Vorsicht, jetzt wird‘s subjektiv. Wer dieser Tage durch Deutschland reist, der spürt, dass es neben den großen Krisen - Corona, Klima und Russlands Krieg gegen die Ukraine - eine weitere Dauerkrise gibt: in Infrastruktur und Mobilität. Unterwegs zwischen Frankfurt, Hamburg, Berlin verfestigt sich der Eindruck: Das Land ist sich selbst nicht mehr gewachsen. Es geht einfach zu viel schief.
Manches grenzt an Realsatire. Zum Beispiel am letzten Montag, früher Abend, im ICE zwischen Hamburg und Berlin. Alles fängt so gut an: Die Bahnstrecke ist frisch renoviert, eingesetzt sind die neuesten Waggons. Nach viel Reisefrust in letzter Zeit lehne ich mich zurück, schaue auf Mecklenburgs grüne Felder und denke: wunderbar, geht doch.
Auf halber Strecke bis Wittenberge meldet sich der Zugchef, leider, leider hätten die Kollegen in Hamburg vergessen, die Frischwassertanks aufzufüllen. Deshalb fielen in etwa der Hälfte der Waggons die Toiletten aus. Kurz vor Berlin meldet der Mann sich wieder, er wisse gar nicht, wie er das jetzt sagen solle, jedenfalls: Jetzt sei das Wasser aufgebraucht, keine Toilette funktioniere mehr. Die neue DB-Crew ab Berlin müsse entscheiden, ob man so überhaupt weiterfahren könne.
So geht es allenthalben. Flieger fallen aus, auf Urlaubsgepäck muss man stundenlang warten, auf Straßen bremsen Dauerbaustellen. Ob bei Dienstreisen oder auf dem Weg in den Urlaub - es läuft nicht rund. Zu wenig Bodenpersonal, keine Fachkräfte, manchmal weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut, flächendeckender Mobilfunk und Internet bleiben ein schöner Wunschtraum. Das sorgt für Unmut und schlechte Laune. "So wie es ist, kann es nicht bleiben", hat Verkehrsminister Volker Wissing diese Woche über die Bahn gesagt. Manchmal hat man das Gefühl, es gilt fürs ganze Land.
Stern hier PODCAST "HEUTE WICHTIG"
ÖPNV-Chaos in Deutschland: Wie Verkehrsminister Volker Wissing die Bahn ausbremst
Im August 2021 stellte der ehemalige CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer medienwirksam einen Plan mit 181 Infrastruktur-Maßnahmen vor, um den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland zu modernisieren. Im Halbstunden-Takt sollten größere Städte miteinander verbunden und Regionen besser vernetzt werden. So weit so gut – das Problem: Keine einzige dieser Maßnahmen wurde seitdem umgesetzt, sagt Dirk Flege. Flege ist Geschäftsführer der "Allianz pro Schiene" und bislang wenig begeistert von der Ampelregierung – erst recht von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing. "Der neue Bundesverkehrsminister Wissing empfindet diesen Zielfahrplan und den Deutschlandtakt als ein Projekt seines Vorgängers. Jetzt überlegen sie im Bundesministerium für Digitales und Verkehr, ob man das nicht vielleicht ganz anders machen könnte. Mit dem Ergebnis, das gar nichts passiert. Jeder erfindet das Rad neu und das ist natürlich Gift für eine langfristige Orientierung", so Dirk Flege in der 300. Ausgabe des Podcasts "heute wichtig".
Ob E-Auto oder ÖPNV: Verkehr braucht ein ganzheitliches Konzept
Die "Allianz pro Schiene" ist ein Verein, der den Schienenverkehr modernisieren und nachhaltiger gestalten möchte. Darin engagieren sich Umweltverbände und Gewerkschaften sowie Fahrgastorganisationen und Unternehmen. Ihr Vorsitzender Dirk Flege plädiert dafür, nicht das E-Auto getrennt von Bus und Bahn zu denken, sondern: "Schritt eins muss sein, ein ganzheitliches Konzept zu entwerfen – wo wollen wir eigentlich mit dem Verkehr in Deutschland hin? Gerne auch mal ganz weit geschaut, bis 2030, 2040."
Der deutsche ICE wird ausgebremst
Dabei müsste man gerade bei der Bahn die Infrastruktur erneuern, denn Deutschland hat ein Trassen-Problem. Beispiele aus anderen Ländern, zeigen, wie es geht, so Flege: "In Frankreich haben die Hochgeschwindigkeitszüge eigene Trassen, da fahren nur die TGVs, hier analog wäre das der ICE. Da ist kein langsamer Güterzug, für den man bremsen muss. Dann sind diese Trassen idealerweise auch eingezäunt, dann haben Sie keine Wildschweine, die Ihnen vor den Zug laufen."
Grundsätzlich ist ein besserer ÖPNV möglich, doch dafür muss parteiunabhängig gearbeitet, und Schienen müssen ausgebaut anstatt zurückgebaut werden. Bundesverkehrsminister Volker Wissing könnte sich beweisen und wichtige Schienen-Bauprojekte anstoßen. Nur die Ergebnisse – die wird man voraussichtlich erst in zehn bis zwanzig Jahren sehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen