Mittwoch, 19. April 2023

Meilenstein für Fit for 55: EU-Parlament beschließt Ausweitung des Emissionshandels

 Zeit hier  18. April 2023

Künftig soll die Pflicht zum Kauf von Verschmutzungsrechten für mehr Branchen gelten, Gratisrechte sollen entfallen. Ursula von der Leyen spricht von einem "Meilenstein".

Das EU-Parlament hat eine Reform für die Emissionshandel-Regeln beschlossen, die den Mechanismus zum Kauf von Verschmutzungsrechten ausweitet. Die Pflicht dazu soll künftig auch für den Schiffsverkehr und den Gebäudesektor gelten. Das Reformprojekt, dem noch die Mitgliedsländer zustimmen müssen, ist Teil des Klimaplans Fit for 55. Damit will die EU ihren Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken. 

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete das Parlamentsvotum auf Twitter als "Meilenstein". Der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese, der die Ausweitung des Mechanismus mitverhandelt hat, bezeichnete sie gar als "größtes Klimaschutzgesetz aller Zeiten".

FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler lobte die Reform ebenfalls. "Damit macht die EU vor, wie Klimaziele mit marktwirtschaftlichen Instrumenten garantiert erreicht werden", sagte er. So werde nationales "Mikromanagement" überflüssig. (da ist Sven Giegold im vorhergehenden Post anderer Meinung)

Anteil vom Handelssystem erfasster Emissionen soll sich fast verdoppeln

Die Reform umfasst auch weitere Schritte: Fluggesellschaften, die für Flüge innerhalb der EU bereits ebenfalls Emissionszertifikate kaufen müssen, erhalten künftig schrittweise weniger kostenlose Zertifikate. Ab 2026 müssen sie die Verschmutzungsrechte komplett selbst bezahlen. In Abhängigkeit von einer noch zu erstellenden Studie sollen ab 2028 auch Müllverbrennungsanlagen in das Handelssystem einbezogen werden.

Auch Gratisrechte für die Industrie werden auf ähnlichem Weg gekürzt und entfallen vollständig bis 2034. Insgesamt sollen künftig 75 Prozent der EU-Emissionen von dem Handelsmechanismus erfasst sein. Derzeit liegt der Anteil bei 40 Prozent.

CO₂-Ausstoß fünfmal teurer als vor drei Jahren

Dadurch soll in den betroffenen Sektoren die Verteilung von Emissionsrechten bis 2030 um 62 Prozent im Vergleich zu 2005 sinken, was den Ausstoß weiter verteuern soll. Der Emissionshandel gilt als Kernelement der Klimaschutzstrategie der EU, da er klimaschädliche Produktion verteuert und klimafreundliche Produktion durch die Möglichkeit, weniger Rechte kaufen zu müssen oder überschüssige Rechte über die Börse zu verkaufen, verbilligt. Dadurch kostet der Ausstoß von einer Tonne CO₂ inzwischen bei fast 100 Euro – fünfmal mehr als vor drei Jahren.

Zudem stimmten die Abgeordneten für einen verbesserten Schutz europäischer Unternehmen. Künftig müssen auch Produzenten im Ausland für den Ausstoß von CO₂ zahlen, wenn sie ihre Ware in der EU verkaufen wollen. Ein Klimasozialfonds soll Mehrausgaben für Verbraucherinnen durch die Energiewende, etwa in Form steigender Heizkosten, ausgleichen.

Der Fonds soll von den Erträgen des Handels finanziert werden, also den Einnahmen aus dem Emissionshandel für Gebäude, Straßenverkehr und das verarbeitende Gewerbe. Für die siebenjährige EU-Haushaltsperiode geht es dabei um eine Summe von bis zu 65 Milliarden Euro.



 

NDR-Podcast  hier



Süddeutsche Zeitung hier   18. April 2023,Von Josef Kelnberger, Brüssel

Europäisches Klimagesetz:Wie die EU klimaneutral werden soll

Mit dem Gesetzespaket "Fit for 55" will die EU den Weg in die Klimaneutralität ebnen. Die drei wichtigsten Änderungen wurden nun beschlossen.

Die Einigung über das wichtigste Klimagesetz der Europäischen Union war am Ende eine schwarz-grüne Koproduktion. Viele Stunden lang hatten die Unterhändler des Europaparlaments, der 27 Mitgliedsländer und der Kommission in Brüssel schon nach Kompromissen gesucht. Doch noch immer meldete die deutsche Bundesregierung Bedenken an, ob die Unternehmen nicht zu sehr unter den neuen Regeln leiden würden. Da entschlossen sich die Europa-Abgeordneten Peter Liese von der CDU und Michael Bloss von den Grünen, führende Klimapolitiker ihrer Fraktionen, zu einem gemeinsamen nächtlichen Telefonat mit Berlin. Sie machten dem Kanzleramt klar, dass nun wirklich nichts mehr zu holen sei. Und so gab es am frühen Morgen des vierten Advents 2022 eine Einigung über die Reform des Europäischen Emissionshandels (ETS).

Peter Liese und Michael Bloss durften sich auch am Dienstag als Sieger fühlen, als das Europaparlament bei seiner Plenarsitzung in Straßburg den damals gefundenen Kompromiss nun mit großer Mehrheit bestätigte. Liese hat das ETS-Gesetz seit Herbst 2021 als "Berichterstatter" federführend für das Parlament betreut, Bloss war in all den Monaten sein Partner und zugleich Widersacher - ein Knochenjob angesichts der Komplexität und der Bedeutung der neuen Regeln.

Dass das Parlament mit breiter Mehrheit zustimmt, kommt überraschend

....Dass das Parlament nun mit so breiter Mehrheit zustimmte, kam überraschend. Denn der Klimaschutz ist auch auf europäischer Ebene in einen Kulturkampf geraten, der sich in Deutschland gegen die Grünen und deren vermeintliche Regulierungswut richtet. "Volkserziehung" warf der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz den Grünen vergangene Woche bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung vor, den europäischen Emissionshandel dagegen rühmte er als vorbildlich. Denn der gilt als rein marktwirtschaftliches Instrument.

Wenn die Zahl der CO₂-Zertifikate verknappt wird, steigt im Handel deren Preis. Dieses Preissignal veranlasst wiederum die Unternehmen dazu, in ihrer Produktion nach klimafreundlichen Alternativen zu suchen. Welche Wege sie dabei gehen, bleibt aber ihnen selbst überlassen. So weit die Theorie hinter den Zertifikaten. Tatsächlich aber werden bestimmte Unternehmen mit kostenlosen Zertifikaten versorgt, damit sie international konkurrenzfähig bleiben. Diese kostenlosen Zertifikate sollen nun bis 2034 wegfallen, weil die EU im Gegenzug den CO₂-Grenzzoll für Importe einführen will. Ob sich der Zoll gegen Handelspartner wie die USA politisch durchsetzen lässt, muss sich erweisen. So ist auch der Emissionshandel in der Praxis nicht die reine Marktwirtschaft, sondern Gegenstand politischer Regulierung.

Noch mehr Regulierung braucht die europaweite Einführung eines ETS-Systems für Wohnen und Verkehr, wie es in Deutschland schon besteht. In der Theorie wären damit regulierende Klimagesetze überflüssig: das bereits beschlossene Verbrenner-Aus zum Beispiel oder auch die kürzlich von der Kommission im Entwurf vorgestellte Gebäude-Effizienzrichtlinie. Sie wird von Gegnern als "Sanierungszwang" verunglimpft, als europäisches Pendant zum "Heizverbot" des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck.

In der Praxis aber wären viele Menschen in Europa überfordert von immer weiter steigenden Preisen für Heizen und Autofahren. Deshalb wird nun aus den Einnahmen, die der Emissionshandel den EU-Staaten beschert, ein Klimasozialfonds in Höhe von 86 Milliarden Euro gespeist. Mit dem Geld können die Regierungen zwischen 2026 und 2032 in eigener Regie ärmeren Menschen beim klimafreundlichen Umstieg helfen. Grüne, Sozialdemokraten und Linke im Parlament bemängeln bereits, der Fonds sei viel zu knapp bemessen.

Ob aber dieser neue Emissionshandel tatsächlich wie geplant 2027 in Kraft tritt, steht keineswegs fest. Sollten die Energiepreise bis dahin schon stark gestiegen sein, wird er erst einmal um ein Jahr verschoben. In dem Fall wären wohl auch marktliberale Klimaschützer froh, wenn die klassischen Methoden der Regulierung greifen: Gesetze, die die Autoindustrie Richtung E-Mobilität lenken oder Hausbesitzer zur Sanierung anhalten, verbunden allerdings mit gezielten staatlichen Hilfen.

Nun müssen noch alle Regierungen zustimmen. Das soll kommende Woche geschehen

Am Dienstag war im Parlament erst einmal allseits die Erleichterung groß, dass die drei wichtigsten Teile des Fit-for-55-Pakets unter Dach und Fach sind: Emissionshandel, CO₂-Grenzausgleich, Klimasozialfonds. "Es gibt unter den Abgeordneten echte Helden", schrieb schon nach dem Durchbruch am vierten Advent Ottmar Edenhofer, Chefökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Peter Liese, seit jeher ein Verfechter des Emissionshandels, wertet es als besonderen Erfolg, dass er den neuen Emissionshandel für Gebäude und Verkehr trotz anfänglichen Widerstands der Grünen durchsetzen konnte. Michael Bloss verweist darauf, dass die Emissionen durch die Reform noch stärker gesenkt werden, als es die EU-Kommission in ihrem Entwurf vorsah.

Der Rat der Mitgliedsländer muss dem Paket nun noch zustimmen, die Abstimmung ist für nächste Woche geplant. Bislang ist nicht absehbar, dass Regierungen in letzter Minute ausscheren und Nachbesserungen fordern, wie es FDP-Verkehrsminister Volker Wissing beim Verbrenner-Aus tat.

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