Fluter hier
Von fiesen Nummern
....Und können wir nach der Pandemie besser mit Zahlen
umgehen?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Philosoph Oliver
Schlaudt darauf Antworten hat
fluter: Inzidenz, Hospitalisierungsrate, exponentielles Wachstum: In den letzten Jahren ging es viel um Zahlen und darum, was sie aussagen. Haben wir in unserem Umgang mit Zahlen dazugelernt?
Oliver Schlaudt: Wir sind heute kompetenter im Umgang mit Zahlen als vor der Pandemie. Am Anfang haben wir all diese neuen Indikatoren kennengelernt, die Orientierung geben sollten. Dann wuchs die Kritik an ihnen. Manche Zahlen verloren an Bedeutung, andere wurden wichtiger. Als klar wurde, dass die Krankheitsverläufe nicht mehr so schlimm sind, spielte die Inzidenz nicht mehr die Hauptrolle, sondern die Zahl der Hospitalisierungen.
Welche Zahlen sind gerade die richtigen? Was drücken sie aus und was nicht? Das Diskussionsklima war in der Pandemie katastrophal. Dennoch gab es eine Art gemeinsamen Lernprozess, und wir haben alle verstanden: Die Objektivität von Zahlen ist oft eine Illusion.
....Zahlen sind mächtig, weil sie Komplexität herunterbrechen. Aber
Komplexität herunterzubrechen bedeutet auch immer die Gefahr, Fehler zu
begünstigen und falsche Entscheidungen zu treffen. Wir müssen immer den
Kontext der Zahlen kennen, um die richtigen Schlüsse aus ihnen zu
ziehen.
Es ist das große utopische Versprechen von Zahlen, dass wir alle
Uneindeutigkeiten ausschließen, alles mit einem Rechner erledigen
können – im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung.
Wenn dem so wäre,
bräuchten wir kein Parlament mehr, keine Politiker.
Zahlen sind in allen sogenannten Hochkulturen präsent. Man denke nur an Kalender, Maße und Zahlenmystiken. Aber es gibt innerhalb der Kulturen immer Zeiten, wo der Zahlengebrauch exzessiv wird. Die Planwirtschaften im Sozialismus sind ein gutes Beispiel dafür, aber auch unsere momentane kapitalistische Gesellschaft, in der die quantitativen Methoden des betriebswirtschaftlichen Managements als Allheilmittel gelten. Aber mächtig waren sie schon immer. Seit sie kurz nach der neolithischen Revolution entstanden sind, lassen sie uns nicht mehr los. Sie begleiten uns und sind unentbehrlich geworden.
Heute anscheinend mehr denn je: von der Anzahl der Follower und Likes in Sozialen Medien bis hin zu Fitness-Apps, die unsere Schritte zählen. Wird die Macht der Zahlen in unserem Leben zu groß?
Diese Entwicklung ist nicht per se schlecht. Es ist ja tatsächlich ein Problem, dass wir uns zu wenig bewegen. Wenn wir also aufgrund einer App 10.000 Schritte am Tag machen, ist das gut. Zum Problem wird es, wenn ich aufgrund der Zahlen persönlich haftbar dafür gemacht werde, dass ich mich nicht genug bewege. Dabei bewege ich mich nicht genug, weil ich Teil der modernen Industriegesellschaft bin – und die ist so eingerichtet, dass wir wenig laufen. Diese Ursache blenden die Zahlen aus. Stattdessen wird mit ihnen an mich als Individuum appelliert, das Problem zu lösen. So kommt es zu einer Entsolidarisierung aufgrund von Daten. In anderen Lebensbereichen – etwa bei der Zahl der Follower – gibt es keine geltende Norm zur Orientierung, sondern nur den Fetisch des Wachstums. Und ich will nicht nur mehr Follower als gestern haben, sondern mehr als andere. Damit zieht der Wettbewerb in alle möglichen Lebensbereiche ein.
Dieses „Mehr, mehr, mehr“ gilt auch weiterhin in
der Wirtschaft. Obwohl jemand, der mit dem Auto einen Schaden
verursacht, mehr zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt als jemand, der
immer Fahrrad fährt und sich nachhaltig verhält. Ist Wachstum immer
noch eine Art Fetisch?
Auf einer gewissen Ebene sehen wir ein, dass es so nicht weitergehen kann. Aber individuell hängen wir dennoch weiter am Wachstum. Es bedeutet Chancen für uns. Es steht für den nächsten Arbeitsvertrag, das nächste Gehalt.
Zerstören wir unsere Lebensgrundlagen nicht eher durch das Wachstum?
Viele VWLer erkennen die Herausforderungen durch den Klimawandel an, aber sie schließen daraus, dass wir unseren Kindern die finanziellen Mittel hinterlassen müssen, um mit den Problemen umzugehen. Wir benötigen Geld für Dämme, um uns gegen steigende Meeresspiegel zu wappnen, oder für neue Technologien. So gesehen wäre eine Abkehr vom Wachstum Selbstmord, weil der Menschheit dann finanzielle Mittel fehlen, um gegen den Klimawandel vorzugehen. Andererseits gäbe es den Klimawandel nicht, wenn wir nicht so wachsen würden. Es geht also um konkurrierende Vorstellungen von Verantwortung. In Zahlen ausgedrückt: 1,5 Grad versus BIP.
Es gibt aber auch Alternativen zum BIP – etwa den „Happy Planet Index“, bei dem Lebenserwartung, Zufriedenheit und ökologischer Fußabdruck einen Wert ergeben. Aber kann man doppelt so glücklich sein wie jemand anders?
Der Happy Planet Index kommt so daher, als wäre er nicht kontrovers. Aber man sieht sofort, dass er eine ganz bestimmte Vorstellung von Glück meint. Menschenrechte etwa oder politische Freiheit spielen keine Rolle. Außerdem lässt man sich damit auf die quantitative Sprache des BIP ein. Mich erinnert das an einen Satz von Erich Kästner. „Dich liebe ich noch einen Zentimeter mehr als das schöne Wetter“, heißt es in einem seiner Kinderbücher.
Müssen wir also noch mehr den Respekt vor Zahlen verlieren?
Den falschen Respekt auf jeden Fall. Wir müssen verstehen, dass Zahlen eine Form von Technik sind. Es sind reine menschliche Instrumente, die wir uns geschaffen haben, um manches besser in den Griff zu bekommen. Was macht die Zahl sichtbar und was nicht? Neben dieser Kernfrage geht es auch um die Transparenz von Messtechniken. Wenn wir ein Fieberthermometer benutzen oder im Supermarkt Obst auf die Waage legen, dann wissen wir, wie die Werte entstehen. Aber bei den Zahlen im politischen Raum – wie etwa dem BIP oder bei Grenzwerten für Chemikalien im Gemüse – sind die Messtechniken oft unsichtbar. Man weiß nicht so genau, wo sie herkommen. Ein kritischer und reflektierter Umgang mit den Zahlen besteht darin, dass wir die Maschinerie sichtbar machen, die die Zahlen hervorbringt.
Ist das nicht oft zu kompliziert? Für Grenzwerte etwa werden über Jahre Studien ausgetauscht.
Aber wir können dennoch verstehen, dass Grenzwerte eine Art Handel sind. Der Grenzwert heißt nicht, dass wir auf der sicheren Seite stehen, sondern dass die Schäden noch nicht übermäßig skandalös sind. Man trifft da auf einen recht zynischen Pragmatismus.
Spätestens angesichts der Milliardensummen am Finanzmarkt haben viele Menschen das Gefühl, dass sie die Entstehung der Zahlen nicht mehr verstehen.
Da treffen wir auf Magie oder besser: Alchemie – im Gegensatz zu einer Praxis, die wir von Grund auf beherrschen. Die Zahlen sind da, sie werden von den Märkten geliefert in Form von Preisen oder Gewinnen. Aber dann kommen die Finanzjongleure und manipulieren dieses System, um eine Zeit lang davon zu profitieren. Und bei jedem Finanzcrash sehen wir, dass es auch für sie eine Blackbox ist. Hier müsste der Staat regulieren, aber der glaubt ja selbst an den Markt und die Preise.
Apropos Staat: In den 1980er-Jahren gab es in Deutschland riesige Proteste gegen die sogenannte Volkszählung. Die Menschen wollten nichts von sich preisgeben. Heute werden Daten freimütig weggegeben an Konzerne und den Staat.
Die meisten Menschen haben mit ihren Daten einen relativ unbefangenen Umgang, weil sie sie als Teil ihrer objektiven Realität akzeptieren. Sie nicht herzugeben hieße fast, einen Teil der Wirklichkeit zu verschleiern oder sogar zu lügen. Mein Verdacht ist, dass es in den Achtzigern ein gesünderes Misstrauen gegenüber Daten gab und den Stellen, die sie sammeln. Es bestand ein größeres Bewusstsein dafür, dass die Daten eben nicht die objektive Realität widerspiegeln, sondern auch Herrschaftsinstrumente sind – zur Domestizierung und Zähmung. In dem Moment, in dem man uns misst, verwandeln wir uns. Man kann uns ausrechnen.
Heißt das, dass wir unpolitischer geworden sind?
Unser komfortables Leben wird durch Zahlen erst möglich. Vieles
funktioniert aufgrund von Algorithmen. Dann zahlen wir eben den Preis
dafür und geben unsere Daten her, damit es so bleibt.
Die Frage ist:
Wogegen haben wir unsere Freiheit eingetauscht? In früheren Epochen
bekamen die Menschen für die Freiheit immerhin so etwas wie Sicherheit –
sie waren als Untertanen von König und Kirche durch diese geschützt.
Das hatte einen großen Wert. Im Vergleich dazu machen wir heute ein
recht schlechtes Tauschgeschäft. Für unsere Daten bekommen wir einen recht kindischen Komfort und drohen unversehens in eine Überwachungsgesellschaft im Wohlfühlmodus zu schlittern.
„Die politischen Zahlen“ heißt das Buch, das Oliver Schlaudt geschrieben hat. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg und arbeitet zu Fragen der Ökonomie, Technik und kulturellen Evolution.
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