Samstag, 22. April 2023

"Kommunen plädieren für flächendeckendes Tempo 30" - Wissing verweigert

 Film von NTV hier 30.01.2023 

Städtetag will Verkehrsrecht ändern

Bislang ist Tempo 30 auf Hauptstraßen nur bei Gefahrensituationen möglich. Doch einige Kommunen würden gern städteweit die Geschwindigkeit auf den Straßen drosseln. Nach dem Willen des Städtetages soll Tempo 30 von den Kommunen künftig eigenmächtig eingeführt werden können.


Zeit hier  30. Januar 2023

Städtetag fordert Autonomie bei Entscheidung über Tempo 30

Kommunen sollen eigenmächtig Tempo 30 stadtweit einführen können, fordert der Städtetag. Das sei "sicherer, klimaschonender und gesünder" als Tempo 50.

Der Deutsche Städtetag will, dass Kommunen künftig eigenmächtig stadtweit Tempo 30 einführen können. "Städte, die dies wollen, sollten auch ein generelles Tempolimit von 30 Kilometer pro Stunde anordnen können und nur auf ausgewählten Hauptverkehrsstraßen Tempo 50 oder eine andere Geschwindigkeit zulassen", sagte der Hauptgeschäftsführer, Helmut Dedy, der Rheinischen Post.
Er forderte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) auf, das Verkehrsrecht entsprechend anzupassen.

Städte sollten "selbst entscheiden können, wo es sicherer, klimaschonender und gesünder wird, wenn nicht Tempo 50 gilt. Es darf nicht immer Jahre und viele Gutachten brauchen, bis sich etwas ändert", sagte Dedy. "Wir brauchen mehr Handlungsfreiheit vor Ort, zum Beispiel für sichere Schulwege für unsere Kinder."

Am Donnerstag will der Städtetag, ein Bündnis aus kreisfreien und kreisangehörigen Städten und Gemeinden, bei einer Konferenz seiner Forderung Nachdruck verleihen. Schon auf seiner Tagung vergangene Woche in Chemnitz hatte der Städtetag eine Resolution verabschiedet und den Bund aufgefordert, vom Bundestag beschlossene Empfehlungen umzusetzen.

Der kommunale Spitzenverband unterstützt laut Rheinischer Post damit die Initiative Lebenswerte Städte aus Hunderten Kommunen, die sich dafür einsetzt, dass Kommunen dort, wo sie es notwendig finden, die Höchstgeschwindigkeit auf 30 Kilometer pro Stunde innerorts festlegen können.


Deutschlandfunk hier  28.02.2023

Klimagerechte Verkehrspolitik: Was bringt Tempo 30?

Über 500 Kommunen fordern mit einer Initiative mehr Selbstbestimmung der Verkehrsplanung vor Ort und die Einrichtung von mehr Tempo-30-Zonen. Auch Umweltschützer plädieren für eine Tempodrosselung auf den Straßen. Was spricht dafür, was dagegen?

Im Streit um klimagerechte Verkehrspolitik spielt die Forderung nach einem Tempolimit eine zentrale Rolle, sei es auf Autobahnen oder im innerstädtischen Verkehr. In Deutschland gibt es bisher nur vereinzelt Tempo-30-Zonen und diese meistens auch nur auf kurzen Strecken oder zu bestimmten Zeiten. Seit 1957 gilt innerorts die Regelgeschwindigkeit von 50 km/h.

Um die Voraussetzungen für die Einrichtung von mehr Tempo-30-Zonen zu vereinfachen, haben sich über 500 Städte, Gemeinden und Landkreise zusammengeschlossen. Doch als Bremser erweisen sich nicht nur rechtliche Bestimmungen, sondern auch das Bundesverkehrsministerium.

Was will die Initiative erreichen?

Über 500 Städte, Gemeinden und Landkreise engagieren sich in der Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“. Das repräsentiert mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung, so Medienberichte. Darunter sind auch Großstädte wie Leipzig, Freiburg, Köln und Bremen. Sie wollen mehr Mitspracherechte, also selbst darüber entscheiden dürfen, wann und wo welche Geschwindigkeiten angeordnet werden. Der Deutsche Städtetag unterstützt die Idee. Aktuell entscheidet das der Bund. Und sie setzen sich mit Tempo 30 für ein umweltverträgliches Geschwindigkeitsniveau auch auf den Hauptstraßen ein.

Sie fordern den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, ohne Einschränkungen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts überall dort anordnen zu können, wo sie es für notwendig halten. Sie wollen maßgeschneiderte Maßnahmen, denn die Fachleute vor Ort kennen mögliche Unfallschwerpunkte, die mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung entschärft werden können. Und sie wissen um die konkreten Abgasmessungen an bestimmten Hauptstraßen, die reduziert werden könnten.

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gibt es?

Aktuell ist es nicht so einfach, ein Tempolimit durchzusetzen. Es gibt komplizierte Einzelregelungen, die noch aus den 1950er-Jahren stammen und meistens nur für bestimmte Abschnitte, etwa vor Schulen, Altenheimen oder Kitas genehmigt werden. Bei Hauptstraßen gibt es dagegen weiterhin relativ hohe rechtliche Hürden für eine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsgesetz sind Bundessache und diese müssten geändert werden. So steht es auch im Koalitionsvertrag: „Zukünftig sollen neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs auch die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden“, erklärte das zuständige Bundesverkehrsministerium auf ARD-Anfrage.

Im Koalitionsvertrag heißt es auch etwas allgemein, dass man den Kommunen mehr Entscheidungsspielraum geben wolle, aber einen konkreten Gesetzentwurf gibt es noch nicht. Es geht um Paragraph 46 in der Straßenverkehrsordnung, der geändert werden müsste.

Laut Bundesverkehrsministerium können die Kommunen bereits jetzt aus vier Gründen Tempo 30 anordnen: zum Schutz vor Lärm und Abgasen, bei einer besonderen Gefahrenlage, vor Schulen, Altenheimen und Kindergärten und schließlich in Wohngebieten. Aus dem Ministerium von FDP-Politiker Volker Wissing heißt es, dass man Ländern und Kommunen aber Spielräume eröffnen wolle, und einen Vorschlag einer Länderarbeitsgruppe nun rechtlich prüft.

Was bringt Tempo 30 Anwohnern, Verkehrsteilnehmern und der Umwelt?

Das Umweltbundesamt hat die Auswirkungen einer Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts auf Verkehr sowie auf Lärm und Luftschadstoffe in einem Verkehrsmodell erforschen lassen. Grundlage waren Simulationen in den drei Beispielstädten Göttingen, Halle und Ravensburg.

Den Untersuchungen zufolge ergaben sich überwiegend positive Wirkungen. So könnte die Lärmbelästigung stadtweit deutlich gesenkt werden. Besonders an den Hauptverkehrsstraßen lasse sich durch Tempo 30 eine enorme Lärmentlastung feststellen, gleichzeitig werde die Auto-Mobilität und der Einfluss auf das Vorankommen nicht übermäßig eingeschränkt (0 bis 4 Sekunden je 100 Meter). Wichtiger für den Verkehrsfluss seien andere Faktoren – wie die Schaltung der Ampelanlagen, die Anzahl der querenden Fußgänger und Bushalte, Parkvorgänge oder das Halten in zweiter Reihe.

Bürger würden aktuell sehr am Verkehr leiden, meint etwa der FDP-Oberbürgermeister von Springe, Christian Springfeld. „Da wo es spannend ist, das sind tatsächlich häufig diese Ortsdurchfahrten, die auch oft kurvenreich sind, und wenn man dort verlangsamen könnte, das hätte die größten Auswirkungen.“ Er hofft, dass die Kommunen in Berlin gehört werden.

Nur wenige Effekte gab es auf den Schadstoffausstoß: Die CO2-Emissionen würden kaum beeinflusst, während andere Luftschadstoffe, die durch den Straßenverkehr entstehen, leicht zurückgingen.

Tempo 30 habe dagegen enorme Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. Es gebe tendenziell weniger Unfälle mit weniger schwerwiegenden Folgen. Denn Unfallschwere und Unfallzahl nähmen schon wegen der physikalischen Zusammenhänge grundsätzlich mit steigenden Geschwindigkeiten zu.

Grafik zeigt den Bremsweg bei Tempo 30 (Reaktionszeit: 8,3 m, Bremsweg: 5 m, Anhalteweg: 13,3 m) und Tempo 50 (Reaktionszeit: 13,9 m, Bremsweg: 13,8 m, Anhalteweg: 27,7 m)

So ist der Anhalteweg bei Tempo 30 um die Hälfte kürzer als bei Tempo 50. Das heißt: Ein Fahrzeug steht bei Tempo 30 bereits, während ein Fahrzeug mit Tempo 50 noch unverändert schnell unterwegs ist. Die bei einem Zusammenstoß umzuwandelnde Energie ist bei diesem Tempo fast dreimal so hoch wie bei Tempo 30.

Welche Kritik gibt es an den Forderungen?

Verlangsamter Verkehr und die Sorge vor Stau sind die häufigsten Kritikpunkte, wenn es um ein Tempolimit geht. Umwelt- und Gesundheitsverbänden wie der Weltgesundheitsorganisation WHO geht die Initiative dagegen nicht weit genug. Die Deutsche Umwelthilfe DUH fordert etwa in geschlossenen Ortschaften bundesweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit. Tempo 50 würde so zur Ausnahme werden.

Das geht vielen aber zu weit. Das Bundesverkehrsministerium antwortete auf Nachfrage des Dlf, man sei von zwei Dingen nicht überzeugt: Erstens wolle man nicht flächendeckend Tempo 30 und zweitens wolle man keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Durchgangsstraßen.

Einen individuellen Mittelweg vollzieht zum Beispiel die Stadt Stuttgart, in der wegen der hohen Schadstoffbelastung in weiten Bereichen Tempo 40 vorgeschrieben wird.

Diese flexiblen Lösungen wünscht sich auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund anstelle einer Regelgeschwindigkeit von 30 km/h. „Der Verkehr muss fließen. Wenn er stockt, gibt es auch mehr Umweltbelastung“, argumentierte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg im Dlf. Hauptverkehrsstraßen sollten daher beim Tempo 50 bleiben.

Auch das Argument, mit einer Tempodrosselung lasse sich der Lärm reduzieren und das Klima schonen, trage nicht auf Dauer, gibt Landsberg zu bedenken. „Die Bundesregierung hat ja als Ziel 15 Millionen Elektroautos. Dann ist das Emissionsthema im Prinzip durch und das Lärmthema auch.“ Dem widerspricht das Umweltbundesamt allerdings und betont, dass die Lärmbelastung auch von Reifen- und Windgeräuschen bestimmt wird. Außer beim Anfahren und bei Geschwindigkeiten bis etwa 25 km/h seien Elektroautos genauso laut wie Fahrzeuge mit klassischem Verbrennungsmotor. Daher könnten sie auch kein alleiniges Mittel zur Minderung des Straßenverkehrslärms darstellen.

Wie verbreitet ist Tempo 30 in anderen europäischen Städten?

Europaweit ist man bei diesem Thema in einigen Städten schon weiter: In Spaniens und Frankreichs Städten setzt man schon seit 2020/21 überwiegend auf Tempo 30. Ähnlich sieht es in Brüssel, Helsinki und Graz aus.

Die Drosselung der Innerortsgeschwindigkeit hatte den ersten Erfahrungen nach vor allem messbare Auswirkungen auf die Sicherheit: In den teilnehmenden französischen Städten hat es seit der Einführung von Tempo 30 im Jahr 2020 70 Prozent weniger Verkehrstote gegeben, in Brüssel seit 2021 55 Prozent weniger. Die Anzahl der Radfahrenden stieg dagegen um 20 Prozent.

In Helsinki kamen seit Einführung von Tempo 30 2019 keine Radfahrenden oder Fußgänger mehr zu Tode. In Graz gab es zwei Jahre nach der Einführung 25 Prozent weniger Unfälle mit Personenschaden, zudem sind sie weniger schwer als in anderen Städten. An der Luftverschmutzung hat sich dort allerdings nichts geändert.

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