Freitag, 8. Juli 2022

„Das Amtsgericht erziehen“ - Junge Umweltaktivisten lehnen die Einstellung ihres Verfahrens ab

Presse-Echo auf die Verhandlung der Klimaaktivisten in Ravensburg in den beiden großen Lokalzeitungen

Südkurier hier  VON MARIO WÖSSNER

In Ravensburg sind zwei junge Erwachsene wegen Diebstahls weggeworfener Lebensmittel angeklagt – so genanntes Containern. Vor Gericht wollen sie ihre Unschuld beweisen, fallen aber auch mit einer provokanten Aktion auf.

Der 19-jährige Samuel Bosch sitzt als Angeklagter in Saal 8 des Amtsgerichts Ravensburg. Er blickt von seinen vor ihm ausgebreiteten Unterlagen auf und sagt zu Richterin Angelika Schneider: „Nein, das wollen wir nicht annehmen.“ Schneider hatte ihm und der ebenfalls angeklagten 20-jährigen Laura, genannt Charlie, Kiehne gerade die Einstellung des Verfahrens wegen Diebstahls angeboten. „Wir wollen stattdessen beweisen, dass wir unschuldig sind“, erklären die beiden Aktivisten. Vor der Verhandlung kündigten sie bereits an: „Wir wollen das Amtsgericht ein bisschen erziehen.“ Eine Situation, die im Gerichtsaal wohl eher selten vorkommt.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar dieses Jahres ruft ein Mitarbeiter des Burger-Kings in der Ettishofer Straße in Weingarten die Polizei, da zwei Menschen auf dem Müllcontainer des gegenüberliegenden Lidl herumgeklettert sein sollen. Der Zeuge kann den Polizisten auch den Wagen der beiden beschreiben. Als der Wagen zufällig erneut vorbeifährt, folgen die Polizisten und halten ihn an. Im Auto sitzen Samuel Bosch und Charlie Kiehne.

Samuel Bosch und Charlie Kiehne bezeichnen sich selbst als politische Vollzeit-Aktivisten und leben seit etwa einem Jahr in einem Baumhaus im besetzten Altdorfer Wald. „Wir setzen uns durch verschiedene Aktionen zu den Themen Mobilität, Umwelt oder Lebensmittel- und Ressourcenverschwendung für die Rettung des Klimas ein“, erzählt Bosch kurz vor der Gerichtsverhandlung. Die beiden klettern auf Bäume, hängen Banner auf und verteilen kostenlose Lebensmittel. Studieren, glaubt der 19-jährige Bosch, könne er auch noch, wenn die Klimakrise gelöst ist.

In jener Februarnacht finden die Beamten im Kofferraum des Autos Lebensmittel, mehrere Kisten und einen Einkaufswagen. Das wird einer der Polizisten später auch vor Gericht aussagen. Einige der Lebensmittel konnten umliegenden Supermärkten zugeordnet werden, das Verfallsdatum war überschritten. 

Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Bosch und Kiehne lautet: gemeinschaftlicher Diebstahl

Angeklagte schon mehrfach vor Gericht

Vor Gericht vertreten sich die beiden selbst. Sie haben mehrere Argumentationsketten und Beweisanträge vorbereitet, Unterlagen und Laptop dabei. „Wir haben uns im Vorfeld mit einem Anwalt beraten, aber wir kennen uns bei den Paragrafen, die uns selbst öfter betreffen, inzwischen gut aus“, berichtet Aktivist Bosch von früheren Erfahrungen vor Gericht. Diese Erfahrung merkt man den beiden an. Sie wirken vor Verhandlungsbeginn keineswegs aufgeregt, eher ruhig und entspannt. Sie lachen sogar viel. „Wir sehen das auch als Chance, um die Aufmerksamkeit auf das Thema Lebensmittelverschwendung zu lenken“, erklären sie ihre Vorfreude.

Die Angeklagten hatten daher auch im Vorfeld des Prozesses mit Pressemitteilungen darauf aufmerksam gemacht. Ihr Ziel: Ein Essenretten-Gesetz, das das Wegwerfen von Lebensmittel für Supermärkte verbietet und Containern legalisiert. „Die großen Märkte müssen gezwungen werden, diese Lebensmittel an soziale Einrichtungen weiterzugeben“, sagen sie. „Es sei verrückt, dass Steuergelder darauf verschwendet werden, einen sinnfreien Prozess wegen des Diebstahls von Müll zu führen“, so Charlie Kiehne vor der Verhandlung.

Die Lebensmittel hätten für die Supermärkte schließlich keinen Wert mehr. Rund ein Drittel aller Lebensmittel würde im Müll landen, so die beiden Angeklagten. Alleine in Deutschland seien es etwa zwölf Millionen Tonnen jährlich, was auch das Umweltbundesamt bestätigt. Weltweit würden laut Welthandelsorganisation rund 828 Millionen Menschen hungern, verlesen die beiden kurz darauf im Saal ein vorbereitetes Statement.

Laut Weiss kommen die Tatbestände des Hausfriedensbruchs gemäß Paragraf 123, des Diebstahls gemäß Paragraf 242 sowie Diebstahls geringwertiger Sachen und des Diebstahls im besonders schweren Fall gemäß Paragraf 242 und 243 des Strafgesetzbuches in Frage. Unter 50 Euro Warenwert seien es geringwertige Sachen. „Hausfriedensbruch wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, Diebstahl mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe und Diebstahl im besonders schweren Fall mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren“, gibt Weiss Auskunft. Ob und welche Strafe verhängt wird, hänge von der Beurteilung der Umstände des Einzelfalls ab. Häufig komme eine Einstellung wegen Geringfügigkeit in Betracht kommt.

Kann die Staatsanwaltschaft den Diebstahl beweisen?

Unabhängig von der politischen Botschaft der beiden Umweltschützer, Containern zu legalisieren, wollen sie im Gericht beweisen, dass sie genau das gar nicht getan haben. Sie empfinden es als ein „Unding“ und „fast schon skandalös“, dass die Staatsanwaltschaft sie ohne ausreichende Beweise anklage. Dabei hätten sie laut Strafbefehl lediglich eine Verwarnung bekommen sollen, keine Geldstrafe. Den lehnten sie jedoch ab, sie wollten vor Gericht, um ihre Unschuld zu beweisen.

Daher stellen die beiden Angeklagten dort mehrere Beweisanträge, wollen eine Tatortbegehung, weitere Zeugen vorladen und Quellen zur legalen Lebensmittelbeschaffung aufzeigen. Das Gericht wird sich nun erneut mit dem Fall beschäftigen müssen – und zwar am 28. Juli. Denn bis dahin vertagt Richterin Angelika Schneider den Prozess schließlich, um in Ruhe alle Anträge der Aktivisten prüfen zu können.

Aktivisten verteilen „gerettete“ Lebensmittel vor dem Gericht

Doch auch die Staatsanwaltschaft hätte der Verfahrenseinstellung ohnehin nicht zugestimmt – wegen fehlender Läuterung bei den Aktivisten. Ein Anzeichen dafür, steht direkt gegenüber des Gerichtsgebäudes: ein kleiner Stand. Es gibt grüne Gurken mit braunen Schrammen, nicht mehr ganz frische Bananen, altes Brot und sogar eine Flasche Wein. Bosch und Kiehne verteilen dort gemeinsam mit Unterstützern erneut Lebensmittel – laut eigener Aussage wurden die „aus Containern gerettet“.


Schwäbische Zeitung hier  Bernd Adler  vom 7.7.22

Ravensburger „Lebensmittelretter“ stehen wegen Diebstahls vor Gericht

Selbst nennen sie sich Lebensmittelretter. Der Staat hält sie für Diebe. Zwei junge Leute standen am Donnerstag vor dem Ravensburger Amtsgericht. Der Vorwurf: Sie sollen aus Abfallcontainern von Supermärkten und Bäckereien abgelaufene, weggeworfene Waren mitgenommen haben, um sie zu verschenken.

Charlie Kiehne (20) und Samuel Bosch (19) stehen vor Gericht. Sie sind mit der Nennung ihres Namens in der Presse ausdrücklich einverstanden. Begleitet wurde die Verhandlung von einer Solidaritätsveranstaltung neben dem Amtsgericht in der Herrenstraße. Außer Bannern und Tafeln gab es dort Frischkäse, Gurken und Zucchini für umsonst. Gedacht als „Mahnwache“ gegen Lebensmittelverschwendung.

Essbares Essen landet im Müll

Auch diese Ware soll vom „Containern“ stammen, das lässt sich aber nicht belegen. „Containern“ ist das Mitnehmen weggeworfener Waren aus Supermarkt-Abfallbehältern. Häufig landet dieses Essen im Müll, weil das aufgeprägte Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist und das Produkt daher nicht mehr verkauft werden kann. „Containern“ tun nicht nur Obdachlose oder Menschen mit sehr wenig Geld. Vielfach sind auch Aktivistinnen und Aktivisten dabei, die damit ihren Protest gegen Lebensmittelverschwendung demonstrieren wollen.

Charlie Kiehne und Samuel Bosch geht es um Protest. Bosch verwies vor Gericht darauf, dass laut Statistiken ein Drittel aller Lebensmittel in Deutschland im Müll landet. Kiehne ergänzte, dass hingegen nach aktuellen Angaben der Weltgesundheitsorganisation 828 Millionen Erdenbürger an Hunger leiden. Angaben zur Sache, also der Anklage, wollten beide nicht machen.

Polizei stoppte offenbar die Aktivisten

Die beiden Angeklagten, so das Gericht, sollen nachts auf einem Lidl-Markt in Weingarten nach Angaben eines Augenzeugen beim „Containern“ gesehen worden sein. Die alarmierte Polizei stoppte kurz danach einen VW Caddy, der mit Essen, aber auch Verpackungskisten und einem Einkaufswagen befüllt war. Nur zum Teil ließ sich aufgrund der Aufdrucke der Ware nachweisen, woher sie stammte.

Keiner der betroffenen Discounter oder Bäckereien stellte Strafanzeige. Denn das Zeug, das vielleicht mitgenommen wurde, war ohnehin Müll, für dessen Entsorgung sie hätten Geld bezahlen müssen. Die Anzeige übernahm daher die Staatsanwaltschaft. Wobei die Richterin am Amtsgericht sagte, der „Unrechtsgehalt“ sei in diesem Fall im „unteren Bereich“, eine große Schwere der Schuld nicht erkennbar. Sie schlug daher vor, das Verfahren einzustellen.

Angeklagte wollen einen Freispruch

Dagegen wehrten sich die Angeklagten. „Wir wollen freigesprochen werden“, sagte Samuel Bosch. Charlie Kiehne ergänzte, dass sie lediglich in einem Auto mit Lebensmitteln saßen, als die Polizei sie stoppte. Der Nachweis eines Diebstahls sei nicht vorhanden. Der Augenzeuge war krankheitsbedingt nicht bei der Verhandlung dabei. Die Angeklagten stellten zahllose Beweisanträge, daher wurde der Prozess vertagt.

Auch wenn Samuel Bosch und Charlie Kiehne vor der Justiz argumentierten, ihnen sei nichts Illegales nachzuweisen, veröffentlichten die Aktivisten kurz vor der Verhandlung eine Mitteilung, in der es heißt: „Trotz des Risikos, strafrechtlich verfolgt zu werden, gehen wir weiterhin containern. Wir können nicht weiter tatenlos mit ansehen, dass gute Lebensmittel im Müll landen, anstatt gegessen zu werden. Es wird Zeit, dass nicht das Retten von Lebensmitteln bestraft wird, sondern dass Konzerne noch haltbare und genießbare Lebensmittel wegschmeißen.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen