hier Riffreporter Recherche-Kollektiv Südamerika/ Sandra Weiss 14.10.2024
Mit den Rechten der Natur: Wie Ecuadors Gerichte Artenschutz erkämpfen
Als Verfassungsrichter hat Ramiro Ávila in seiner Heimat Ecuador Aufsehen erregende Urteile zum Naturschutz gefällt. Er erklärt im Interview, warum der Justiz gelingt, worin die Politik versagt.
Wie können wir die Artenvielfalt retten? Darüber beraten die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen vom 21. Oktober bis 1. November bei der Biodiversitäts-Konferenz in Cali (Kolumbien). Für wegweisende Ideen reicht ein Blick ins Nachbarland Ecuador.
Dort hat die Natur seit 2008 eigene Rechte, die in der Verfassung verankert sind. Ramiro Ávila Santamaría ist ein auf Umweltrecht spezialisierter Jurist und war einer der Richter am Verfassungsgericht, das in den vergangenen Jahren Grundsatzurteile zugunsten der Umwelt fällte.
Justiz als Bollwerk im Umweltschutz?
Erdölfirmen, die sich aus dem Regenwald zurückziehen müssen, Bergbauprojekte, die ersatzlos gestrichen werden, Städte, die verschmutzte Flüsse sanieren müssen – das sind nur einige der Fälle, über die Richter*innen in Ecuador seit 2008 entschieden haben.
Die Justiz ist damit zu einem wichtigen Bollwerk im Umweltschutz geworden und hebelt das Interessensgeflecht von Politik und Wirtschaft immer wieder aus. Sind die Rechte der Natur vielleicht eine Art Zauberstab für effektiveren Naturschutz?
Sandra Weiss: Herr Ávila, in Kürze tagen wieder die Mitgliedsstaaten der UN-Biodiversitätskonvention mit dem Ziel, das rasante Artensterben zu stoppen. Welchen Beitrag können die Rechte der Natur da leisten?
Ramiro Avila: Sie haben die Natur aufgewertet. Bislang war die Umwelt im ecuadorianischen Rechtssystem ein Objekt, das zivilrechtlich genutzt, nahezu unbegrenzt ausgebeutet und veräußert werden konnte. Doch die Verfassung von 2008 hob sie auf die Stufe eines Subjekts. Die Natur genießt damit den höchsten nur denkbaren juristischen Schutzstatus.
Das hört sich sehr theoretisch an.
Ist es aber nicht. Die Rechte der Natur sind ein starkes Symbol, das dazu beiträgt, dass viele Menschen sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Wenn man sich näher mit der Biodiversität und den Ökosystemen befasst, ist die Natur kein abstrakter Gebrauchsgegenstand mehr, sondern etwas Wertvolles und Schützenswertes.
Sie wird dann erkannt als ein lebender Organismus mit beeindruckenden Tieren wie Jaguaren, Vögeln, Fröschen, aber auch Heilpflanzen, die vom Aussterben bedroht sind.
Sie wird dann erkannt als ein lebender Organismus mit beeindruckenden Tieren wie Jaguaren, Vögeln, Fröschen, aber auch Heilpflanzen, die vom Aussterben bedroht sind.
Vor Gericht sind in Streitfällen um die Rechte der Natur
beide Argumentationslinien gültig,
die wissenschaftliche und die indigen-spirituelle.
beide Argumentationslinien gültig,
die wissenschaftliche und die indigen-spirituelle.
Ramiro Avila, ecuadorianischer Jurist und Ex-Verfassungsrichter
Das ist ja die indigene Vision von Pachamama, der Mutter Erde, als lebendem Organismus, von dem wir Menschen ein Teil sind. Für viele vom westlichen Rationalismus und Anthropozentrismus geprägte Menschen hört sich das sehr spirituell an.
Die Rechte der Natur lassen sich aber nicht nur aus der indigenen Kosmovision ableiten, sondern ebenso aus Wissenschaften wie der Biologie, Geologie oder der Hydrologie. Vor Gericht sind in Streitfällen um die Rechte der Natur deshalb auch beide Argumentationslinien gültig, die wissenschaftliche und die indigen-spirituelle.
Zum Beispiel hatten wir den Fall des Machángara-Flusses (der durch die Hauptstadt Quito fließt). Dessen Rechte wurden vor Gericht vom indigenen Volk der Kitu Kara verteidigt. Sie haben sehr überzeugend argumentiert, dass der Fluss für sie ein lebendiges Wesen ist, dem sie regelmäßig Tribut leisten, und das deshalb geschützt werden muss vor der Einleitung von ungeklärtem Abwässer.
Und davon lassen sich die Richter dann überzeugen?
Es ist nicht einfach. Wir brauchen noch sehr viel mehr interkulturellen Dialog. Ich habe selbst erlebt, wie tief der Rassismus in unserer Gesellschaft immer noch sitzt. Ein Amicus curiae der Harvard-Universität beispielsweise hat vor Gericht noch immer mehr Gewicht als die Bedeutung der Tierwelt für die Waorani-Indigenen.
Schon früher gab es Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Gesetze zum Umweltschutz, die privaten Wirtschaftsinteressen Grenzen setzten – ohne dass dies die Zerstörung gebremst hat. Wieso soll das nun mit den Rechten der Natur anders werden?
Die Umweltkontrollen und -gesetze sind nur eine bürokratische Auflage, die es zu erfüllen gilt. Sie verhindern extraktivistische Ausbeutung der Ressourcen nicht, sondern legitimieren sie.
Die Debatte um die Rechte der Natur hat überhaupt erst sichtbar gemacht, wie umfassend und langfristig die Schäden dieser Industrien für die Natur und die Menschen sind. Die Rechte der Natur haben geholfen, den Umweltschutz neu zu denken, als integrales Schutzkonzept, nicht mehr als eine Investitionsauflage, die man abhaken muss.
Die Umweltkontrollen und -gesetze
verhindern die Ausbeutung der Ressourcen nicht,
sondern legitimieren sie.
verhindern die Ausbeutung der Ressourcen nicht,
sondern legitimieren sie.
Ramiro Avila, ecuadorianischer Jurist und Ex-Verfassungsrichter
Trotzdem aber geht der Extraktivismus munter weiter. Die Regierung von Ecuadors Präsident Daniel Noboa, dessen Familie mit Bananen-Monokulturen reich wurde, hat haufenweise Öl- und Bergbaulizenzen vergeben.
In Ecuador stimmt die Bevölkerung oft für progressive Kandidaten, die einen Wandel versprechen. Wenn sie an die Macht kommen, machen sie genauso weiter wie ihre Vorgänger. Barack Obama ging es ja ähnlich in den USA. Die Demokratie sitzt wohl überall auf einem Thron, der von einer superreichen Minderheit gehalten wird.
Aber in Ecuador haben die Umweltschützer*innen dank der Rechte der Natur einige Siege über diese extraktivistischen Industrien errungen, zum Beispiel den Stopp des Bergbaus im Wald Los Cedros, den Förderstopp für Erdöl im Yasuni-Nationalpark- oder den Rückbau eines Staubeckens am Fluss Aquepí, dessen Pegel wegen der Bewässerung einer Bananenplantage stark gesunken war.
War es nicht schwierig, diesen Paradigmenwechsel im Richtergremium zu verankern?
Nicht wirklich. Man muss sich nur auf eine ernsthafte Diskussion einlassen. Den ersten Fall, der 2020 bei mir als Richter auf dem Schreibtisch landete, haben wir im Kollegenkreis und mit Expert*innen sehr ausführlich diskutiert.
Viele von uns hörten dabei zum ersten Mal, was es bedeutet, dass ein Fluss Teil eines lebenden Ökosystems ist, wie wichtig die Fotosynthese ist oder was Pestizide im Körper bewirken. Wenn es genügend wissenschaftliche Daten, Informationen und eine entsprechende Präsentation gibt, erkennen wir unsere Abhängigkeit von der Natur. Wir ändern unser Bewusstsein, und unser zeitlicher Horizont erweitert sich.
Plötzlich denkt man langfristig. Dann sieht man, dass es wichtiger sein kann, einen Wald zu schützen als die Rohstoffe darunter auszubeuten, die vier oder fünf Jahre Einnahmen bringen, aber die Gegend über Generationen hin verschmutzen.
Sobald man das verstanden hat, liegt ein Urteil zugunsten der Natur nahe.
Es ist natürlich kein Automatismus. Man schreibt die Rechte der Natur in die Verfassung, und sofort können alle damit etwas anfangen und setzen das um – so läuft das nicht. Ich denke, es ist vergleichbar mit dem Frauenwahlrecht oder der Abschaffung der Sklaverei. So etwas ist ein langer Prozess, denn es handelt sich um einen Perspektivenwechsel.
In Ecuador gab es drei Phasen.
- Zuerst haben sich die Richter der Thematik verweigert. Die Verfassungsrichter lehnten diese Klagen im Namen der Rechte der Natur prinzipiell ab.
- Dann gab es eine zweite Phase, in der das Gericht generelle Bekenntnisse zum Schutz der Natur abgab, ohne aber konkrete Urteile zu fällen.
- Und ab 2020 erarbeitete das Verfassungsgericht dann eine konsistente Doktrin, die auch entgegen wirtschaftlicher und unternehmerischer Interessen umgesetzt wird. Das war dann wie ein Dammbruch.
Inwiefern war das ein Durchbruch?
Plötzlich fällen auch Richter unterer Instanzen, von denen man das gar nicht erwartet hätte, Urteile zugunsten der Natur. Sie schützen Flüsse wie vor Kurzem den Machángara-Fluss, der durch die Hauptstadt Quito fließt.
Zum Teil mit sehr schönen Urteilsbegründungen. Die Richterin im Machángara-Fall sagte, die Hauptstadtbewohner müssten jetzt endlich ihrem Fluss, dem sie so lange den Rücken zuwendeten, ins Gesicht sehen. Er habe ihnen so viel Nutzen gebracht, aber sei nun todkrank und müsse geheilt werden.
Ich glaube, diese humane Sprache, diese Sensibilität hat das Potenzial, viele Menschen zu berühren und zu einer Abkehr vom Paradigma der skrupellosen Ausbeutung der Natur zu bringen.
.....Als Verteidiger der Natur stellt man sich mächtigen Gewinninteressen entgegen. Ein großes Problem ist, dass hinter vielen extraktivistischen Aktivitäten das Organisierte Verbrechen steckt. Die Natur zu verteidigen, ist daher ein Risiko für Leib und Leben. Das gilt für Umweltschützer*innen, Indigene, aber auch für Staatsdiener*innen.
Auch transnationale Firmen sind da oft nicht pingelig. Sie kriminalisieren beispielsweise gerne Umweltproteste. Die Anti-Bergbau-Aktivist*innen der Region Intag beispielsweise haben zahlreiche Prozesse am Hals, wegen Sabotage oder weil sie angeblich Privateigentum verletzten.
Diese Firmen und Gruppen werden oft von Politiker*innen und der Regierung geschützt. Hinzu kommt das Problem der Korruption im ecuadorianischen Staatsapparat.
Kriminalität und Korruption sind ein Problem. Aber auch die Tendenz, autoritäre, populistische Regierungen zu wählen, die demokratische Spielregeln unterlaufen.
Ja, es gibt eine Repräsentations-Krise im politischen System. Unsere Demokratie ist das Resultat von Wahlkampfmaschinerien einer kleinen wirtschaftlichen Elite. Das verengt den politischen Spiel- und Diskussionsraum. Und das ist fast in ganz Lateinamerika so.....
bitte im Original weiter lesen
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