Samstag, 30. Juli 2022

Anliegen Liberalismus

Süddeutsche Zeitung hier   29. Juli 2022,Kolumne von Carolin Emcke

Die FDP ist nicht ernst zu nehmen

Krieg und Klimakrise: Es sind existenzielle Zeiten für Freiheitsfragen. Ausgerechnet die Partei, die sie sich auf die Fahnen geschrieben hat, macht sich nicht einmal die Mühe, nach echten Antworten zu suchen.

"Freiheit ist ein anspruchsvolles Konzept", schreibt der Rechtsphilosoph Christoph Möllers in seinem Essay "Freiheitsgrade", "weil es zu jeder Praxis der Freiheit gehört, sich über ihren Begriff nicht einig zu werden." Mal angenommen, die FDP verstünde sich wirklich als liberale Partei. Mal angenommen, sie wollte tatsächlich einen programmatischen Kern bewahren (oder entwickeln), die Idee eines politischen Liberalismus für das 21. Jahrhundert, aus der heraus sich ihre Überzeugungen begründen lassen. Das wird vielerorts bezweifelt und belächelt, spätestens seit Christian Lindner den Vorsitz übernommen hat, aber es lohnt sich, diesen behaupteten Anspruch einmal ernst zu nehmen und sich zu fragen, was das bedeuten könnte, ein Liberalismus der Gegenwart. Worauf sich der Begriff der Freiheit beziehen ließe oder müsste, wen oder was sie beschützen will, welcher Institutionen und Rechte sie dafür bedarf?

Eigentlich könnten die Zeiten nicht günstiger sein für eine Partei, die im Begriff der Freiheit ihr normatives Zentrum verortet. Es sind gleich zwei Krisen, die Klimakatastrophe und Wladimir Putins autoritäre und imperiale Ambitionen, die beide, auf unterschiedliche Art und Weise, zur Reflektion über die Freiheit drängen, ja, die eine substanzielle Vertiefung und Erweiterung des Begriffs der Freiheit herausfordern. Beide historische Erschütterungen enthalten gute Gründe, die sich Liberale zu eigen machen könnten, wenn sie es denn ernst meinten.

Zunächst lieferte das Bundesverfassungsgericht 2021 mit seinem Urteil zu den Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz eine historische Vorlage, die auf spektakuläre Weise die Bedeutung grundrechtlicher Freiheit jüngerer Generationen anerkannte. Wer wirksamen Klimaschutz verzögere, wer die Last der Treibhausgas-Minderungen in die Zukunft verlagere, so das Argument, schade nicht nur dem Klima, sondern gefährde die Freiheitsrechte der nächsten Generation. Die Begründung des Gerichts war so triftig wie niederschmetternd: Es sei absehbar, dass zu kurzfristige oder geringe Maßnahmen zum Klimaschutz dazu führten, dass die jüngere Generation zu derart radikalen Emissionsminderungspflichten genötigt würde, die "praktisch jegliche Freiheit" beträfen. Die nächste Generation müsste sich dann nicht mehr nur ein bisschen hier und da einschränken, sondern sie würde in ihrer Lebensweise so dramatisch beschnitten, dass es ihre grundrechtliche Freiheit bedrohte. Was sonst eher als Gerechtigkeit zwischen den Generationen definiert wurde, war hier als Frage der existenziellen Freiheitsrechte formuliert worden.

Wer auch in Zukunft Autonomie genießen will, muss den Klimaschutz vorantreiben

Das Verfassungsgerichtsurteil entzog damit der vulgär-populistischen Formel, wonach staatliche Regelungen zur Begrenzung des Klimawandels nurmehr ideologische Gängelung und spaßbremsende Repression seien, die Grundlage und kehrte sie um: Klimaschutz und Freiheit stellen demnach keinen Gegensatz dar, sondern bedingen und verpflichten einander. Wer auch in Zukunft Freude am Leben haben und seine Autonomie genießen will, muss den Klimaschutz vorantreiben. Für die FDP hätte das eine Einladung sein können, sich von der autodestruktiven Verengung auf jenen entpolitisierten Liberalismus zu verabschieden, der sich allein auf die Verteidigung individueller Rechte (und Privilegien) eines als Mitte verklärten Milieus beschränkt. Das Urteil hätte die FDP nutzen können, um sich das Thema der ökologischen Transformation anzueignen und als ureigenste liberale Agenda mit Leidenschaft und Dringlichkeit voranzutreiben.

Es hätte allerdings verlangt, politisches Handeln in längeren Zeitachsen zu denken. Das hätte schon eine der Lehren aus der Pandemie sein müssen: Zeit als existenzielle Währung zu begreifen. Das eint die Krise der Pandemie und die Klimakrise, dass sie den eigenen Handlungsspielraum in "Wenn-dann"-Funktionen beschreiben lassen: Wenn die und die Maßnahme unterlassen wird, dann wird vermutlich in diesem zeitlichen Abstand Folgendes eintreten. Schon bei der Pandemie zeigte sich der eigentliche Konflikt nicht zwischen Freiheitsverächtern und Freiheitsbeschützern, sondern zwischen denen, die langfristige Modellierungen und Details denken wollen oder denen, die das nicht wollen.

Nun beweist der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine gerade auf fürchterlichste Art und Weise wie die systematische Verschleppung und Verhinderung der Energiewende mitten in die unfreie Erpressbarkeit geführt haben. Die späte Einsicht, Energieversorgung als sicherheitsrelevante Infrastruktur zu erkennen, wird ökonomisch und sozial brutal, aber es ist politisch auch eine Be-Freiung von der fahrlässigen Nähe zu einem menschenverachtenden, autokratischen Regime, das systematisch demokratische Gesellschaften in Europa zu unterwandern und zu spalten versucht.

Das ewig wiederholte, pathetische Mantra von "unserer Freiheit", die in der Ukraine verteidigt würde, ist schon deswegen euphemistisch, weil in der Ukraine gelitten und gestorben wird, sie verteidigen nicht "unsere" Freiheit, sondern ihr blankes Überleben, sie wehren sich gegen Unterdrückung und Vernichtung. Aber es stimmt trotzdem, dass Putin auch getrieben ist von der Verachtung all dessen, was offene Demokratien ausmacht: Rechtsstaatlichkeit, eine unabhängige Presse und kritische Opposition und der Respekt vor Pluralität. Die individuellen oder kollektiven Freiheiten von religiösen oder kulturellen Minderheiten sind ihm nichts als abnorme, perverse Symptome der degenerierten westlichen Welt.

Auch das wäre eine Aufgabe für eine liberale Partei, in der autoritären, neovölkischen Ideologie des russischen Regimes die größte Gefahr für existenzielle Freiheiten auszumachen und politisch alles, wirklich alles zu wagen, was nötig ist, um sie zu schützen. Wenn man sieht, mit welch orthodoxer Verklemmung die Partei an ihrem Widerstand gegen ein Tempolimit festhält oder wie die Schuldenbremse zunehmend irrational sakralisiert wird, dann drängt sich Zweifel auf, wie unverhandelbar, wie existenziell die Sehnsucht nach Freiheit der Liberalen wirklich ausgeprägt ist.


Carolin Emcke, Jahrgang 1967, ist Autorin und Publizistin. Im Jahr 2016 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Alle Kolumnen von ihr lesen Sie hier.

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