Die Schweiz ringt mit der EU um ein Abkommen, das den grenzüberschreitenden Stromhandel vereinfachen soll. Profitieren würden beide Seiten – trotzdem könnte sich eine Einigung noch hinziehen.
Die Geografie verschafft der Schweiz einen einmaligen Vorteil bei der Energieerzeugung: Stauseen in den Bergen und landesweit Hunderte Wasserkraftwerke sorgen dafür, dass 55 bis 60 Prozent des erzeugten Stroms im Land aus sauberer Wasserkraft stammt. Ein gutes Dutzend größerer Pumpspeicherkraftwerke macht es zudem möglich, Energie aus erneuerbaren Quellen auch zu speichern.
Bislang kann Europa das Potenzial der Wasserkraft aus den Schweizer Bergen jedoch nicht voll nutzen. Denn das Land ist nicht vollständig in den europäischen Strommarkt integriert. Ändern soll das ein Stromabkommen zwischen den Eidgenossen und der EU. Es soll zusammen mit weiteren bilateralen Abkommen bereits Ende des Jahres verabschiedet werden und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU grundlegend regeln.
Doch obwohl sich Diplomatenkreise zuversichtlich zeigen, dass die neuen bilateralen Abkommen gemäß Zeitplan verhandelt werden, könnte sich das Stromabkommen verzögern. Und das, obwohl sich Experten auf beiden Seiten einig sind, dass sowohl die Schweiz als auch die EU von einem Stromabkommen profitieren könnten.
So sagt Europaparlamentarier Andreas Schwab von der EVP: „Es steht außer Zweifel, dass ein Stromabkommen sowohl im Interesse der Schweiz als auch im Interesse der EU wäre.“
Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) bestätigt: „Der Zugang der EU zum Schweizer Strommarkt ist von großer Bedeutung, da die Schweiz aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Stromproduktion – insbesondere durch Wasserkraft – und ihrer Rolle als Transitland für den europäischen Stromhandel eine Schlüsselrolle im europäischen Stromnetz spielt.“
Versorgungssicherheit der Schweiz könnte leiden
Doch auch die Schweiz würde profitieren, unterstreicht Martin Koller, Strategiechef beim Schweizer Energiekonzern Axpo: „Mit dem Stromabkommen würden auch in der Schweiz die Strompreise mittel- und langfristig tiefer sein als ohne Stromabkommen.“
Das Stromabkommen sieht zwei wichtige Eckpunkte vor: Erstens soll das Schweizer Stromnetz vollständig in den EU-Binnenmarkt integriert werden. Zweitens soll der Endkundenmarkt in der Schweiz liberalisiert werden: Verbraucher könnten dann ihren Stromanbieter frei auswählen und auch Verträge mit Anbietern aus den Nachbarländern schließen. Bislang haben sie keine andere Wahlmöglichkeit als den lokalen Energieversorger.
Vor allem kleinere Schweizer Energieversorger wehren sich dem Vernehmen nach gegen zusätzlichen Wettbewerb – und bringen damit den gesamten Zeitplan beim Stromabkommen in Gefahr. Mit weitreichenden Folgen: Denn besonders der erste Pfeiler des Stromabkommens ist für die Schweiz von großer Bedeutung.
Der Grund: Die Strommengen, die über die Grenzen transportiert werden können, sind physikalisch begrenzt. Das hängt mit der Netzinfrastruktur wie Leitungen und Transformatoren zusammen. Daher versteigern die Übertragungsnetzbetreiber an die Händler das Recht, eine bestimmte Menge Strom zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa von der Schweiz nach Deutschland zu transportieren.
Axpo-Manager Koller sagt, die Auktionen von solchen sogenannten Grenzkapazitäten funktionierten grundsätzlich gut. Der Prozess sei jedoch etwas komplizierter als im voll automatisierten Handel im Strom-Binnenmarkt. „Es ist nicht perfekt effizient.“
Was die Situation verschärft: Ab 2025 verlangt die EU von ihren Mitgliedern, 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten im Stromhandel für andere Teilnehmer im Binnenmarkt zu reservieren. Ohne ein Stromabkommen bliebe die Schweiz außen vor. Axpo-Manager Koller zufolge hat das schon jetzt Auswirkungen. „Die Grenzkapazitäten der EU in Richtung Schweiz sind bereits deutlich gesunken.“
Das könnte besonders im Winter zum Problem werden, wenn die Schweiz mehr Energie verbraucht, als sie produziert, wie etwa der Thinktank Avenir Suisse warnt: „Gerade im Winter wird die Importfähigkeit der Schweiz und damit die Versorgungssicherheit reduziert.“
Koller ergänzt: „Darüber hinaus gibt es bestimmte Spezialmärkte, an denen die Schweiz bislang teilnehmen kann, bei denen jedoch ein Ausschluss droht.“ Dazu gehörten etwa Flexibilitätsmärkte, wie Batteriespeicher, die geladen oder entladen werden, um die Netzspannung stabil zu halten. Die EU-Vorgaben begrenzen jedoch diese Fähigkeit – und wirken so den eigentlichen Interessen Brüssels entgegen.
„Dies sind Teile des Strommarkts, die durch den Ausbau von erneuerbarer Energie enorm an Bedeutung gewinnen“, sagt Koller. Auch die Schweizer Pumpspeicherkraftwerke seien für diese Zwecke geeignet. Die Schweiz könnte so zu einer Art Batterie für das europäische Stromnetz werden.
Grüner Strom aus den Bergen auf Abruf
Der Vorteil der Wasserspeicher: „Die Kraftwerke können bei Bedarf sehr schnell Strom liefern“, sagt Koller. Er fügt hinzu: „Die Kapazität in der Schweiz, die innerhalb von Minuten abgerufen werden kann, ist relativ gesehen sehr groß. Sie ist sehr wichtig für die EU.“
Nutznießer eines Stromabkommens wäre neben der Schweiz unter anderem die Industrie in Süddeutschland, so Koller: Deutschland produziere viel Strom durch Windkraft im Norden, die größten Verbraucher gebe es jedoch im Süden. „Wenn bei erhöhter Nachfrage Reservekraftwerke im Süden einspringen, ist das tendenziell teurer, als wenn der Strom von Pumpspeicherkraftwerken kommt, die 50 Kilometer hinter der Grenze stehen und ohnehin am Markt sind.“ Er unterstreicht: „Ein Stromabkommen zwischen der EU und der Schweiz wäre daher vor allem für Süddeutschland sehr gewinnbringend.“
Auch der CDU-Abgeordnete Schwab, der den an die Schweiz grenzenden Wahlkreis Südbaden im Europaparlament vertritt, sagt: „Es ist ein großes Thema in Baden-Württemberg, zu Spitzenzeiten leichter Strom aus der Schweiz importieren zu können, etwa aus den Pumpspeicherkraftwerken.“ Das gilt auch für Bayern, wie vbw-Geschäftsführer Brossardt unterstreicht: „Angesichts der Energiebedarfe Bayerns und der zunehmenden Abhängigkeit von erneuerbaren Energien wäre eine enge Zusammenarbeit mit der Schweiz im Stromsektor von Vorteil.“
Bayern könnte künftig leichter Strom aus der Schweiz beziehen
Zwar könne Bayern bereits heute auf Strom aus der Schweiz zurückgreifen: „Allerdings ist dieser Prozess aufgrund der fehlenden formellen Integration der Schweiz in den EU-Strommarkt momentan erschwert.“ Brossardt ist daher überzeugt: „Ein Stromabkommen zwischen der EU und der Schweiz könnte diese Situation deutlich verbessern, da der Handel und die Nutzung von Speicherkapazitäten verbessert und somit die Integration von erneuerbaren Energien in Bayern gefördert würde.“
Aufseiten der Schweiz ist unter anderem Energieminister Albert Rösti von der europafeindlichen Schweizer Volkspartei für das Stromabkommen verantwortlich. Rösti befürwortet ein Abkommen zwar grundsätzlich, hat sich bislang jedoch auch nicht als Tempomacher bei den Verhandlungen hervorgetan. Und so könnte es passieren, dass Partikularinteressen in der Schweiz ein für beide Seiten wichtiges Abkommen noch verzögern.
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