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Die Kolumne von Christian Stöcker im Spiegel am 2.2.25 hier
Migration und Sicherheit: Friedrich Merz fällt auf den Psychotrick der AfD herein
Das Narrativ vom »gefährlichen Ausländer« gehört zum Markenkern der AfD. Sie hat es mit langem Atem strategisch in den Mainstream eingeschleust und die Union überlistet: mit gezielter Realitätsverzerrung.
Die zentrale Position der AfD ist: Migration sei gefährlich, Migranten schadeten Deutschland. Die AfD ist eine in großen Teilen rechtsextreme Partei, will zwischen »echten« und »falschen« Deutschen unterscheiden.
Das Narrativ von der Gefahr durch Migranten pflegen die Partei und ihre Vorfeld- und Hilfsorganisationen hingebungsvoll. Die AfD hat dazu eine Reihe von Kampfbegriffen entwickelt und in den öffentlichen Diskurs eingeschleust. »Messermänner« zum Beispiel.
Wie viele Muslime leben in Deutschland?
Die Strategie der Partei basiert auf einer kognitiven Verzerrung, der alle Menschen unterliegen, der Verfügbarkeitsheuristik: Wenn wir etwas häufiger hören oder lesen, es uns also leichter »verfügbar« ist, dann erscheint es uns auch wahrscheinlicher.
Das hat viele gut belegte Auswirkungen. Viele Menschen glauben zum Beispiel, der Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerung sei viel höher, als er in Wirklichkeit ist. Bei einer internationalen Studie im Jahr 2016 schätzten Deutsche im Durchschnitt 21 Prozent Muslime, richtig waren 5 Prozent. Das war unter anderem ein Propagandaerfolg von Pegida.
Aber zurück zur AfD. Ein Erfolg für die Partei ergab sich zum Beispiel nach der Silvesternacht 2015/16, als in Köln viele Frauen auf der Domplatte bedrängt und begrapscht worden waren.
Der Presserat macht einen folgenschweren Fehler
Im Anschluss übten unter anderem die AfD und ihre scheinbar spontan agierenden Fans – aber auch die CSU – solchen Druck aus , dass der Deutsche Presserat im März 2017 eine sinnvolle Grundregel aufgab : Die Formulierung, dass »in der Berichterstattung über Straftaten die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt wird, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht«.
Seit dem 22. März 2017 lautet die »Richtlinie 12.1« des Pressekodex nun so: »In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt.«
In der Praxis hat die Änderung dazu geführt, dass viele Medien die Nationalität von Tatverdächtigen jetzt häufig nennen – mit Folgen. Zitat aus einer Expertise des Journalismusforschers Thomas Hestermann von 2019: »Verglichen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt sich daraus ein stark verzerrtes Bild: Während die Polizei 2018 mehr als doppelt so viele deutsche wie ausländische Tatverdächtige erfasste, kommen in Fernsehberichten mehr als 8 und in Zeitungsberichten mehr als 14 ausländische Tatverdächtige auf einen deutschen Tatverdächtigen.« Und weiter: »Wenn das Fernsehen über in Deutschland lebende Eingewanderte und Geflüchtete berichtet, dann zu 34,7 Prozent als mutmaßliche Gewalttäter. In überregionalen Zeitungen ist dieser Anteil mit 22,1 Prozent geringer.«
Die Verzerrung wirkt
Die Folge: In einer Befragung der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien stimmten 2022 fast 24 Prozent der Befragten folgender Aussage »völlig« zu: »Durch die Zuwanderung von Flüchtlingen kommen vor allem mehr Gewalttäter in unser Land.« Weitere 37,3 Prozent stimmten »eher« zu. Es leben Millionen Geflüchtete in Deutschland. Die gigantische Mehrheit ist friedlich und unbescholten.
Die AfD und ihre Verbündeten haben auf diese Verzerrung mit strategischen Erfolgen wie der Pressekodex-Änderung hingewirkt, andererseits mit anlassbezogenen Aktivitäten. Etwa, als in Chemnitz 2018 ein Deutsch-Kubaner einem Messer-Angriff durch Geflüchtete zum Opfer fiel. Hunderte von Rechtsextremen marschierten anschließend in der Stadt auf, manche zeigten Hitlergrüße und skandierten rechtsextreme Parolen. AfD-Größen wie Björn Höcke und andere Rechtsextreme organisierten einen »Trauermarsch«. Ein rechter Mob griff ein jüdisches Restaurant an.
Damals stand der Konsens der demokratischen Parteien gegen Verallgemeinerung der Taten Einzelner noch halbwegs: Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verurteilte die »politische Instrumentalisierung durch Rechtsextremisten« als »abscheulich«. Mittlerweile hat Kretschmer mit politischer Instrumentalisierung offenbar kein Problem mehr. Nach der Tat von Aschaffenburg sprach er von einer »Stunde der Wahrheit« in der Migrationspolitik.
Der »Ticker« voller Fehler
Ein weiteres Werkzeug der AfD bei der Durchsetzung des Narrativs vom gefährlichen Ausländer war der sogenannte Einzelfallticker, der, pseudoironisch benannt, die Erzählung transportieren soll, dass es sich bei Straftaten durch Zuwanderer eben nicht um »Einzelfälle« handele. Wenig überraschend nimmt man es dabei nicht sehr genau: Eine Überprüfung des ARD-Faktenfinders ergab 2023 , dass knapp die Hälfte der damals untersuchten 171 Meldungen des »Einzelfalltickers« gar keine Hinweise auf die Nationalität des mutmaßlichen Täters enthielten. In zwei weiteren Fällen sei der genannte Tatverdächtige sogar explizit als Deutscher ausgewiesen worden.
Mittlerweile existiert auch der demokratische Konsens, die »diskriminierende Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens« zu vermeiden, augenscheinlich nicht mehr. Schon nach dem Anschlag in Solingen, bei dem mutmaßlich ein Syrer drei Menschen tötete und acht verletzte, sprach Friedrich Merz von einer »nationalen Notlage« und forderte eine Abschottung der Grenzen. Als ob Menschen, die nach Deutschland flüchten, sämtlich potenzielle Mörder wären. Nach der Tat von Aschaffenburg, wieder begangen von einem ausreisepflichtigen Asylbewerber, fragte Merz rhetorisch: »Was soll denn noch passieren?«
Die AfD feiert
Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien sagte im Deutschlandfunk, die Tat sei eine »Zäsur« und viele Menschen hätten das »Gefühl«, dass der Staat nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. Markus Söder behauptete, die »unkontrollierte Zuwanderung« gefährde »die Sicherheit unserer Bürger«.
Das ist der eigentliche Erfolg der AfD: Die Union hat ihr seit zehn Jahren gepflegtes Narrativ übernommen.
Es bleibt falsch, aber auch Journalistinnen und Journalisten reproduzieren es mittlerweile. »Wie wird Deutschland wieder sicher?«, fragte Caren Miosga ihren Studiogast Hendrik Wüst (CDU). Die richtige Antwort lautet: Deutschland ist sehr sicher – außer man ist eine Frau oder im Visier von Rechtsextremen.
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Herkunft und Gewalt
In Deutschland werden jeden Tag mehr als 700 Menschen Opfer häuslicher Gewalt . Im Durchschnitt jeden zweiten Tag wird eine Frau von ihrem eigenen Partner oder Ex-Partner getötet. Von 2022 auf 2023 stieg die Zahl der gemeldeten Fälle der Opfer häuslicher Gewalt um 6,5 Prozent. Von einer nationalen Femizidnotlage hat man Friedrich Merz aber noch nicht reden hören.
Rechtsextreme haben in Deutschland von 1990 bis 2020 mindestens 187 Menschen getötet . Islamistische Attentäter etwa zwei Dutzend Menschen. Zwischen diesen Taten und anderen Tötungsdelikten, die von Menschen mit Migrationshintergrund verübt wurden, gibt es einen großen Unterschied: Es gibt einen Kausalzusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Gewalt, zwischen radikalem Islamismus und Gewalt. Aber nicht zwischen Herkunft und Gewalt.
Die Zahl der Tötungsdelikte (Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, Kindestötung, fahrlässige Tötung und strafbare Schwangerschaftsabbrüche) pro 100.000 Einwohner ist nicht stark angestiegen. Sie lag laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2021 bei 3,6, in den Jahren 2022 und 2023 bei 3,7. Das sind die niedrigsten Werte der vergangenen 30 Jahre.
Es gibt keine »Notlage«
Richtig ist: Die Zahl der Gewaltdelikte, die auch Körperverletzungen (fast drei Viertel der Fälle) und Raubdelikte (21 Prozent der Fälle) umfasst, ist 2022 und 2023 – nach dem offiziellen Ende der Pandemie – stark gestiegen . Sie ist aber immer noch weit weg von einem Höchststand. 2007 regierte die Union mit der SPD. Damals wurden fast 4000 Gewaltdelikte mehr gezählt als 2023. Bei wesentlich weniger Menschen in Deutschland. Eine »Notlage« herrscht aktuell also keineswegs.
In den Jahren 2002 bis 2012 wurden hierzulande zusammengenommen 4094 Menschen ermordet . Von 2013 bis 2023 waren es insgesamt 3385, also 709 Opfer weniger als in den elf Jahren davor. Obwohl im zweiten Zeitraum die Bevölkerung um mehr als drei Millionen Menschen wuchs, viele davon Geflüchtete aus Syrien und der Ukraine.
Die Zahlen der Fälle von Totschlag und Tötung auf Verlangen (leider weist die Statistik diese Zahlen nicht getrennt aus) schwanken, am höchsten war die Zahl in den vergangenen zehn Jahren 2016 (2066 Opfer) und 2020 (1994 Opfer). 2023 lag sie bei 1842, also wiederum weit von einem vermeintlichen Höchststand entfernt.
Deutschland muss nicht »wieder« sicher werden.
Es ist eins der sichersten Länder der Welt.
Ordnet man die Länder der Erde nach der Wahrscheinlichkeit , einem Mord zum Opfer zu fallen, liegt Deutschland auf Platz 175 (Zahlen von 2021). In einigen unserer Nachbarländer lebt man deutlich gefährlicher, etwa in Frankreich, Belgien oder Großbritannien.
Richtig ist: Der Tatverdächtige von Solingen und der Tatverdächtige von Aschaffenburg
waren ausreisepflichtig , der Mann in Aschaffenburg vermutlich psychisch krank. Der Täter von Magdeburg war ebenfalls psychisch auffällig und polizeibekannt. Hätten die zuständigen Ministerien und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Arbeit gemacht, hätte viel Leid verhindert werden können.
Die wahren Probleme sind andere
Selbstaktivierter Terrorismus und Gewalttaten psychisch auffälliger Einzeltäter sind echte Probleme moderner Gesellschaften – man denke an die Schulmassenmorde in den USA. Migration als vermeintliche Ursache dieser Probleme ist ein psychologisch scheinbar plausibler, aber objektiv falscher Kurzschluss.
Das Bundeskriminalamt benennt als »Risikofaktoren« für die Kriminalität von Geflüchteten »die Lebenssituation in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie wirtschaftliche Unsicherheit und Gewalterfahrungen«. Die »Nettomigration (wie viele Zugewanderte bleiben?)« betrachtet das BKA explizit als zweitrangig.
Die Propaganda wirkt
Bis Anfang 2023 lag die Anzahl der Menschen, die den Themenkomplex »Ausländer, Migration, Flüchtlinge« für das »wichtigste Problem in Deutschland« hielten, immer irgendwo zwischen drei und zehn Prozent . Dann begannen Friedrich Merz (»kleine Paschas«, »Die lassen sich die Zähne neu machen« ) und Jens Spahn (»mit physischer Gewalt aufhalten«), das Thema intensiv zu bespielen. Am 27. September 2024 hielten 42 Prozent Migration für das wichtigste Problem. Das ist keine Veränderung der Realität, sondern eine Veränderung der Realitätswahrnehmung. Die Verfügbarkeitsheuristik tut ihr Werk. Die AfD freut sich.
Interessanterweise lag die Zahl derer, die Migration als wichtigstes Thema betrachten, am 24. Januar 2025 – nach dem Anschlag von Aschaffenburg – »nur noch« bei 27 Prozent, sie ist also seit September wieder deutlich gefallen. Die Wirtschaftslage beschäftigt die Deutschen mehr.
Ein großer strategischer Sieg für die AfD ist die Entwicklung trotzdem – und eine gewaltige strategische Niederlage für Friedrich Merz.
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