In den wohlhabenden Gegenden der Welt glauben viele, dass wir dem Süden mit viel Geld helfen. Doch das Gegenteil stimmt: Das Geld fließt in die falsche Richtung.
Es heißt, Zahlen am Anfang eines Artikels schrecken vom Lesen ab. Versuchen wir es trotzdem mal, und zwar mit dieser: 106.000.000.000 Dollar! Das ist nicht nur unvorstellbar viel Geld, das ist auch eine Summe, die, wenn man sie zum Sprechen bringt, viel erzählt. Von den Regeln der Weltwirtschaft, von Werten und Scheinheiligkeit und von gestrichenen Schulessen für Kinder. Oder in einfacher Sprache: von Macht.
106 Milliarden Dollar – das ist die Summe, die im vergangenen Jahr aus dem Süden in den Norden geflossen ist. Ja, richtig gelesen, von den armen an die reichen Länder! Herausgefunden haben das Lawrence Summers und N. K. Singh, beide sind keine Dritte-Welt-Aktivisten, sondern Ökonomen. Summers war einst sogar mal US-Finanzminister.
Die beiden Männer haben im Frühjahr mal nachgezählt, wie viel Geld von Weltbank und IWF, also den internationalen Institutionen, die eigentlich den Wohlstand in der Welt fördern sollen, in die Entwicklungsländer fließt. Sie waren über die Zahl wohl selbst entsetzt. "Wenn die Welt nicht mal Essen für arme Kinder finanziert, wie wollen wir dann den Klimawandel erfolgreich bekämpfen", schrieben sie in einem für Ökonomen ungewöhnlich emotionalen Artikel. Immer stärker flössen die Nettokapitalflüsse aus dem Süden in den Norden. Es gelte das Prinzip: "Millionen rein, Milliarden raus".
Geld ist also da, es fließt nur in die falsche Richtung. Während wir in den wohlhabenden Gegenden der Welt immer noch glauben, dass wir dem Süden seit Langem mit viel Geld und guten Ideen bei der Entwicklung helfen, stimmt das Gegenteil. Finanzinstitutionen und Anleger freuen sich über Zinsen oder auch über die Rückzahlung alter Kredite aus den armen Ländern. Und das wiederum hat Folgen, weit über das Finanzielle hinaus. In Kenia beispielsweise wird an den Schulen gespart, auch im Gesundheitswesen und an der Infrastruktur. In anderen Ländern stottert der Klimaschutz, es werden neue Ölfelder in Urwäldern eröffnet und in Naturparks neue Minen. Und überall, wo die Verzweiflung wächst, wollen oder müssen Menschen emigrieren.
Die globalen Finanzflüsse beeinflussen die Leben vieler Menschen, sie verhindern Bildung, Umweltschutz und sorgen für Migration. Oder in Zahlen ausgedrückt: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung, rund 3,3 Milliarden Menschen, lebt nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen in Ländern, die mehr für den Schuldendienst ausgeben müssen als für ihr Gesundheits- oder Bildungswesen. Die Situation ist so dramatisch, dass UN-Generalsekretär António Guterres von einem "dysfunktionalen System" spricht, wenn er auf das internationale Finanzsystem blickt.
Man könnte ihm kühl entgegenhalten: Wer Schulden macht, muss sie nun mal irgendwann auch zurückzahlen, sonst bricht das ganze Finanzsystem auf Dauer zusammen – und auch darunter würden die Armen leiden. Das stimmt grundsätzlich, nur ist die Sache eben doch etwas komplizierter. Das System bricht schließlich auch zusammen, wenn Schuldner nicht mehr zahlen können oder die Gläubiger gnadenlos sind. Schließlich mussten fast alle Regierungen der Welt in den vergangenen Coronajahren Geld leihen – und zwar nicht aus Verschwendungssucht, sondern aus blanker Not.
In den kommenden Jahren wird in der Finanzwelt etwas passieren
Zweitens verschlimmert sich die Klimakrise seither rasant. Nötig ist immer mehr Geld, allein um Menschen zu retten, notdürftig zu schützen oder die Trümmer der letzten Katastrophe wegzuräumen. 130 Länder sind laut aktuellem Schuldenreport des Hilfswerks Misereor und des Entwicklungsbündnisses erlassjahr.de regelmäßig von Umweltkrisen betroffen.
Und noch ein drittes Problem kommt für viele arme Regierungen dazu: Sie müssen schon seit jeher mehr Zinsen zahlen als wir, wenn sie denn überhaupt an Kredite kommen. Sie können die Rückzahlung immer schlechter stemmen – ein Teufelskreis, oder, wie es die Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, zuletzt im ZEIT-Interview beschrieb: "Stellen Sie sich das mal für Ihr Land vor: Sie leben von Ihren Unternehmen, wollen planen, investieren – aber Jahr für Jahr müssen Sie sechs Monate lang mit hohen Risiken rechnen. Für uns ist klar: Die Klimakatastrophe ist da."
Machen wir eine andere Schuldenrechnung auf
Was also tun? Blicken wir noch mal nach Kenia – und machen eine andere Schuldenrechnung auf. Das afrikanische Land trägt fast gar nichts zur Klimakrise bei, denn es hat früh auf den Ausbau von erneuerbaren Energien gesetzt. Heute kann es seinen Strombedarf weitgehend grün erzeugen, es häuft also – anders als wir – kaum Klimaschulden an. Kenia hinterlässt der nächsten Generation keine Klimakrise, und trotzdem leiden seine Menschen schon heute darunter und seine Kinder werden noch mehr leiden. Das bedeutet: Man kann sich die Frage nach Schuld und Verantwortung in der wirklichen Welt ganz anders beantworten als die Finanzmärkte. In dieser Wirklichkeit gehört Kenia zu den ökologischen Gläubigern und wir zu den Schuldnern. In einer fairen Welt müssten WIR längst damit begonnen haben, unsere Schuld zu begleichen.
Klar, so bald wird das nicht passieren, dazu ist die Macht global zu ungleich verteilt. Und dennoch gibt es auch bei uns ein Interesse daran, dass Länder nicht reihenweise bankrottgehen. Dass sie nicht die letzten Naturparks zerstören müssen. Und dass die Klimakrise, die ja auch uns betrifft, dort bekämpft wird, wo es deutlich billiger ginge als bei uns. Also in Teilen Afrikas.
Eine ganze Reihe von Initiativen wirbt aktuell für einen Schuldenerlass – und will ihn mit mehr Klimaschutz verbinden. Barbados' Premierministerin Mottley drängt mit ihrer Bridgetown-Initiative auf eine Reform des Finanzsystems. Sie will beispielsweise, dass Kreditrückzahlungen im Falle von Unwetterkatastrophen ausgesetzt werden. Andere Gruppen wie erlassjahr.de lobbyieren für ein Insolvenzverfahren für Staaten. Und die ehemaligen Zentralbankgouverneure der ärmsten 21 Länder der Welt arbeiten daran, dass ihre verzweifelte Lage spätestens im kommenden Jahr während der G20-Präsidentschaft von Südafrika mehr Aufmerksamkeit bekommt. Und sie mehr Hilfe.
Deutschland kürzt
Im deutschen Entwicklungsministerium wird all das mit viel Sympathie begleitet. Nur, die Macht sitzt in der Bundesregierung anderswo – sie will die Entwicklungszusammenarbeit im kommenden Jahr um fast eine Milliarde Euro kürzen. Auch die humanitäre Hilfe soll weiter schrumpfen. Lange hat Deutschland die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe nicht so stark reduziert wie unter der rot-grün-gelben Regierung.
So oder so wird in den kommenden Jahren in der Finanzwelt etwas passieren. Entweder werden immer mehr Länder ihren Bankrott erklären müssen. Dadurch werden viele Menschen viel verlieren. Oder aber die Gläubiger der Welt schaffen es, sich auf Schuldenerlass zu einigen. Europa, die USA, China und auch viele private Gläubiger würden den armen Ländern einen Teil der Schulden erlassen, wenn die dafür das Klima schützen. Dann hätten alle etwas gewonnen.
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