Tempolimit: Der nächste Koalitionskrach naht bei Tempo 30 in Städten
SPD und Grüne fordern mehr Klimaschutz im Stadtverkehr. Der jüngste Koalitionsbeschluss hilft ihnen, Minister Wissing zum Einlenken zu bewegen.
Es ist zwar nur ein Adjektiv, das sich im jüngsten Beschluss des Koalitionsausschusses von SPD, Grünen und FDP findet. Es hat aber das Zeug für einen neuerlichen Krach rund um den Klimaschutz. „Zeitgleich“ wollen SPD, Grüne und FDP das Klimaschutzgesetz ändern und ebenso das Straßenverkehrsrecht, wie es im „Modernisierungspaket“ der Ampel heißt.
Bei beiden Projekten hatte es bislang mächtig gekracht, vor allem zwischen FDP und Grünen. Damit sollte Schluss sein. Nun aber sorgt das Adjektiv „zeitgleich“ dafür, dass die selbsternannte Fortschrittskoalition wieder einmal stillsteht.
Mit der Reform des Klimaschutzgesetzes soll Bundesverkehrsminister Volker Wissing nicht mehr jedes Jahr ein Sofortprogramm vorlegen müssen, wenn der Verkehrssektor seine Klimaziele verfehlt. Statt ständiger Debatten über Tempolimits und anderer Verbote soll die Regierung das Gesamtziel im Blick behalten. Spart etwa die Industrie mehr ein, als sie muss, dann kann dies mit dem zu viel emittierten Kohlendioxid im Verkehr verrechnet werden.
Für die Grünen ist dies eine unangenehme Botschaft an die eigene Klientel. Schließlich galt es als Erfolg der Vorgängerregierung, dass jeder Minister verbindlich Klimaschutz betreiben muss.
Umso wichtiger ist es für die Klimaschutzpartei, dass sich beim Straßenverkehrsrecht etwas tut: Dort sollen künftig auch „die Ziele des Klima- und Umweltschutzes“ Berücksichtigung finden und nicht nur wie bisher allein die Ziele eines sicheren und fließenden Autoverkehrs maßgeblich sein. Bürgermeister und Stadtparlamente könnten also künftig leichter Zebrastreifen, Ampeln oder Tempo-30-Zonen beschließen.
640 Gemeinden fordern mehr Freiheit für Tempo 30
Swantje Michaelsen, zuständige Berichterstatterin der Grünen im Bundestag, drängt auf baldige Änderungen: „Wir brauchen endlich eine Infrastruktur, in der alle Menschen sicher unterwegs sind.“ Sie verweist auf eine Initiative von inzwischen 640 Gemeinden, die mehr Spielraum für eine lebenswerte Stadt fordern.
„Die Kommunen wollen Flexibilität“, sagt auch SPD-Berichterstatter Mathias Stein. Er erwartet, dass das Verkehrsministerium Tempo macht und „in den nächsten Wochen etwas vorlegt“.
Michaelsen sagt, SPD wie Grüne wollten einen „Paradigmenwechsel, mit dem künftig die Kommunen mehr Entscheidungsspielräume bekommen und nicht ein Bundesgesetz durch einen engen Rahmen sichere Infrastruktur ausbremst“. Wissing aber lehnt ab, erst recht ein Tempo 30 auf innerörtlichen Hauptstraßen.
Zweimal berieten die Berichterstatter der Koalition mit dem Ministerium. Doch eine Einigung ist nicht in Sicht. In einem „Arbeitsentwurf“, der dem Handelsblatt vorliegt, schlägt das Ministerium nur kleine Änderungen vor. Eine Kommune müsste demnach nachweisen, dass eine Regelung tatsächlich die Umwelt schützt und dabei nicht den sicheren und fließenden Verkehr beeinträchtigt.
„Der Referentenentwurf des Verkehrsministers muss umsetzen, was im Koalitionsvertrag steht“, fordert Michaelsen. So fehlt das Wort „Klimaschutz“ gänzlich. Der erste Vorschlag der Beamten sei „nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben“, sagt auch Stein.
Wie SPD und Grüne fordern die Landesverkehrsminister ebenfalls mehr Spielraum. Sie haben unter Leitung des Hamburger Verkehrssenators Anjes Tjarks (Grüne) Vorschläge erarbeitet. Es geht um Busfahrstreifen und „Umweltspuren“ für E-Autos, die Kommunen leichter ausweisen können, sowie um bessere Fußgängerüberwege. Das Bundesministerium will daraus eine kleine Reform der Straßenverkehrsordnung auf den Weg bringen. Dies sei aber kein Ersatz für eine große Reform, hieß es in Hamburg.
Vorfahrt für Radfahrer und Fußgänger
Die Straßenverkehrsordnung sei „eher eine strikte und in Teilen veraltete ,One size fits all‘-Lösung“, kritisiert Senator Tjarks. Er nennt als Beispiel die Tempo-30-Regelung. „Hier haben die Städte und Kommunen bislang einen viel zu geringen Entscheidungsspielraum, um wirklich die für die örtlichen Gegebenheiten angemessene Höchstgeschwindigkeit anzuordnen“, sagt er. „Dies wollen wir ändern.“
Im Kleinen ändert sich bereits etwas, so bei den Regeln für den Straßenraum, die die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen aufstellt. In dem Gremium legen Praktiker und Wissenschaftler Regelwerke für den Straßenverkehr fest, bei denen bisher das Auto im Zentrum stand. Erstmals in der hundertjährigen Geschichte gilt nun: Vorfahrt für den Fuß- und Radverkehr auf Stadtstraßen. Radwege, Fahr- und Schutzstreifen sollen künftig breiter ausfallen als bisher. So wenig Fläche wie möglich soll für Parkplätze verbraucht werden, so viel wie möglich für Grünflächen.
„Es muss etwas passieren bei der Stadtstraßengestaltung“, sagt der Arbeitsgruppenvorsitzende Jürgen Gerlach, Professor an der Universität Wuppertal. Es gebe großen Spielraum, um planerisch die Menschen dazu zu bewegen, weniger mit dem Auto und mehr mit dem Rad oder zu Fuß zu erledigen. Demnächst könne ein „Klimacheck für die Verkehrsplanung“ folgen. Mit ihm würden unabhängige Stellen überprüfen, ob bei der Verkehrsplanung im Bebauungsplan möglichst viel Klimaschutz betrieben wird.
Doch über allem steht das Gesetz. „In der ersten Jahreshälfte“, so heißt es, will das Ministerium einen Entwurf für das Straßenverkehrsrecht vorlegen. Danach erst beginnt der parlamentarische Prozess. „Bis zum Jahresende“ könne der Bundestag eine Entscheidung treffen, sagt Michaelsen.
So lange wird es auch kein neues Klimaschutzgesetz geben. Für Wissing könnte es bis dahin unangenehm werden: An diesem Montag wird der Expertenrat für Klimafragen bestätigen, dass Autos, Lastwagen, Bahn, Schiff und Flugzeuge 2022 erneut weit mehr Treibhausgasemissionen verursacht haben, als sie laut Klimaschutzgesetz dürfen.
Wissing bleiben drei Monate, um, wie gesetzlich vorgegeben, ein wirksames Sofortprogramm vorzulegen. Nebenbei sind Klagen von Umweltverbänden vor Gerichten anhängig, weil die Klimaziele verfehlt werden und die bisherigen Sofortprogramme nicht ausreichen. Der Minister vertritt die Haltung: „Nicht das Verkehrsministerium hat die Klimaziele verfehlt, sondern die Gesellschaft insgesamt.“ Alle, die mobil seien, verursachten Emissionen. Diese wiederum ließen sich nicht kurzfristig reduzieren, da die Menschen nun mal mobil sein müssten.
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