Hoffnung trotz Artenschwund: Der "Faktencheck Artenvielfalt" beschreibt Biodiversität in ganz Deutschland. Gut sieht es nicht aus, aber machtlos ist der Mensch nicht.
Der Natur in Deutschland geht es schlecht. Das scheint auf den ersten Blick das zentrale Ergebnis des Faktencheck Artenvielfalt zu sein. Es ist der bislang umfassendste Bericht zum Zustand der Biodiversität in der Bundesrepublik. Auf rund 1.200 Seiten wird schnell klar: Von den etwa 30.000 in Deutschland im Bestand erfassten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind gut ein Drittel bestandsgefährdet. Sie werden auf der Roten Liste als stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht eingestuft. Tendenz steigend. Rund drei Prozent der Arten, die einst in Deutschland heimisch waren, sind ausgestorben. Und etwa 60 Prozent der untersuchten Lebensräume befinden sich in einem unzureichenden oder schlechten Zustand.
Bei genauerem Hinsehen liefert der Bericht, finanziert vom Bundesforschungsministerium, allerdings ein differenzierteres Bild. Die insgesamt 145 Autorinnen und Autoren haben die Treiber des Artensterbens analysiert. Sie zeigen, wo es Potenzial für eine wachsende Artenvielfalt gibt oder wo es an Daten fehlt, um belastbare Aussagen treffen zu können. Und nicht zuletzt betont der Bericht den Wert diverser Ökosysteme – und wie stark sie die menschliche Lebensgrundlage beeinflussen.
Daten von vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen
"Wir haben zum ersten Mal eine wissenschaftliche Beschreibung vom Zustand der Natur in ganz Deutschland, die schon lange nötig war", sagt Aletta Bonn. Sie leitet die Abteilung Biodiversität und Mensch am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und war nicht als Autorin am Faktencheck Artenvielfalt beteiligt. Dieser fasst zahlreiche Studien, Facharbeiten, Berichte und Gutachten zusammen. "Ein Großteil der Daten dafür wurde von Freiwilligen zusammengetragen", sagt Bonn. "Ich würde schätzen, dass 70 bis 80 Prozent der Biodiversitätsdaten in Deutschland von Freiwilligen und Ehrenamtlichen erhoben werden."
Was meint Biodiversität alles?
Auch wenn man beim Begriff der Biodiversität meist zuerst an Artenvielfalt denkt: Biodiversität bedeutet mehr. Genetische Vielfalt ist ebenfalls ein Teil davon. So kommen sehr kleine Populationen von Pflanzen, Tieren und Insekten in der Regel mit Klimaveränderungen, Viren oder Bedrohungen sehr viel schlechter zurecht. Das liegt daran, dass es nur eine geringe Wahrscheinlichkeit gibt, dass Exemplare einer Population eine geeignete genetische Disposition besitzen, um mit solchen Herausforderungen zurechtzukommen. Für das Überleben einer Art ist genetische Vielfalt daher zentral wichtig. Ein dritter Aspekt von Biodiversität ist zudem die Vielfalt von Ökosystemen: verschiedene Lebensräume wie Wälder, Seen, Sumpfgebiete oder Meere stehen untereinander in Wechselwirkung und sind somit aufeinander angewiesen.
Das bedeutet einerseits: Wer Vögel oder Insekten vor der eigenen Haustür zählt und die Zahlen weitergibt, leistet einen zentralen Beitrag für die Biodiversitätsforschung in Deutschland. Andererseits bedeutet es auch, dass Forschende vor allem Daten von Arten bekommen, die einige Menschen besonders gerne beobachten.
"Es gibt bisher mit wenigen Ausnahmen kein behördliches Langzeitmonitoring der Biodiversität von Lebensgemeinschaften in Deutschland", sagt Christian Wirth, Vorsitzender und Herausgeber des Faktencheck Artenvielfalt sowie Pflanzenökologe an der Universität Leipzig. Um sich ein ansatzweise vollständiges Bild über die Entwicklung der Artenvielfalt in Deutschland verschaffen zu können, haben die Autorinnen und Autoren Datensätze mit 15.000 unterschiedlichen Zeitspannen der vergangenen Jahrzehnte ausgewertet. Und sich die fünf Hauptlebensräume in Deutschland angeschaut: Agrar- und Offenland, Wälder, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer sowie städtische Räume.
Zwischen Klimaverlierern und fremden Arten
Klar wurde dabei, dass die Biodiversitätsforschung in Deutschland viele Lücken hat. Die große Herausforderung: Welche Arten – egal ob Tier oder Pflanze – in welchem Umfang in einer bestimmten Region leben, verändert sich ständig. Noch dazu mit wachsender Geschwindigkeit. Besonders in der Pflanzenwelt verschwinden einzelne, besonders spezialisierte Arten. Dafür tauchen immer mehr Spezies auf, die in Deutschland bislang gar nicht vorgekommen sind.
Die Entwicklung zeigt sich auch bei Tieren. "Zum Beispiel gab es früher in jedem Garten den Kleinen Fuchs, eine damals weitverbreitete Schmetterlingsart. Aber der ist ein Klimaverlierer, wir finden ihn heute nur noch in Mittelgebirgen, wo es kühler ist. Dafür sehen wir jetzt schon häufiger Gottesanbeterinnen in Deutschland." Ob die Artenvielfalt langfristig unter dieser Entwicklung leidet oder möglicherweise auch profitiert, ist unklar.
Was hingegen gut belegt ist: Viele Insektenarten werden nicht mehr beobachtet, ebenso sei die Population von Vögeln im Agrar- und Offenland in knapp 40 Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen, heißt es im Bericht.
Artenverlust ist aufhaltbar, auch von Einzelnen
Die Ursachen für den generellen Biodiversitätsverlust sind komplex. Zu den maßgeblichen Faktoren zählt eine immer intensiver werdende Landwirtschaft, die teils weniger, dafür aber mitunter stärkere Pestizide einsetzt. Hinzu kommen Stickstoffeinträge durch Dünger, die großflächige Entwässerung von Landschaften wie Mooren und Auen, zubetonierte und asphaltierte Flächen in Städten sowie stärkere Hitze und Trockenheit durch den Klimawandel.
Hinter diesen Entwicklungen stehen allerdings noch indirekte Treiber, die Biodiversitätstrends sowohl negativ als auch positiv beeinflussen können. Dazu zählen etwa das Konsumverhalten der Bevölkerung und die wirtschaftliche Entwicklung, Maßnahmen der Umwelt- und Energiepolitik, die Technologieentwicklung, Krisen und auch Bildung.
Trotz allem ließe sich der Artenverlust aber gut aufhalten, erläutern die Autorinnen und Autoren des Faktenchecks. Denn an Richtlinien etwa für die Wirtschaft und Absichtserklärungen der Regierung mangelt es nicht. Was laut dem Bericht fehlt, ist eine Strategie. Wenn an sich sinnvolle Maßnahmen nicht aufeinander abgestimmt werden oder das politische Image einzelner Parteien oder Regierungen im Vordergrund stünden, bremse das kluge Artenschutzgesetze und -vereinbarungen aus.
Nicht zu unterschätzen sei auch der Einsatz Einzelner. Dabei geht es keineswegs darum, die Verantwortung auf Bürgerinnen und Bürger oder kleinere Unternehmen abzuwälzen. "Zum Beispiel ist die Fläche aller privaten Gärten in Deutschland bereits etwa halb so groß wie die Fläche aller Naturschutzgebiete," sagt Nina Farwig, Co-Vorsitzende und Herausgeberin beim Faktencheck Artenvielfalt sowie Biodiversitätsforscherin an der Philipps-Universität Marburg. "Das heißt, wer im Garten mit heimischen Pflanzen Artenvielfalt unterstützt, kann viel bewirken."
https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2024-09/faktencheck-artenvielfalt-biodiversitaet-bericht-natur
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