Krautreporter hier Rico Grimm 11.10.2024
Nach den verheerenden Wahlniederlagen der Grünen suchen die Partei und ihre Anhänger nach einem Ausweg. Den gibt es – er ist aber nicht einfach zu verdauen.
Jede Partei hat einen historischen Auftrag. Hätte sie keinen, wäre sie niemals eine Partei geworden. Ob sie groß und mächtig wird, hängt davon ab, wie ihr historischer Auftrag beschaffen ist.
Die CDU zum Beispiel musste in den Gründungsjahren der BRD Hunderttausende alte Nazis mit der jungen Republik versöhnen und diese Republik dann in die NATO führen. Die CDU war die Stadtführerin Deutschlands auf dem langen Weg nach Westen. Das war ein großer Auftrag. Die CDU wurde eine große Partei, eine Volkspartei.
Auftrag der SPD wiederum war es, die sich neu formierende Klasse der Arbeiter:innen im 19. Jahrhundert und Teile des kleinstädtischen Bürgertums im 20. Jahrhundert in der Mitte der kapitalistisch-liberalen Ordnung zu verankern. Auch ein großer Auftrag.
Die Grünen führten ein anderes Milieu durch die Institutionen, in die Zentren der Macht; Teile der rebellischen 68er-Jugend und all jene, die in den 1980er Jahren Unbehagen spürten bei atomarer Rüstung, Umweltzerstörung und später auch wegen der Erderwärmung. Die Klimakatastrophe zu stoppen, ist ihr Auftrag.
Aber kann der eine Volkspartei hervorbringen? Wirklich?
Der Unterschied zwischen SPD und CDU auf der einen und den Grünen auf der anderen Seite ist eklatant. Die SPD und CDU haben ihren Auftrag weitestgehend erfüllt. (Das erklärt auch die seltsame Blutleere dieser ehemals raumgreifenden Parteien.) Die Grünen hingegen haben ihren Auftrag nicht erfüllt. Die Erde erwärmt sich weiter, die Umwelt wird rasend schnell zerstört. Nur die AKWs sind abgeschaltet, was sich aber klimapolitisch als Scheinsieg herausstellte.
SPD und CDU verwalten das Land, die Macht und ihr Erbe. Die viel jüngeren Grünen wollen all das überhaupt erst einmal erreichen.
Ähnlich wie die AfD spielen sie im deutschen Parteiensystem die Rolle einer aktiven Kraft, die mit dem Land noch etwas vorhat. Wer nach Gründen sucht, warum die Grünen wie keine zweite Partei als perfektes Feindbild taugen, findet sie hier. Grüne Politik fordert von allen Veränderung ein. Die Politik ihres natürlichen Gegenpols, der AfD, fordert von allen nichts ein.
Aber zu billig wäre es, das von grünen Anhängern so beschriebene „Grünen-Bashing“ der Partei allein auf ihren unfertigen historischen Auftrag zurückzuführen, der den Menschen etwas abverlangt.
Die Partei macht zum Teil eklatante Fehler und suhlt sich anschließend in diesen Fehlern. Es ist das eine, der politischen Opposition mit einem kommunikativ verkorksten Heizgesetz Futter für die rüdesten Kampagnen zu geben. Es ist das andere, sich danach nicht wieder aufzurichten, abzuputzen und unverdrossen weiterzumachen. Einer CDU wäre das nicht passiert.
Allerdings, die vermeintlich historische Krise, in der sich die Grünen nach vier vernichtenden Wahlen in Europa, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg befinden, ist keine Folge dieser Fehler oder des vergeigten Heizgesetzes.
Nicht nur die deutschen Grünen haben Probleme
Jede Partei hat einen historischen Auftrag, und der Auftrag der Grünen lässt die Menschen kalt. Die jetzige Krise der Grünen ist eine Krise des Klimaschutzes, ihres aktuell wichtigsten politischen Themas. Diese Krise hat die Partei auch nicht exklusiv, was Futter für genau diese These liefert: Die Partei hat ein Problem, weil ihr Kernthema als politisches Ziel nicht (mehr) zieht.
Anderen geht es genauso: Ursula von der Leyen hat als Christdemokratin 2019 einen „Green New Deal“ eingeleitet, der auch fortgeführt wird, aber das „Grüne“ ist aus dem Namen verschwunden. Er ist jetzt ein „Clean Industrial Deal“. Das ist eine vielsagende Akzentverschiebung hin zur Industriepolitik.
In den USA, die unter Joe Biden mit dem „Inflation Reduction Act“ das wichtigste Klimaschutzgesetz der Menschheit verabschiedeten, ist von Bidens möglicher Nachfolgerin zum Klima so gut wie nichts zu hören. Kamala Harris überlegt sogar, Fracking wieder zuzulassen.
Die Grünen haben sich nicht von ihrem politischen Kernthema abgewandt, aber der Rest der Welt hat es getan.
Alle finden Klimaschutz richtig super, aber irgendwas anderes ist immer wichtiger
Wenn Menschen in Umfragen danach gefragt werden, betonen sie immer, wie wichtig ihnen Klimaschutz sei. Wenn sie aber ein Wahllokal betreten und als Bürger im Schutz der Wahlkabine dafür stimmen können, was ihnen wirklich wichtig ist, ist es selten Klimaschutz.
Klimaschutz als historischer Auftrag ist von anderer Qualität, als es, sagen wir, der Kampf für eine Krankenversicherung war. Die Krankenversicherung war ein Bedürfnis, das Millionen Menschen erfasst und bewegt hatte. Denn sie versprach für diese Millionen Schutz, verbesserte so ihr Leben. Klimaschutz erfasst und bewegt in diesem Land vielleicht auch Millionen Menschen, aber dessen Vorteile bleiben viel abstrakter.
Der wirklich alle betreffende Umwelt- und Klimaschutz ist gerade nicht von milieuübergreifender Bedeutung. Das ist das zentrale Paradox, dem sich die Grünen seit ihrer Gründung immer wieder stellen müssen. Das wissen die Grünen.
Die jüngste Antwort darauf war Robert Habecks und Annalena Baerbocks Versuch, die Grünen zuerst als Parteivorsitzende und anschließend als Minister und Ministerin in die Mitte der deutschen Gesellschaft zu führen; dorthin, wo sich die Volksparteien tummeln. Aber eine Volkspartei wird nicht aus dem Willen ihrer Vorsitzenden geboren, sondern aus der politischen Konfliktlinie, die die Partei bespielt.
Ironischerweise ist das Thema der Grünen dafür nicht groß genug. Klimaschutz gewinnt keine Wahlen in der Mitte, er kann die letzten Prozente herausquetschen an den Rändern, wenn Progressive mobilisieren müssen. Um ihn herum kristallisiert sich aber kein stabiler, milieuübergreifender Block von Dutzenden Millionen Wählern.
Das liegt auch daran, dass Klimaschutz zwangsläufig technokratisch sein muss. Das ist im Wortsinne von Wissenschaft und Technik gelenkte Politik, an der der einschlägig gebildete Wähler im Grunde gar nicht richtig teilhaben kann. Erhöhe ich die Rente oder nicht? Braucht es mehr Krankenhäuser oder nicht? Da kann jeder ein Gefühl haben, das ihn zu einer rational begründbaren Meinung leitet. Aber ob Deutschland ein CO₂-Kernnetz aufbauen soll, kann keiner intuitiv als Frage verstehen, geschweige denn beantworten. Die Herrscher und Herrscherinnen der Technik und der Wissenschaft können keine Wahlplakate beschriften.
Deswegen ist die eigentlich interessante Frage nicht, woher die aktuelle Krise der Grünen und des Themas Klimaschutz rührt, sondern warum die Grünen und mit ihnen eines ihrer Kernthemen, Klimaschutz, überhaupt vergleichsweise erfolgreich waren zwischen 2017 und 2021.
Fridays for Future und die großen Klimademos waren das Ende einer Welle
Diese Zeit war die Ausnahme. Es war nicht der Beginn eines historischen Großtrends.
Die aktuelle Verfasstheit der Grünen, die zwischen Verwirrung und Aktivismus schwankt, rührt auch daher, dass sich vor allem ihre Führungsspitze kurz vor der Bundestagswahl tatsächlich auf dem Weg zur Volkspartei wähnte.
Schließlich war Klimaschutz damals überall, jetzt aber ist er nur noch in allen Ecken zu Hause. (Wo er auch sein muss, um wirkungsvoll zu sein.) Schlagzeilen machen Themen, die auf dem Papier leichter zu lösen wären, aber gleichzeitig genug Raum für einen gewieften Politiker bieten, um unendlich und immer wieder die gleichen drei Gefühle zu bespielen und den Menschen nach dem Bauch zu reden. Migration zum Beispiel.
Zwei Entwicklungen, die sich in den ganzen Zehnerjahren hinweg aufgebaut hatten, ermöglichten die ungewöhnliche Hausse des Themas Klimaschutz. Zum einen brach sich nach dem Pariser Klimaschutzabkommen eine große Unzufriedenheit mit der Klimapolitik der Regierungen Bahn. Sie hatten sich zwar verpflichtet, etwas zu tun. Sie taten aber viel zu wenig. Die Klimabewegung, getragen von jungen Menschen, nahm bald auch andere Altersschichten mit und brachte zu ihren Hochzeiten Millionen Menschen auf die Straße. Sie war ein politischer Faktor.
Auf der anderen Seite, unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit, machten zentrale Technologien der Energiewende – Batterien, Windkraft und Solarmodule – entscheidende Fortschritte. Sie wurden billiger und besser, und als nach den Corona-Lockdowns Wege gesucht wurden, die Wirtschaft wieder anzuschieben, waren „grüne“ Technologien eine Antwort.
Beides zusammengenommen ergibt ein Bild: Klimaschutz hatte politische Priorität und die Werkzeuge für mehr Klimaschutz waren reif. Das Fenster der Möglichkeit ging für alle grünen Parteien der Welt auf und wurde in Deutschland noch durch die historische Schwäche der alten Mitte nach den elendig langen Groko-Jahren verstärkt.
Aber das war, wie schon geschrieben, aus Sicht der Grünen ein historischer Glücksfall.
Es gelang ihnen damals, über den Transmissionsriemen der Klimabewegung, in Wahlmilieus hineinzustrahlen, die ihnen normalerweise verschlossen geblieben wären. Ähnlich war es, als Winfried Kretschmann 16 Tage nach dem Unfall am AKW Fukushima im Jahr 2011 überraschend Ministerpräsident von Baden-Württemberg wurde. Wer genauer hinschaut, sieht heute allerdings: Er ist immer noch Ministerpräsident, inzwischen aber eher obwohl er ein Grüner ist. Unter den Realos der Partei ist Kretschmann der Pragmatischste.
Die Grünen sind keine Volkspartei und werden es auch nicht werden.
Klimaschutz rückt in den Hintergrund, aber die Energiewende läuft
Sie beherrschen einige Viertel in den großen Städten, aber in den Kleinstädten und den Dörfern hat die Partei immer noch Probleme – und das, obwohl sich die Menschen in Rekordzahl an der Energiewende beteiligen. Landwirte waren die ersten großen Profiteure des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, und heute gibt es kaum noch ein Dorf, dessen Dächer nicht mit Photovoltaikanlagen bedeckt sind. Aber niemand muss grün wählen, um mit einer Solaranlage auf dem eigenen Dach Geld sparen zu können. Der technologische Fortschritt hat die Grünen in dieser Hinsicht überholt.
Während die Energiewende voranschreitet, verschwindet das Thema Klimaschutz dahinter im Ungefähren. Es unterliegt, wie alles, Aufmerksamkeitszyklen. Klimaschutz befindet sich nach einer großen Welle irgendwo im Nirgendwo, im Tal. Das zeigt nicht nur ein Blick auf die Umfragen, die Stimmungsbarometer der Politik, sondern auch ein Blick auf die Stimmungsbarometer der Geldbörsen. Die Aktienkurse entsprechender Unternehmen pendeln saftlos herum.
Grüne aber leben mehr noch als andere Parteien von der diskursiven Hoheit ihrer Themen, weil sie kein Thema haben, das an das engere egoistische Interesse der Wähler:innen anschließen kann („Löhne rauf!“ bei der SPD). Interessiert sich niemand für Klima- und Umweltschutz, interessiert sich auch niemand für die Grünen.
Aber nehmen wir an, das Thema gewönne wieder an Bedeutung: Wie viele haben sich abgewandt? Weil, erstens, regierende Grüne so viele Kompromisse machen und weil, zweitens, die Grünen es auch nicht besser gemacht haben als die alte Mitte. In einer nicht-repräsentativen Umfrage haben mir 17 Prozent ehemaliger Grünen-Wähler:innen gesagt, dass sie nie wieder für die Partei stimmen würden. (39 Prozent antworteten mit „Vielleicht“.)
Wie die Grünen mittelfristig auf die Krise ihres Themas reagieren, ist offen. Was gerade zu vernehmen ist, ist mutmaßlich nicht das, was wir in ein, zwei Jahren von der Partei sehen werden. Ein Cem Özdemir, der sich als Landwirtschaftsminister in einem Gastbeitrag nicht über Landwirtschaft, sondern Migration äußert. Ein Habeck, der bei Umweltschutzberichten über zu viel Bürokratie klagt. Und natürlich auch der Vorstand der Grünen Jugend, der Nachwuchsorganisation, der geschlossen zurücktritt, unter anderem weil in der Partei die Perspektive für eine „klassenorientierte Politik“ fehle.
Klar ist aber, dass die Grünen gegenüber CDU und SPD einen Vorteil haben: Ihr historisches Projekt ist noch nicht vollendet. Die Klimaschutztransformation läuft und mit Artensterben und Flächenfraß drängen schon die nächsten grünen Großthemen unter dem sperrigen Begriff „Biodiversitätskrise“ auf die Agenda.
Aber die Grünen können nur gewinnen, wenn ihre Ideen in allen Köpfen sind. Wer Politik mit Klima- und Umweltschutz machen will, muss das hinnehmen, annehmen und anfangen, neu zu denken: Was können die Grünen selbst dafür tun, diese Themen zu setzen?
Die nächste Aufmerksamkeitswelle kommt bestimmt; dann klappts vielleicht auch mit dem Kanzleramt.
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