Mittwoch, 2. Oktober 2024

Putin hat das Undenkbare getan: Cyberattacken, Propagandakanäle, Trollfarmen, Botnetzwerke, Finanzierung von Journalisten oder Influencern....

"Augen zu und durch" nützt leider nichts, unsere Gesellschaft zerfällt zusehends. Und wenn man dann beginnt zu begreifen, dass diese Entwicklung auch noch bewusst ferngesteuert wurde, dann fällt man wohl erst mal vollends vom Glauben an das Gute im Menschen ab. Was können wir tun?

hier   InterviewVon Jonas Mueller-TöweMarc von Lüpke  27.09.2024

Russischer Informationskrieg: "Ein unglaubliches Dokument"

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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Russland beeinflusst Wahlen in Deutschland und verzerrt die öffentliche Debatte. Zwei Experten warnen vor der verdeckten Einflussnahme. Die Bundesregierung reagiere zu verhalten auf die Bedrohung.

Die russische Armee attackiert die Ukraine, aber auch gegen Deutschland ist das Kremlregime aktiv. Denn Russland führt einen Informationskrieg, Deutschland ist in nie gekannter Intensität russischen Einflusskampagnen ausgesetzt. Wie manipuliert der Kreml mit Milliardenbudgets die öffentliche Meinung in den sozialen Netzwerken? Warum ist Deutschland "Zielscheibe Nummer eins" in Russlands Informationskrieg? Und was müsste nun getan werden?

Diese Fragen beantworten Arndt Freytag von Loringhoven und Leon Erlenhorst im folgenden Gespräch. Freytag-Loringhoven ist ehemaliger Top-Diplomat und Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes, Leon Erlenhorst Propagandaexperte. Gemeinsam haben sie gerade das Buch "Putins Angriff auf Deutschland" veröffentlicht.

t-online: Herr Freytag-Loringhoven, Herr Erlenhorst, Russland attackiert die Ukraine mit Waffengewalt, auf Deutschland hat es Wladimir Putin in einem Informationskrieg abgesehen. Welche Mittel setzt Russland gegen uns ein?

Arndt Freytag von Loringhoven: Es geht um hybride Bedrohungen, um Desinformation, Propaganda und Cyberattacken. Deutschland ist in Putins Fadenkreuz.

Was will das russische Regime erreichen?

Leon Erlenhorst: Grundsätzlich will Putin die öffentliche Meinung in Deutschland beeinflussen und produktiven, gesellschaftlichen Diskurs verhindern. Darüber hinaus sollen die Maßnahmen Misstrauen gegenüber der Politik, dem Staat und den traditionellen Medien schüren. Das ist auch mit konkreten Zielen verbunden, etwa der Entsolidarisierung der deutschen Bevölkerung mit der Ukraine und der Stärkung extremistischer Kräfte.

Freytag-Loringhoven: Wichtig ist Russland die Verbreitung bestimmter Narrative, vor allem um die Waffenhilfe für die Ukraine zu unterminieren. Dann existiert ein weiterer Bereich der russischen Desinformation, in dem der Inhalt eher sekundär ist: Er dient vor allem dem Ziel, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören, uns zu verwirren und zu verunsichern und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu untergraben. Ob die Migrationskrise, die Corona-Pandemie, die Stärkung extremistischer Gruppen, AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht, oder die Kriege in Gaza wie gegen die Ukraine: Der Kreml nutzt viele Hebel in Deutschland.

Lässt sich ungefähr bemessen, wie erfolgreich Russland in seinem Krieg der Desinformation gegen Deutschland ist? In Ihrem gemeinsamen Buch beschreiben Sie vielfältige Maßnahmen.

Erlenhorst: Grundsätzlich müssen wir verstehen, dass der digitale Angriff nicht direkt, sondern subtil und längerfristig auf Menschen wirkt. Es ist wie radioaktive Strahlung: Sie schädigt unseren Organismus, aber wir bemerken es erst, wenn die Symptome der Strahlenkrankheit auftreten. Trotzdem gibt es messbare Effekte, die der russische Informationskrieg gegen Deutschland bewirkt.

Arndt Freytag von Loringhoven, Jahrgang 1956, ist Diplomat im Ruhestand und war deutscher Botschafter in Tschechien und Polen. Freytag-Loringhoven fungierte zudem als Vizepräsident des BND und Beigeordneter Generalsekretär der Nato für geheimdienstliche Zusammenarbeit. Heute ist er Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. 

Leon Erlenhorst, Jahrgang 1996, studierte Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen. Erlenhorst beschäftigt sich seit langer Zeit mit der Funktionsweise von Propaganda. Zusammen mit Arndt Freytag von Loringhoven hat er gerade das Buch "Putins Angriff auf Deutschland. Desinformation, Propaganda, Cyberattacken" veröffentlicht.

Haben Sie ein Beispiel?

Erlenhorst: Bestimmte prorussische Verschwörungsmythen verfangen offenbar in der deutschen Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Behauptung, dass die Nato Russland so lange provoziert habe, bis Russland in den Krieg ziehen musste. Ein Jahr nach der russischen Vollinvasion der Ukraine 2022 ist die Zustimmung zu dieser Aussage in Deutschland um zehn Prozent gestiegen – ohne irgendeine Beweiskraft dafür in der Realität. Ein weiteres Beispiel ist die Corona-Pandemie. Hier muss man sagen: Desinformation tötet. Auch die Corona-Leugner landeten auf der Intensivstation.

Freytag-Loringhoven: Die Intensivierung von russischer Propaganda ließ sich in klassischen Medien, aber vor allem auch in sozialen Netzwerken beobachten. Ist das nun Zufall? Wohl eher nicht. Vor allem nicht, wenn man die Summen betrachtet, die Russland in die Manipulation der öffentlichen Meinung in westlichen Gesellschaften investiert.

Können Sie eine Zahl nennen?

Freytag-Loringhoven: Das lässt sich Russland eine Menge kosten. Das Kremlregime investiert laut Schätzungen von Experten mehrere Milliarden Euro jährlich in den Informationskrieg.

Mit welchem Betrag hält Deutschland dagegen?

Freytag-Loringhoven: Das ist sehr, sehr viel weniger. Es gibt verschiedene Budgets zur Bekämpfung von Desinformation, dasjenige des Auswärtigen Amtes beträgt derzeit zwölf Millionen Euro im Jahr.

Das nimmt sich bescheiden aus angesichts der Bedrohung.

Erlenhorst: So ist es auch. Allerdings gelingen durchaus Erfolge. Anfang 2024 entlarvte das Auswärtige Amt auf X ein Netzwerk von mehr als 50.000 Fake-Accounts, das viele Millionen Tweets in deutscher Sprache absetzte, um den ohnehin schon großen Unmut über die Ampelkoalition weiter zu schüren. Ableger desselben Netzwerkes sind leider nach wie vor aktiv, gerade im Vorfeld der diesjährigen Wahlen.

Wie geht Russland vor? Gibt es Zielvorgaben?

Erlenhorst: Der Informationskrieg wird vom Kreml zentral gesteuert. Dort werden Vorgaben gemacht. Etwa, dass die Republikaner in den USA von der Waffenhilfe für die Ukraine abgebracht werden müssen, oder dass das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in die Regierung von Wolodymyr Selenskyj sinken soll. Mitte 2022 erteilte Putins Oberpropagandist, Sergei Kirijenko, den Auftrag, die Zahl der Deutschen, die für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind, um zehn Prozent zu steigern. Diese Ziele werden politisch vorgegeben, dann gibt es Stäbe im Kreml, die sie weiter ausarbeiten.

Und dann?

Erlenhorst: Dann übernehmen kommerzielle russische Firmen oder die Geheimdienste die Umsetzung der Vorgaben. Dabei wird auf die ganze Palette der hybriden Kriegsführung zugegriffen. Cyberattacken, Propaganda mit wahren und unwahren Mitteilungen, Trollfarmen, Botnetzwerke, Finanzierung von Journalisten oder Influencern und so weiter.

Freytag-Loringhoven: Ergebnis war ein dreiseitiges "Manifest" zur Stärkung der AfD, das uns vorliegt. Es ist ein unglaubliches Dokument, ein einzigartiger Beleg für die versuchte Einflussnahme durch eine ausländische Macht.

Erlenhorst: Das "Manifest" ist eine detaillierte Propagandastrategie für eine Machtübernahme in Deutschland durch die AfD. Wir erkennen daran, wie weit die Bemühungen in Russland reichen und wie man im Kreml denkt.

Gibt es eine Art Arbeitsteilung innerhalb der Desinformation?

Freytag-Loringhoven: Die russischen Geheimdienste GRU, SWR und FSB sind vor allem für Cyber- und physische Angriffe zuständig. Privatwirtschaftliche Unternehmen sind auf die Manipulation von Informationen spezialisiert, besonders die Social Design Agency und Structura sind hier führend.


Erlenhorst: Diese Firmen arbeiten nach westlichen Unternehmensstandards, haben Zielvorgaben und Schlüsselkennzahlen, sogenannte Key Performance Indicators, nach denen ihr Erfolg durch Einsatz etwa von Bots und Trollfarmen beurteilt wird. Ihr Geschäft ist die professionalisierte Manipulation von Informationsräumen. So wie bei der "Doppelgänger"-Kampagne, bei der westliche Nachrichtenseiten mit Falschinhalten nachgebaut werden, um die Meinung zu manipulieren und letztlich auch Datengrundlagen von ChatGPT und anderer Chatbots zu korrumpieren.

Der Sender RT, das frühere Russia Today, ist als eines der Hauptpropagandainstrumente des Kremls in der Europäischen Union verboten. Hat Russland andere Wege gefunden?

Freytag-Loringhoven: RT ist, wie Sie richtig sagen, in der EU verboten, aber in anderen Ländern der Welt ist es nach wie vor einflussreich. Auch in Europa haben die Aktivitäten russischer Staatsmedien keineswegs aufgehört, sondern sich lediglich in alternative Medien verlagert.
So verbreitet die in Deutschland geborene Alina Lipp etwa auf dem Nachrichtendienst Telegram eifrig Putin-Propaganda. Wer RT verfolgen will, kann das jederzeit mittels technischer Hilfsmittel aus Deutschland tun. Wir beide machen das auch, allerdings aus Recherchegründen.

Die Sperrung der Sender RT und Sputnik ließ gleich Kritik aufkommen, die Rede ist von Zensur. Was halten Sie davon?

Freytag-Loringhoven: Zensur? Ein Verbot derartiger Inhalte hat nichts mit Zensur zu tun. RT bezeichnet sich selbst als "Waffe im Informationskrieg". Der Sender ist ein politisches Instrument des Kremls, kein Nachrichtenmedium. US-Außenminister Anthony Blinken hat RT als verlängerten Arm des russischen Geheimdienstes bezeichnet. Wir müssen uns vor Manipulation schützen, das sollten wir Putin nicht durchgehen lassen. Gerade wir in Deutschland nicht, denn wir sind Russlands Hauptangriffsziel im Informationskrieg.

Wie ernst nimmt Russland Deutschland?

Freytag-Loringhoven: Russland nimmt uns sehr ernst. Der Kreml betrachtet Deutschland als Nährboden für russischen Einfluss in Europa, die Bundesrepublik hat enormes politisches und wirtschaftliches Gewicht. Das russische Verhältnis zu Deutschland war ohnehin schon immer eng. Putin selbst spricht ausgezeichnetes Deutsch und hat mehrere Jahre in der DDR gelebt, wo er für den KGB arbeitete.

Die deutsche Politik hat lange Zeit ignoriert, dass Russland unter Putin einen aggressiven und revanchistischen Kurs eingeschlagen hat. Woran lag das?

Freytag-Loringhoven: Ich denke, wir hatten weniger ein Wissens- als ein Umsetzungsproblem. Viele Experten – im BND, in Thinktanks und Wissenschaft – haben die Entwicklung in Russland meist zutreffend eingeschätzt, in Osteuropa sowieso. Aber die deutsche Politik war gefangen in einem Stabilitätsdenken, wir konnten uns nicht vorstellen, dass Putin daraus ausbricht. Allerdings: Disruptive Schritte haben die wenigsten vorausgesehen. Damit waren wir allerdings im Westen nicht allein.

Was meinen Sie damit?

Freytag-Loringhoven: Die russische Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 war ebenso nicht vorhergesehen worden wie der Jahre zuvor erfolgte Bruch des INF-Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme durch Russland. Die Amerikaner waren da weiter, sie verfügen allerdings auch über ganz andere Mittel der Aufklärung.

Russland gebärdet sich seit Jahrzehnten aggressiv, gleichwohl setzten die verschiedenen Bundesregierungen ungebremst auf Kooperation und Verflechtung. War man naiv?

Freytag-Loringhoven: Die Politik hat nicht die notwendigen Schlüsse aus der wachsenden Bedrohungslage gezogen. Sie war auf Stabilität und Verflechtung mit Russland ausgerichtet. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass Putin alles aufs Spiel setzt, einen Großangriff auf die Ukraine unternimmt und damit das gesamte Beziehungsgeflecht und die Stabilität Europas über den Haufen schmeißt. Aber Putin hat das Undenkbare getan.

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