostet immer noch wesentlich weniger als Normalbenzin. Das Straßensystem ist gut ausgebaut und auf Schnelligkeit angelegt. Kein Wunder, dass viele Menschen Angst davor haben, dieses System zu ändern.

Zumal es logisch scheint, dass, wenn dem Autoverkehr eine Fahrspur genommen wird, die Kapazität der Straße leidet und es zu Staus kommt. Aber beim Verkehr wirkt die Ingenieurskunst anders als gedacht, nämlich kontra-intuitiv.

Man kann den Autos eine Spur nehmen, ohne dass es zu einer signifikanten Geschwindigkeitsreduzierung für die Autofahrer:innen kommt. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass, wenn statt der Autospur eine geschützte Radspur, eine sogenannte protected bike lane, implementiert wird, sich die Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer:innen erhöht, die Geschäfte entlang der Straße profitieren und selbst der Autoverkehr besser läuft.

Je größer der Radverkehrsanteil ist, desto stärker sind die Fahrzeitgewinne für andere Verkehrsarten, auch den Autoverkehr.

Eine gut designte Radinfrastruktur verbessert die gesamte Raumstruktur. Und es gibt einen weiteren positiven Aspekt, den man in Betracht ziehen sollte. Eine Radspur nimmt, um zu geben. Sie gibt den Menschen die Möglichkeit, sich anders zu bewegen. Eine Stadt bietet immer nur sehr begrenzten Raum. Räder und öffentlicher Verkehr bewegen Menschen wesentlich platzsparender und Raum effizienter als Autos.

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4. Radfahrer:innen sind gefährlich

Radfahrer:innen sind gefährlich? Müsse es nicht eher heißen, sie leben gefährlich? Fakt ist: In Deutschland stirbt jeden Tag mindestens ein(e) Radfahrer:in. Jeder siebte Verkehrstote war mit dem Rad unterwegs. Radfahrende legten deutschlandweit rund drei Prozent der Personenkilometer zurück (MiD 2017), stellen aber fünfzehn Prozent der Verkehrstoten (destatis 2020).

Das heißt, das Risiko im Straßenverkehr getötet zu werden, ist für Radfahrende fünfmal höher als im Durchschnitt aller Verkehrsteilnehmenden.....

5. Radfahrer:innen sind selber schuld

Wer zu Fuß und mit dem Rad unterwegs ist, ist meist schuld. Das sogenannte victim blaming kehrt die Täter-Opfer-Beziehung um. Das Opfer wird beschuldigt für die Tat verantwortlich zu sein. Das betrifft Formulierungen wie "trat/fuhr plötzlich zwischen Autos hervor", "war im toten Winkel", "missachtete die Ampel" etc.

Es gibt auch kaum Täter:innen, denn Autofahrer:innen treten selten als Menschen in Erscheinung: "Ein Audi erfasste das Kind auf dem Zebrastreifen", "Der Mercedes übersah die Radfahrerin beim Linksabbiegen", "Der LKW bog rechts ab und überrollte den Radfahrer" etc. Die Presse übernimmt die Polizeiberichte meist eins zu eins und trägt somit zu der Opferbeschuldigung bei.

Unsere Straßen sind weitaus tödlicher als sie es sein müssten. Um das alltägliche Blutbad zu verringern, wäre ein konsequenter Umbau des Straßenraums notwendig, der die Geschwindigkeit der Autos verlangsamt....

6. Radfahrer:innen wollen, dass alle aufhören Auto zu fahren

Man wolle Menschen das Autofahren verleiden, klagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß. In Düsseldorf bringe man die Autofahrer:innen "zum Verzweifeln, um sie so zum Radfahren zu zwingen". Überhaupt wollen die "Radnazis", den Menschen das Autofahren verleiden....

Mobilität wird in Deutschland mit dem Auto gleichgesetzt. Das Auto ist der Standard. Genau dieses Dogma hinterfragen viele Radfahrende. Fakt ist, dass fast die Hälfte aller mit dem PKW zurückgelegten Wege unter fünf Kilometer betragen; jede zehnte Autofahrt ist sogar kürzer als ein Kilometer (vgl. infas 2008).

Diese Zahlen machen deutlich, dass spürbare Teile des Autoverkehrs sich leicht durch Rad- und Fußverkehr ersetzen ließen. Je mehr Menschen mit dem Rad und zu Fuß unterwegs sind, desto besser für Autofahrer:innen, die wirklich auf ein Auto angewiesen sind.

Radwege dürfen natürlich nicht weiterhin im Nirwana enden. Radfahrenden kann es passieren, dass sie unvermittelt auf einer Schnellstraße landen. Das ist so, als ob Autofahrer:innen von der Straße direkt auf die Schiene geleitet würden, wo von hinten ein ICE angerauscht kommt.

Daher ist ein gutes Netz, möglichst aus abgetrennten und geschützten Radwegen, wie es sie in den Niederlanden und auch Dänemark gibt, essenziell, damit man mit dem Rad komfortabler und sicherer unterwegs sein kann. ..

7. Autofahrer:innen zahlen für die Straße, also sollten sie Vorrang haben

Die Kfz-Steuer reicht nicht einmal annähernd dazu, die Kosten für den Erhalt von Straßen und Autobahnen zu decken, geschweige denn neue zu bauen. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen der Kfz-Steuer und bestimmten öffentlichen Aufgaben – Steuern, die durch Autofahrer erbracht werden, werden nicht notwendigerweise für den Straßenbau oder andere autorelevante Bereiche verwendet. Für Steuerausgaben gilt das sogenannte Gesamtdeckungsprinzip.

Alle, auch alle Nicht-Autofahrer:innen, zahlen für Straßen und Autobahnen. Es ist sogar ein überproportional großer Anteil, der für die Infrastruktur von Autofahrer:innen aufgewandt wird. Weder für den Bahnverkehr, noch für die Fahrrad-Infrastruktur, geschweige denn für Fußgänger:innen wird annähernd so viel Geld eingesetzt.

In einer Studie aus dem Jahr 2012 errechneten Verkehrsökonomen der TU Dresden, dass die "je PKW nicht bezahlten Kosten bei ungefähr 2.100 Euro pro Jahr liegen". Sprich: Alle anderen zahlen für Autofahrer:innen mit.......

8. Autofahrer:innen haben Recht!

Wer zahlt, meint daraus das Recht zur Meinungshoheit ableiten zu können. "Wir sind die Melkkuh der Nation", schimpfte FDP-Mann Rainer Brüderle einst, als es um die Einführung der Maut ging. Überhaupt müssen Autofahrer:innen vermeintlich alles zahlen. Da kann man auch erwarten, dass man bevorrechtigt wird und natürlich auch umsonst parken können muss.

Aber nein, es gibt kein Anrecht auf einen Parkplatz im öffentlichen Raum! Und nein, Autofahrer:innen haben nicht mehr Rechte, auch wenn Noch-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer es uns glauben machen will.

Vorrang hat für ihn der schnelle Verkehr. Mit der neuen StVO wird der Vorrang des Kraftverkehrs deutlich zementiert. Eine Maßnahme wie Tempo 30 innerorts lehnt er ab. Wo Radfahrende immerhin noch Erwähnung finden, heißt es für zu Fußgänger aus dem Verkehrsministerium ganz klar:

Die Anliegen zu Fußgängerinnen und Fußgänger sind nachrangig und müssen warten.

Ich frage mich schon, in was für einem Land lebe ich? Gibt es in Deutschland keine einheitliche Rechtsordnung? ....

9. Radfahren ist bloß eine Modeerscheinung

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Dass nachhaltige Mobilität im Umweltverbund (zu Fuß, per Rad und öffentlichem Verkehr) und nicht mit dem Auto stattfindet, ist mittlerweile weiten Teilen der Bevölkerung bewusst.

10. Es gibt einen Krieg gegen das Auto

Der Stadtplaner Brent Toderian stellte kürzlich fest:

Es fällt mir schwer, zu glauben, dass ein Ort, der von Autos abhängig ist, grundsätzlich lebenswert sein soll. Autoabhängigkeit ist ungesund, sie verkürzt unsere Lebensdauer und behindert unser soziales und familiäres Leben.

Das entspricht den Tatsachen. Es wäre gesünder, sozialer, lebenswerter, wenn wir uns nicht vom Auto abhängig machen würden und Mobilität gemeinsam sinnvoll planten, aber bis dahin ist es ein weiter Weg und zunächst provoziert sein Statement Widerstand.....

Jeder Parkplatz der wegfällt, ein Sakrileg! Jede Spur, die für den Radverkehr genommen wird, ein Desaster. Gefühlt werden Autofahrer:innen ausgebremst, gegängelt, gemolken, beschimpft und schlecht behandelt. Nichts weniger als die Freiheit der Menschheit steht auf dem Spiel.

Das mag übertrieben klingen, aber das ist es nicht, denn es gibt eine ganz perfide, emotionale Verknüpfung des Menschen mit seinem Auto.....

Die Verteilung des öffentlichen Raumes zugunsten des Autos ist erdrückend, dennoch sind Autofahrer:innen mit auch nur der geringsten Veränderung ihres vermeintlich bequemen Daseins sofort in heller Aufruhr.

Straßen umzubauen, damit sie sicher werden, ist kein "Krieg gegen das Auto", sondern lediglich eine banale und längst überfällige Maßnahme auf Basis der Erkenntnis, dass es noch andere Verkehrsteilnehmer:innen gibt, denen ein sicherer, angenehmer und lebenswerter Raum zusteht.

11. Menschen brauchen Autos

Was, wenn wir keine Privatautos hätten? Wie würden Menschen dann einkaufen? Wie Möbel transportieren? Wie die Oma zum Arzt bringen?

Das meiste ließe sich gut mit dem Rad erledigen. Es gibt Lastenräder und Anhänger, damit lassen sich problemlos Einkäufe erledigen und Möbel transportieren. Und mit einer Rikscha oder dem Taxi fährt die Oma bequem zum Arzttermin.

Die meisten Strecken liegen ohnehin unter fünf Kilometer; ein Radius, den man am schnellsten und besten mit dem Rad abdeckt.

..Es wird weiterhin Gegenden geben, wo das Auto eine gewichtige Rolle spielt: In dünn besiedelten, ländlichen Räumen. In dicht besiedelten, gut erschlossenen urbanen Räumen jedoch hemmt das Auto die Mobilität enorm.

Dort braucht es intelligentere, effektivere und nachhaltigere Formen der Fortbewegung. Das Rad ist eine davon, neben Bussen und Bahnen und natürlich unseren Füßen. Man darf nicht genötigt sein, ein Auto nutzen zu müssen, sondern muss die Freiheit haben, zu wählen, wie man sich fortbewegt.

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