Donnerstag, 31. Oktober 2024

Bürgerbegehren: Bitte doch vor meiner Haustür

 Zeit hier  Von Dana Hajek  28. Oktober 2024, 


Bürgerbegehren richten sich nicht nur gegen etwas. Sondern immer häufiger: für eine Veränderung. Welche Verfahren am erfolgreichsten sind, zeigen diese Daten.

Bürgerbegehren haben einen schlechten Ruf. Nicht unbedingt bei den Bürgern selbst, aber bei vielen Kommunalpolitikerinnen und Unternehmern. Sie gelten als Instrument des Verhinderns: gegen die Unterkunft für Geflüchtete, gegen das Gewerbegebiet, gegen den Windpark – und zwar dann, wenn sie am eigenen Wohnort geplant sind. Bürgerbegehren gelten als das Rechtsmittel der Wahl für den sogenannten Nimby-Bürger: not in my backyard, nicht vor meiner Haustür.

Eine Datenauswertung von ZEIT ONLINE zeigt aber, dass es so einfach gar nicht ist. Ein erstaunlich großer Anteil der Bürgerbegehren dient nicht dem Verhindern, sondern dem Anstoß von Veränderung. Ein großer und tendenziell zunehmender Anteil der Bürgerbegehren richtet sich nicht gegen ein bestimmtes (Bau-)Projekt, sondern dafür. Sogar beim gerade im ländlichen Raum so umstrittenen Thema Windenergie.

Fast die Hälfte aller Bürgerbegehren seit 1996 setzt sich mittlerweile für den Ausbau der Windkraft ein. Besonders in den letzten Jahren hat der Anteil an Pro-Windkraft-Initiativen stark zugenommen. Demnach gelingt es einigen Gemeinden, die Unterstützung für Windkraft zu gewinnen – auch wenn es dabei manchmal weniger um Überzeugung geht, sondern eher um pragmatische Entscheidungen. 

In den vergangenen zwei Jahren haben sich beispielsweise die Einwohner der vier bayerischen Gemeinden Denklingen, Marktl, Schnabelwaid und Wachenroth für mehr Windräder ausgesprochen. Dabei waren in diesen Orten vor zehn Jahren noch Bürgerbegehren gegen die Nutzung dieser Energiequelle erfolgreich.

ZEIT ONLINE hat eine umfassende Datenbank mit Bürgerbegehren in Deutschland aus den Jahren 1990 bis 2024 ausgewertet. Ein Team der Bergischen Universität Wuppertal hat die Vorhaben zusammengetragen. Unzulässige oder erfolglose Begehren sowie solche ohne bekannten Ausgang wurden ausgeschlossen. Die Auswertung unterscheidet zwischen Begehren, die Projekte vorantreiben ("dafür"), und solchen, die Vorhaben blockieren oder stoppen ("dagegen"). 

Von den 235 Bürgerbegehren, die bisher stattfanden, richteten sich 137 gegen Windkraft. Mittlerweile befürworten allerdings auch 98 Begehren den Ausbau, manche nur unter bestimmten Bedingungen. In der Analyse zählen sie zum Pro-Lager, weil die Gemeinden kompromissbereit sind. Am Ende scheitern fast die Hälfte der Pro-Windkraft-Initiativen kurz vor dem Ziel.

"Erneuerbare Energien sind mittlerweile in beide Richtungen umstritten", sagt Detlef Sack, Demokratieforscher an der Bergischen Universität Wuppertal. "Oft entsteht Unterstützung für Windkraft, weil Befürworter das Feld nicht den Gegnern überlassen wollen." In einigen Modellen seien Bürger als Genossenschaftsmitglieder oder Investoren direkt an Windkraftprojekten beteiligt und profitieren finanziell davon. Dieses gemeinschaftliche Eigentum stärke die positive Einstellung zu den Anlagen.

Die öffentliche Debatte hat sich zudem gewandelt. Die einst starke Gegenbewegung gegen Windkraft wird zunehmend von Vernunftüberlegungen verdrängt – etwa der Dringlichkeit, alternative Energiequellen zu erschließen und die regionale Energieversorgung zu sichern. "Der steigende politische und gesellschaftliche Druck, Lösungen für die Klimakrise zu finden, verstärkt die Unterstützung für erneuerbare Energien wie Windkraft", sagt der Forscher.

Nicht nur beim Ausbau von Wind- und Solarenergie spaltet sich die Gesellschaft in Lager. Auch andere strittige Themen stoßen auf Widerstand, zum Beispiel Bauprojekte. Besonders schlecht stehen die Chancen für Bürgerbegehren zum Bau von Flüchtlingsunterkünften: Rund 80 Prozent sind von Anfang an dagegen, und nur jedes zehnte Begehren wird am Ende positiv entschieden. "In der Migrationspolitik mobilisieren sich immer mehr Bürger gegen solche Projekte, oft wegen lokaler Probleme wie fehlender Infrastruktur oder Sorgen um die Gemeinschaft", sagt Sack.
Klimabezogene Verfahren schneiden hingegen besser ab. Abstimmungen für mehr Fahrradwege, Fußgängerzonen oder verkehrsberuhigte Innenstädte sind zu über 80 Prozent positiv.
Am Beispiel der verkehrsberuhigten Städte zeigt sich aber wieder, dass der Großteil der Begehren im letzten Schritt oft scheitert. Dennoch freut sich Stuttgart seit einem Bürgerbegehren 2017 über eine zunehmend verkehrsberuhigte Innenstadt.

Bürgerentscheide betreffen jedoch nicht nur große Themen wie Energie und Klima, sondern auch kleinere kommunale Anliegen – von der Renovierung des Rathauses bis zum Bau einer Teichbrücke oder der Sanierung der Eissporthalle. Die Zahl der Bürgerbegehren bleibt seit den 2000er-Jahren stabil, mit etwa 220 Begehren pro Jahr. "Für mich als Wissenschaftler ist diese Konstanz eine wichtige Aussage", sagt Sack. "Sie zeigt, dass Bürgerbegehren zur Normalität geworden sind." 

Auffällig ist der Anstieg an Bürgerbegehren in der lokalen Klimapolitik. Besonders die Zunahme an "Radentscheiden" und "Klimaentscheiden", die den Ausbau der Radinfrastruktur und kommunaler Klimaziele vorantreiben, sticht hervor. 

Auch wenn die Zahl der Bürgerbegehren niedrig erscheint, ist es wichtig, zu beachten, dass der Aufwand für ein Verfahren enorm ist. Bürger müssen Unterschriften sammeln, sich organisieren und formale Anforderungen erfüllen. Dieser Aufwand sorgt dafür, dass nur engagierte Bürger solche Initiativen anstoßen. Viele Begehren scheitern an der nötigen Stimmenzahl oder formalen Hürden wie schlecht formulierten Anträgen oder rechtlichen Problemen.
Selbst gescheiterte Bürgerbegehren haben eine Wirkung. Politiker greifen die Themen auf, auch wenn die Initiativen scheitern.


 "Das Scheitern eines Verfahrens
ist eine Aussage über den politischen Prozess.
Auch wenn es nicht zum Erfolg führt, kann es politische Entscheidungen in Gang setzen"

betont Detlef Sack. 


Solche Verfahren zeigen der Politik, welche Themen die öffentliche Debatte prägen.

Kleine Gemeinden unter 5.000 Einwohnern stimmen verhältnismäßig häufiger gegen klimabezogene Projekte. Das hat einen einfachen Grund: Menschen sind oft direkt von Projekten wie dem Bau von neuen Windkraftanlagen und Solarparks betroffen. Städtische Initiativen setzen sich umgekehrt eher für Klimaschutzmaßnahmen ein, weil sie die Lebensqualität verbessern, zum Beispiel durch mehr Fuß- und Fahrradwege oder weniger Verkehr.

In Bayern nehmen die Bürgerentscheide zur Windkraft zu, vor allem in ländlichen Gemeinden, wo viele Menschen eigentlich strikt dagegen sind. Ein Beispiel ist die Gemeinde Marktl, die im Juni dieses Jahres überraschend für den Bau von Windkraftanlagen gestimmt hat. Ein Grund für diese Entwicklung liegt im Wind-an-Land-Gesetz, das die Gemeinden verpflichtet, Flächen für Windkraft auszuweisen. Werden diese Vorgaben nicht erfüllt, können Windräder auch ohne Zustimmung der Gemeinde gebaut werden. Deshalb entscheiden sich immer mehr Kommunen dafür, Bürgerentscheide abzuhalten und den Standort von Windkraftanlagen mitzubestimmen.

"Manche Bürger sind überzeugt von der Windkraft, andere handeln eher pragmatisch", sagt der Bürgermeister von Marktl, Benedikt Dittmann. "Viele sagen: 'Lieber im Wald, wo sie weniger stören, als in der unmittelbaren Nähe der Wohngebiete'." Auch wirtschaftliche Überlegungen spielen eine Rolle. "Unsere chemischen Betriebe brauchen alle Energiequellen, da haben einige Bürger möglicherweise zum Wohle ihrer Arbeitgeber zugestimmt." Letztlich gehe es für einige darum, "das kleinere Übel" zu wählen. Wenn die Gemeinde die Flächen selbst festlegt, können Windräder an Orten errichtet werden, die weniger Konfliktpotenzial bergen, etwa im Staatsforst. Genau darüber entschied das Bürgerbegehren im Juni.

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