Samstag, 15. April 2023

"Macht uns die Globalisierung reicher? Oder zu entschlossenen Kämpfenden für die Freiheit? Oder gar beides?

hier  12.04.2023  

Die Kolumne: Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.

Seit gut zwanzig Jahren höre ich von dem Phänomen „Globalisierung“. Erstmals in Kontakt kam ich mit dem Begriff durch ein Abo der Familienzeitung „taz“. Damals gab es auf dem herrlich heruntergeranzten Campus der FU Berlin regelmäßig wechselnde Stände verschiedener Zeitungen, die Probeabos an die Studierenden verhökerten.

Wenn das eine Abo abgelaufen war, konnte man geschwind kündigen und das nächste Blatt abonnieren, so dass der Briefkasten immer prall mit Zeitungspapier gepolstert war. Besonders dankbar war das „Neue Deutschland“, weil sich das Probeabo selbstständig abbestellte, was ich schon damals als besonders sozialistisch empfand. Andererseits hatte die „taz“ die tolleren Prämien, unter anderem den super aufwendig gestalteten „Atlas der Globalisierung“.

In diesem Atlas wurden verschiedene globale Phänomene grafisch eindrücklich in Beziehung gesetzt. Unter anderem wurde festgestellt, dass zwischen Ländern Handelsrouten existieren (teilweise auch über Ozeane hinweg), dass Klimaerwärmung in Nordamerika auch das Wetter in Ägypten beeinflusst und dass Nationalstaaten vor allem Profitinteressen verfolgen.

Eine besondere Bedeutung schien das Wetterphänomen „El Niño“ zu haben, das gleich auf mehreren Seiten gewürdigt wurde. Ich hatte sofort das Gefühl, dass El Niño in meiner näheren Zukunft eine große Rolle spielen würde. Heute bin ich ein wenig enttäuscht, so wenig von El Niño zu hören, aber wahrscheinlich ist das Phänomen vom globalen Klimakollaps auch etwas überschattet. Die Widersprüche der Globalisierung, so der Tenor, würden jedenfalls unweigerlich Widerstand erzeugen, dieser Widerstand Protestbewegungen, und diese Protestbewegungen zu einer demokratischen und gerechteren Gesellschaft führen.

Andere Medien schienen unter Globalisierung etwas völlig anderes zu verstehen: Es ging dabei darum, mit so vielen despotischen Regimen wie möglich ins Geschäft zu kommen. Durch die Macht der Marktwirtschaft, so deren Beispielrechnung, würden automatisch neue Ideen in die entsprechenden Weltregionen gespült, der Appetit auf Konsumgüter, neue Autos und aufregende Fernsehprogramme würde geweckt, was wiederum eine schlagartige Demokratisierung nach sich ziehen würde. Die Despoten würden vom Thron gestoßen, Republiken gegründet, Freiheit maximiert, und hinterher hätte man dabei sogar noch gutes Geld verdient.

Wenn ich jetzt meinen alten Atlas der Globalisierung durchblättere, werde ich ziemlich wehmütig, weil damals die naturnotwendige Demokratisierung der Welt für alle Beteiligten direkt vor der Tür stand. Das Gegenteil ist ja der Fall: Die formidablen Geschäfte mit den Despoten haben diese immer nur reicher und sattelfester gemacht und zusätzlich die Demokratien in katastrophale Abhängigkeiten geführt. Die aufregenden Fernsehprogramme passen sich den Autoritären an und nicht umgekehrt. Die Widersprüche der Globalisierung bringen Verschwörungsgläubige und Rechtsradikale hervor und keine widerständigen Demokrat*innen.

Ich bleibe dennoch sorglos: Entweder wurde die Globalisierung einfach nur nicht entschlossen genug betrieben, oder die Widersprüche sind noch nicht zugespitzt genug. Folglich werden wir alle entweder noch sehr viel reicher mit der Globalisierung, oder zu noch entschlosseneren Freiheitskämpfenden. Ich persönlich freue mich auf beides!



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