Dienstag, 1. Oktober 2024

"Der Geburtsort der Kohleverstromung steht kurz davor, kohlefrei zu werden."

Handelsblatt hier  Jan Lutz, Clara Thier  01.10.2024 

Energiewende: Großbritannien wird kohlefrei – und Deutschland kann davon lernen

Deutschland hinkt anderen Ländern bei der Energiewende hinterher. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, welche Lösungen es gibt – und warum die Vorreiter selbst nicht perfekt sind.

Bild: Kohlekraftwerk in Dtl.



Großbritannien gilt als Geburtsort der Kohleverstromung – und wird nun nach mehr als 140 Jahren die erste kohlefreie Industrienation: Am Montag hat das letzte britische Kohlekraftwerk in Ratcliffe-on-Soar, südwestlich von Nottingham, den Betrieb beendet.

Während der Kohleausstieg in Deutschland aktuell für 2038 vereinbart ist, wollten die Briten ursprünglich 2025 aussteigen. Im Juni 2021 hatte die konservative Regierung des damaligen Premierministers Boris Johnson dieses Enddatum dann sogar um ein Jahr vorverlegt.

Und Deutschland hinkt nicht nur beim Kohleausstieg hinterher, die Energiewende kommt insgesamt schleppend voran. Andere europäische Länder schneiden beim Netzausbau, der grünen Energie, im Verkehrssektor und bei der Wärmewende teils deutlich besser ab. Das ergibt sich aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung, die dem Handelsblatt vorliegt.

Die Autoren haben den Stand der Energiewende in Deutschland für die Studie mit dem in Großbritannien, Dänemark und Norwegen, die als Vorreiterstaaten gelten, verglichen.

Gemessen an unserer Geschichte haben wir viel erreicht in Deutschland: Wir haben die Kohleverstromung innerhalb von zehn Jahren halbiert“, sagt Bruno Burger, Experte für erneuerbare Energien am Fraunhofer-Institut für Solar-Systeme. Zwar sei die Situation in Deutschland nicht mit der in Großbritannien vergleichbar, denn die Briten setzen neben Erneuerbaren weiterhin auf Atomkraft, das sieht Burger kritisch. Trotzdem sei der Kohleausstieg in Großbritannien ein gutes Signal.

Stromnetzausbau in Deutschland zu langsam

Die Autoren der Bertelsmann-Studie schlussfolgern: Vor allem der Stromnetzausbau verläuft in Deutschland zu langsam, gerade im Hinblick auf Übertragungsnetze – also jene, die Strom über große Entfernungen vom Norden in den Süden transportieren. Zwischen 2017 und 2022 habe der Ausbau dieser Leitungen stagniert.

Wegen Engpässen drosseln Netzbetreiber immer wieder die Übertragung: So gingen laut Fraunhofer-Institut 2023 zehn Terawattstunden Strom aus erneuerbaren Energien verloren, was mehr als zwei Prozent der gesamten Stromerzeugung entspricht.

Christof Schiller ist Co-Autor der Bertelsmann-Studie. Er sagt, in Deutschland seien die Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien und Infrastruktur nicht aufeinander abgestimmt. Dass sich die „Flaschenhalsproblematik“ verhindern ließe, zeigen die Beispiele Norwegen und Dänemark.

Die dänische Energieagentur plane den Netzausbau „antizipativ“, zur Drosselung kam es dort deutlich seltener. Und so könnte das Land bereits 2029 aus der fossilen Stromerzeugung aussteigen.

In Deutschland gibt es ebenfalls einen Netzentwicklungsplan für das Stromnetz. Doch die großen Übertragungsnetzbetreiber mussten ihre Netzausbauprognosen in den vergangenen Jahren immer wieder anpassen und erweitern.

Energieexperte Burger sagt: Unter Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sei der künftige Stromverbrauch viele Jahre zu niedrig berechnet worden. Altmaier war bis 2021 im Amt.

Es wurde damals nicht einbezogen, dass durch die Elektrifizierung zahlreicher Sektoren der gesamte Strombedarf steigen werde. Und an dieser Prognose richteten sich die Pläne für den Netzausbau aus. Die Ampelkoalition unter Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe die Pläne mittlerweile nach oben korrigiert.

Verkehr: Subventionen beschleunigen in Norwegen die E-Mobilität

Auch bei der Verkehrswende sind andere Länder schneller als Deutschland, zum Beispiel Norwegen. Schiller sagt: „Norwegen wird es voraussichtlich schaffen, den Verkaufsanteil von E-Autos bis 2025 auf 100 Prozent zu erhöhen.“

Das Land habe „breit gefördert“, teils „offensive Subventionsprogramme“ aufgelegt. Bis Ende 2022 entfielen dort beim Kauf eines E-Autos die 25-prozentige Mehrwertsteuer sowie die Zulassungsgebühr, die für größere Wagen 10.000 Euro betragen konnte. Zudem dürfen E-Autofahrer Busspuren benutzen und teils kostenlos parken.

Die Mittel im norwegischen Haushalt seien zwar nicht vergleichbar mit dem knapp kalkulierten Bundeshaushalt. Dennoch zeige das Beispiel, dass Subventionen die Wende beschleunigen. Höhere Steuern auf Verbrenner und mehr Subventionen für die Elektromobilität, das wäre auch laut Burger in Deutschland ein Weg für eine schnellere Verkehrswende.

Wärme: Dänemark hat Gasheizungen schon 2013 verboten

Beim Heizen sind skandinavische Länder ebenfalls vor Deutschland.  Norwegen etwa hat den Heizungssektor vollständig dekarbonisiert, bis 2030 will das Land ausschließlich mit Wärmepumpen heizen. Auch Dänemark ist erfolgreich beim emissionsfreien Heizen, Öl- und Gaskessel sind bereits seit 2013 verboten.

„In Norwegen und Dänemark wurde die Wärmewende durch hohe Steuern auf fossile Brennstoffe und großzügige staatliche Subventionen für Haushalte begünstigt“, elektrisches Heizen unterliegt hingegen „nahezu keiner effektiven Besteuerung“, schreiben die Autoren der Bertelsmann-Studie.

Vorbilder für Deutschland – aber nicht perfekt

Wenngleich die Vergleichsländer bei der Energiewende schneller als Deutschland sind, gilt zu beachten: Der deutlich frühere Ausstieg der Briten ist vor allem deshalb möglich, weil das Land weiterhin auf Atomkraft setzt. Zusätzlich plant das Land, Hunderte neue Lizenzen für die Öl- und Gasförderung in der Nordsee zu vergeben.

Und Christof Schiller von der Bertelsmann Stiftung sieht auch große Widersprüche bei den skandinavischen Ländern. Er spricht vom „norwegischen Paradox“: Zwar produziert das Land seinen Strom ausschließlich aus erneuerbaren Energien, gleichzeitig fördert und exportiert es aber weiter Erdöl. Die Emissionen fallen woanders an. Der Klimawandel, sagt Schiller, ist aber ein globales Problem und kein lokales.

Mit Material von dpa


NTV hier  30.09.2024,

"Wir sind weit voraus": Briten schalten ihr letztes Kohlekraftwerk ab

Wovon Deutschland träumt, wird in Großbritannien Wirklichkeit: Als erstes großes Industrieland wird das Königreich kohlefrei. Während das letzte Kohlekraftwerk vom Netz geht, bleibt die Atomkraft als Teil des britischen Energiemixes erhalten.

Nach mehr als 140 Jahren stellt Großbritannien die Stromerzeugung aus Kohle ein. Das letzte Kohlekraftwerk in Ratcliffe-on-Soar südwestlich von Nottingham wird geschlossen. Damit ist das Vereinigte Königreich das erste wohlhabende Industrieland, das aus der Kohle aussteigt, wie unter anderem die Zeitung "Times" betonte. Die Denkfabrik E3G schrieb vor wenigen Tagen: "Der Geburtsort der Kohleverstromung steht kurz davor, kohlefrei zu werden."

Die konservative Regierung des damaligen Premierministers Boris Johnson hatte im Juni 2021 den Kohleausstieg noch einmal um ein Jahr vorgezogen. Künftig soll nur noch sauberer Strom verwendet werden. Die Kohlearbeiter könnten stolz sein, dass sie das Land mehr als 140 Jahre lang angetrieben hätten, sagte Energie-Staatssekretär Michael Shanks von der sozialdemokratischen Labour-Partei, die seit Anfang Juli die Regierung stellt. "Die Kohleära mag zwar enden, aber ein neues Zeitalter guter Arbeitsplätze im Energiesektor beginnt jetzt erst für unser Land." Dazu zählten etwa Windkraft und neue Technologien wie CO2-Abscheidung und -Speicherung. "Diese Arbeit trägt dazu bei, unsere Energiesicherheit und -unabhängigkeit zu stärken, Familien vor internationalen Preissteigerungen für fossile Brennstoffe zu schützen und damit Arbeitsplätze zu schaffen und den Klimawandel zu bekämpfen", sagte Shanks. Großbritannien solle "eine Supermacht im Bereich saubere Energie" werden.

Vor gut 100 Jahren wurde fast der gesamte Strom in Großbritannien durch Kohleverbrennung erzeugt. Heute spielt Kohle kaum noch eine Rolle. 2023 lag der Anteil am Energiemix bei 1,3 Prozent. Der deutlich frühere Kohleausstieg Großbritanniens im Vergleich zu Deutschland ist auch deshalb möglich, da das Land weiterhin auf Atomkraft zur Energiegewinnung setzt. In Deutschland ist der Kohleausstieg für 2038 vereinbart. Die Ampel hatte sich vorgenommen, das Datum "idealerweise" auf 2030 vorzuziehen.

Seit der Eröffnung des ersten Kraftwerks 1882 haben die britischen Kohlekraftwerke laut dem Klima-Portal "Carbon Brief" insgesamt 4,6 Milliarden Tonnen Kohle verbrannt und 10,4 Milliarden Tonnen Kohlendioxid (CO2) ausgestoßen - mehr als die meisten Länder jemals aus allen Quellen produziert haben.

"Wir sind bei der Kohle weit voraus", sagte der britische Klima-Regierungsberater Chris Stark der "Times". "Weit voraus gegenüber anderen G7-Volkswirtschaften." Der Chef des Kraftwerkbetreibers Uniper, Michael Lewis, sagte dem Blatt, das Aus für Ratcliffe sei "eine enorm große Sache - lokal, national, international". Das Werk war 1968 eröffnet worden. Im Juni transportierte nun ein Zug die letzte Lieferung von 1650 Tonnen Kohle.

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