Freitag, 21. April 2023

Genialer Artikel zum Zivilen Ungehorsam: "Protestieren erlaubt, Selbstjustiz noch nicht"

Süddeutsche Zeitung hier  19. April 2023, Von Ronen Steinke

rechts: Demo im Altdorfer Wald

Die Klimaziele, die Deutschland verfehlen wird, sind geltendes Recht - doch die Bundesregierung ignoriert ihre Verpflichtungen. Rechtsbrüche aus Protest sind aber nicht gestattet. Bislang.

Die Klima-Aktivisten aus ganz Deutschland, die in diesen Tagen Berlin "lahmlegen" wollen, unterscheiden sich von vielen anderen Demonstrierenden auf eine für den Rechtsstaat sehr interessante Weise. Sie protestieren nicht einfach dagegen, dass sie mit ihrer politischen Meinung nicht gehört werden. Oder dass die Bundesregierung aus ihrer Sicht schlecht regiert oder schlechte Gesetze produziert, was ja immer Ansichtssache ist. Das wäre alltäglich. Sondern: Diese Aktivisten protestieren dagegen, dass die Regierung gegen Recht verstößt, dessen Verbindlichkeit man kaum wegdiskutieren kann.

Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung auf deutlich unter zwei und möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, ist nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Artikel 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht. Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss von März 2021 die Lage auch noch einmal deutlich auseinandergesetzt - Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich; dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.

Kann man da als Bürger, als Bürgerin eigentlich 110 wählen? Kann man sich an eine höhere Autorität wenden und auf ein Einschreiten hoffen, zur Abwendung dieser konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit? Nein, das kann man natürlich nicht, und das versetzt Bürgerinnen und Bürger in eine vertrackte, ungewohnte Lage. In dieser Situation gehen nun die Klima-Aktivisten auf die Straße. Sie entscheiden sich, ihrerseits das Recht zu brechen. Sie nennen es "zivilen Ungehorsam". Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.

Ein Stau wegen Streikblokade verbessert die CO₂-Bilanz zunächst kaum

Die Hitzewellen, die Europa jeden Sommer heimsuchen und dabei mehr und mehr alte und obdachlose Menschen das Leben kosten, oder die Dürren, die das Getreide auf dem Feld verdorren oder gar verbrennen lassen und auf diese Weise Landwirte an deren Eigentum schädigen: Solche Folgen des übermäßigen CO₂-Ausstoßes sind natürlich nicht in irgendeiner präzisen Weise einer deutschen Regierung unmittelbar zurechenbar. So weit kann der Vorwurf nicht gehen. Aber wahr ist schon: Wo das Recht den Regierenden normalerweise weite Spielräume belässt, das Risiko auch von CO₂-Ausstößen einzugehen, da setzt das Pariser Klima-Abkommen diesen Spielräumen jetzt eine klare Grenze.

Deshalb liegt es nahe zu überlegen, ob den Demonstrierenden hier nicht ein Recht zusteht, selbst einzuschreiten. Was die Klima-Aktivisten tun, wenn sie sich in Berlin auf Straßen kleben, sieht auf den ersten Blick aus wie eine Nötigung der Bundesregierung: Eine Straßenblockade mit großem Rückstau bringt für die Verbesserung der CO₂-Bilanz ja unmittelbar gar nichts, genauso wenig wie Kartoffelbrei, der auf ein Monet-Bild im Museum geklatscht wird. Es geht natürlich nicht um Selbsthilfe gegen CO₂. Sondern darum, der Regierung mit einem "empfindlichen Übel" zu drohen, wie es im Nötigungsparagrafen 240 des Strafgesetzbuchs formuliert ist, nämlich mit der Fortsetzung solcher Aktionen. Mit dem Ziel, die Regierung zum Einlenken zu zwingen.

Das Ungewöhnliche daran ist: Die Täter verlangen nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. Das ist eine besondere Situation, die jeden Strafrichter erst einmal perplex machen muss. Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an einer Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen. Sicher: Das wäre eine Einschränkung von dessen Freiheit. Aber eigentlich keine, über die er sich so recht beschweren dürfte. Schon deshalb sind die Klima-"Aktionstage" in Berlin keine strafbare Nötigung zulasten der Regierung. Schon deshalb sind Vergleiche mit den einstigen Versuchen der RAF in den 1970er-Jahren, die Regierung Helmut Schmidts zu erpressen, abwegig. Dass man jemanden nötigt, die Regeln einzuhalten - das ist "ziviler Ungehorsam" von der wirklich bravsten Sorte.

Und trotzdem: Illegal ist es. Die vielen kleinen Rechtsbrüche, die jetzt im Namen des "zivilen Ungehorsams" in Berlin geplant oder schon begangen werden, sind nicht alle pauschal rechtens, nur weil sie aus guten, letztlich rechtstreuen Motiven begangen werden. Das gilt selbst, wenn die Klima-Aktivisten gern auf den sogenannten rechtfertigenden Notstand verweisen, den Paragrafen 34 des Strafgesetzbuchs: "Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt."

2030 muss Deutschland dann wirklich Fortschritte nachweisen

Angenommen, man würde eine solche Klima-Selbstjustiz rechtlich billigen - wie es bisher lediglich einmal, im vergangenen November, das Amtsgericht Flensburg getan hat, in einem Urteil, das aber noch nicht rechtskräftig geworden ist -, es wäre ein Dammbruch. Wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel steht wie die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Spezies Mensch, dann überwiegt das locker alles andere. Den Straßenverkehr, das Hausrecht, das Eigentum, alles. Dann wäre in dieser Logik auch die Zerstörung von Autos gerechtfertigt. Ein Stich in den Reifen des 300-PS-SUV. Oder auch eine Drohung gegen die Bundesregierung mit einem viel größeren "empfindlichen Übel" als bloß das bisschen Berliner Verkehrsverstopfung. Die juristische Billigung des "zivilen Ungehorsams" wäre, wie es der Augsburger Strafrechtler Michael Kubiciel kürzlich auf den Punkt gebracht hat, "systemsprengend".

So bitter es ist: Die Rechtsordnung kann nicht jedem Einzelnen erlauben, zur Abwendung von Gefahren, die alle betreffen, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Und sozusagen mit der Mistgabel durch das Dorf zu laufen und nach Gutdünken für Ordnung zu sorgen - also Aufgaben zu übernehmen, die an das staatliche Gewaltmonopol abgegeben wurden. Sicher: Wenn es um Attacken auf Individuen geht, hat jeder Mensch das Recht zur Notwehr. Aber wenn es um die großen, politischen Fragen geht, dann müssen Menschen sich zusammentun und sie gemeinsam besprechen und regeln, anstatt dass jeder sie allein in die Hand nimmt und sich mit Zwang gegenüber anderen durchsetzt. Und wenn jemand zu "zivilem Ungehorsam" greift, dann ist das unter Umständen aller Ehren wert. Aber dann gehört auch dazu, dass man seine Strafe annimmt.

So ist die Lage in diesem April 2023, während in Berlin die "Aktionstage" beginnen. Allerdings muss es dabei nicht unbedingt bleiben. Die Dinge sind in Bewegung. Die klimapolitische Situation spitzt sich zu. Nicht nur, weil in den Worten des Bundesverfassungsgerichts "das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel" zunimmt, wie es im Klimabeschluss von 2021 heißt. Sondern auch, weil die Bundesregierung bei ihrem jüngsten Koalitionsgipfel so wenig Bereitschaft gezeigt hat, ihren Rückstand bei den Klimazielen aufzuholen, sprich: sich an die verbindlichen Regeln zu halten. Das Jahr 2030 ist nicht mehr weit. Das ist das Jahr, bis zu dem Deutschland nach dem Pariser Abkommen zwingend Fortschritte vorweisen muss.

Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben können, dass der Staat ein Unrecht stoppt, dann hat das rechtliche Folgen. Bei einer "Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens" kann ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 denkbar sein, so hat es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit "zivilem Ungehorsam" auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren "zivilen Ungehorsam" irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.

Hoffen wir, dass es so weit nicht kommt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen