Samstag, 15. April 2023

„Beim Klimaschutz hilft Atomkraft kein bisschen“

ES ist vorbei!
Was für ein unendliches Drama, von Menschen inszeniert, die noch nicht einmal bereit sind, die Folgekosten/Schäden zu schultern.
Markus Söder z.B., der eine Atom-Endlagerstätte in Bayern kategorisch ausschließt, aber trotzdem weiter machen will mit der Atomkraft.
Verantwortung übernehmen sieht anders aus, meine ich.

Hier noch ein paar letzte, durchaus interessante Artikel und dann muss endlich Schluss sein! Wir müssen nach vorne gehen und uns nicht mit der Vergangenheit selbst im Weg stehen!

Die Frankfurter Rundschau hat Jürgen Trittin als Ex-Umweltminister zur Sache befragt. 

Die WiWo steuert einen ganz neuen Aspekt "Recourssen-Verknappung" zur Sache bei.

Spektrum der Wissenschaft erinnert an die seit 2019 ausstehenden, dringend notwendigen Sicherheitsprüfungen

Und der Standard - der schaut nach Italien

Frankfurter Rundschau  hier  15.04.2023,  Daniela Vates

Kommentar: Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) über das Ende der AKW, zwischenzeitliche Rückschritte und die weitere Energiewende.

Herr Trittin, auf wie vielen Anti-Atomkraft-Demos waren Sie?

Das habe ich nicht gezählt. Es waren sehr viele. Die letzte sehr große gab es 2011 gegen die von der damaligen Bundesregierung aus Union und FDP geplante Laufzeitverlängerung. Da haben wir mehr als 200 000 Menschen auf die Straße gebracht. Leider haben wir Union und FDP trotzdem nicht von ihrem Vorhaben abhalten können. Das hatte sehr teure Folgen für die Steuerzahler: Die Entschädigungsfreiheit des rot-grünen Atomausstiegs war dahin. Die Betreiber bekamen 2,1 Milliarden Euro.

Eingefädelt hat den Atomausstieg die erste rot-grüne Bundesregierung. Sie waren als Umweltminister dabei, als 2003 das erste Atomkraftwerk in Stade vom Netz ging. Am 15. April endet nun die Laufzeit der letzten AKW. Was ist das für ein Gefühl?

Das ist schon ein Tag von großer Bedeutung, auch persönlich. Ein Kapitel wird abgeschlossen. Damit ist ein wesentlicher Teil der deutschen Energiewende vollzogen – und zwar im vorgesehenen Zeitrahmen. Auch bei einem anderen sind wir weit gekommen: Die Energiewende besteht gerade nicht ausschließlich aus einem Ausstieg, sondern vor allem und insbesondere einem Einstieg in den Ausbau erneuerbarer Energien. Damals redeten wir von einem Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung von 4 Prozent. Heute wird die Hälfte des Stroms erneuerbar hergestellt. Das ist mehr als doppelt so viel, als die Atomkraft jemals geliefert hat. Aber es ist nicht das Ende der Geschichte: Die Herausforderung der Energiesicherung bei steigendem Strombedarf bleibt bestehen. Und sie ist noch größer als damals.

Wie schwierig war der Einstieg in den Ausstieg?

Er hatte einen Vorlauf: Die damalige rot-grüne niedersächsische Landesregierung mit Schröder als Ministerpräsident und mir als Minister hatte vergeblich versucht, das störanfällige AKW Stade vom Netz zu bekommen. In der Bundesregierung wählten wir dann einen anderen Weg: Wir setzten auf Konsens mit den Energiekonzernen und auf eine gesetzliche Begrenzung der Laufzeiten.

Welcher Verhandlungen waren dabei die härtesten?

Es gab massiven Widerstand aus der Energiewirtschaft, und aus dem Bundesverband der Deutschen Industrie, die erst mal zu Verzögerungen geführt haben. Letztlich haben die Unternehmen aber zugestimmt und sogar auf Schadenersatz verzichtet. Großen Anteil hatte daran der damalige Wirtschaftsminister Werner Müller ...

... der vorher beim Energiekonzern RWE gearbeitet hatte.

Er fand Atomkraft gut, war aber zu der Überzeugung gekommen, dass die Kunden diese Energieerzeugungsart nicht mehr wollen und sie auch nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Er wollte einen geordneten Ausstieg. Und den haben wir trotz des Rückschlags 2010 am Ende hinbekommen.

Sie meinen die Laufzeitverlängerung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung 2010. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 war die wieder vom Tisch. Kanzlerin Merkel stellte fest, Atomkraft sei zu riskant und drehte auf Ausstieg. Sind Sie ihr dankbar?

In einem Punkt bin ich mir mit Angela Merkel einig: Dankbarkeit ist keine politische Kategorie. Sie hat eingesehen, dass die Laufzeitverlängerung einen Konsens in der Gesellschaft verletzt und die Planungssicherheit der Unternehmen über den Haufen wirft. Aber vorher hatte ihre Regierung die Laufzeitverlängerung ohne Beachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten durchgepeitscht.

Der Unterschied zu anderen Ländern ist, dass wir den Ausstieg geordnet vollziehen. Das schafft Planungssicherheit und finanziellen Spielraum, auch für den Aufbau von Ersatzkapazitäten. Es ist auch nicht so, dass die ganze Welt wie verrückt in Atomkraft investiert. Seit 20 Jahren geht die Zahl der Atomkraftwerke weltweit zurück. Neu gebaut wird vor allem in China – das ist wohl kaum das Vorbild. In Europa sind nur zwei Atomkraftwerke im Bau, eines in Frankreich, eines in Finnland. Bei beiden hat sich die Bauzeit mehr als verdoppelt, die Kosten haben sich mehr als verdreifacht. In Frankreich musste das Unternehmen durch Verstaatlichung vor dem Konkurs gerettet werden. Im Saldo sind im vorletzten Jahr weltweit 0,4 Gigawatt Atom-Stromkapazitäten netto ans Netz gegangen. An Erneuerbaren wurden aber 250 Gigawatt Kapazitäten neu gebaut.

Für die Reaktoren wird auch ins Feld geführt, dass sie klimafreundlicher seien, weil sie wenig Kohlendioxid ausstoßen.

Beim Klimaschutz hilft eine Nischentechnologie wie die Atomkraft, die nicht mal 5 Prozent der Welt Primärenergie liefert, kein bisschen. Nach dem Internationalen Sachverständigenrat für Klimawandel IPCC sind Atomanlagen zehn Mal so klimaschädlich wie ein Windrad. Übrigens haben die gleichen Leute, die jetzt Atomenergie fürs Klima empfehlen, versucht, den Ausbau CO2-armer erneuerbarer Energien zu verhindern.

Die FDP fordert nicht den Neubau von AKW, sondern den Weiterbetrieb der bestehenden drei Meiler bis mindestens 2024.

Das würde den Staat sehr viel Geld kosten. Geld, das (Finanzminister, Anm. d. Red.) Christian Lindner angeblich nicht hat. Dreieinhalb Monate Laufzeitverlängerung bis April haben eines belegt: Wir haben beim Strom kein Versorgungsproblem, sondern Überkapazitäten. Deshalb können wir exportieren – deshalb müssen wir teuer CO2-freie Windräder abschalten, damit Kohle und Atom weiterlaufen. Ansonsten: Will die FDP das Uran dann wieder aus Russland holen? Will sie uns in die gleiche Abhängigkeit von Rosatom (die russische Atombehörde, Anm. d. Red.) bringen wie weite Teile Osteuropas? Wir haben uns gerade beim Gas aus der Abhängigkeit befreit. Dieses Geschäft möchte ich Putin nicht gönnen.

Was ist mit der Warnung, dass Deutschland sich nicht aus einer Technologie verabschieden sollte, weil es für den Fall von Fortschritten in diesem Bereich auch hierzulande Experten braucht?

Seit 50 Jahren heißt es, es werde irgendwann Fortschritte bei der Atomkraft geben. Bisher ist das nicht wirklich passiert. Stattdessen ist sie immer teurer und weniger wettbewerbsfähig geworden.

Ist es gut, Atomstrom aus dem Ausland zu importieren?

Nach der Exportbilanz ist Deutschland mit der Energiewende zum Nettoexporteur von Strom geworden.

Offen ist noch die Lagerung von radioaktivem Müll. Eigentlich sollte bis 2050 ein Standort gefunden sein. Laut der Bundesgesellschaft für Endlagerung könnte es nun bis in die 2060er-Jahre dauern. Ist das nachvollziehbar?

Das Thema Atommüll zeigt, wie unverantwortlich der Einstieg in die Atomenergie war. Man hat eine Technologie gefördert, ohne zu wissen, was man mit dem daraus produzierten gefährlichsten Müll der Welt machen wird. Das ist eine Erblast für kommende Generationen. Schon allein deswegen kann es keine Laufzeitverlängerung geben: Das würde noch mehr Atommüll bedeuten. Die Standortsuche muss schneller gehen. Hier wäre Planungsbeschleunigung wirklich angebracht.

Ausgerechnet jetzt, wo die Grünen ihr Atomausstiegsziel erreicht haben, ist es für die Partei laut Umfragen wieder schwerer.

Im Vergleich zu (Wirtschaftsminister, Anm. d. Red.) Robert Habecks Aufgaben heute hatten wir es beim Atomausstieg vergleichsweise einfach. Wir mussten uns nur mit sehr großen Unternehmen und der dahinterstehenden Industrielobby auseinandersetzen und mit den Gewerkschaften, die Mitarbeiterabbau bei den Energiekonzernen befürchteten. Jetzt geht es darum, nicht nur die Stromerzeugung und die Industrie zu dekarbonisieren, sondern auch den Bereich Wärme und Mobilität. Das sind keine abstrakten Kraftwerke mehr, sondern Veränderungen im Alltag der Bürger, bei der Heizung, beim Auto. Das birgt natürlich Konfliktpotenzial. Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass wir Grünen aus diesem Prozess gestärkt hervorgehen.


WiWo hier  Interview von Stefanie Claudia Müller 14.4.23

„Deutschland trifft eine mutige Entscheidung, die Risiken mit sich bringt“

Die letzten deutschen Atommeiler gehen vom Netz. Auch im Ausland sorgt diese Entscheidung für Aufsehen. Der spanische Klimaforscher Antonio Aretxabala glaubt, dass Deutschland viel früher mit der Energiewende hätte beginnen sollen. Jetzt gäbe es viele Kollateralschäden.

Antonio Aretxabala ist ein Mann der klaren Worte, ein häufiger Gast bei internationalen Konferenzen im Bereich Energie und Klimawandel und Berater von Institutionen und Unternehmen. Kurzum: Er ist einer, der sich auskennt mit den Energiewirtschaften dieser Welt. Doch deutsche Energiepolitik hat der spanische Wissenschaftler nach eigenen Worten nie richtig verstanden. Den blinden Ausbau von Windparks genauso wenig wie das Behalten der Kohle-Kraftwerke. Den Ausstieg aus der Nuklearenergie hält er jedoch für mutig. Als Professor für Bodenmechanik, Geomorphologie und Geotechnik glaubt er, dass die Ressourcenverknappung letztendlich alle Staaten auf deutschen Weg bringen wird.  

WirtschaftsWoche: Was halten Sie davon, dass am Samstag die letzten Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden?

Antonio Aretxabala: Es ist eine mutige Entscheidung, die kurzfristig viele Risiken und Opfern mit sich bringen wird, langfristig aber Vorteile. Der Rest der Staaten wird folgen, früher oder später. Klüger wäre es jedoch gewesen, die Energiewende schon in den 70er-Jahren einzuleiten, dann müsste jetzt nicht so irrational gehandelt werden, dass Nuklearenergie durch Kohle ersetzt wird. Seien wir nicht naiv – hinter dieser deutschen Entscheidung, aus der Nuklearenergie auszusteigen, stecken knallharte Fakten: Es gibt immer weniger Uran. Und es ist auch keine wirklich effiziente Energie – nicht zu vergleichen mit den billigen und hocheffizienten fossilen Brennstoffen, die uns ebenfalls ausgehen und die uns politisch abhängig machen. Die deutschen Entscheidungen beruhen auf Studien und haben weniger einen umweltpolitischen Hintergrund. Die Anreicherung von Uran erfolgt übrigens zu einem Großteil in Russland, was auch zu diesem Schritt geführt hat.

Welche Opfer wird Deutschland jetzt bringen müssen?

Das Land wird nicht mehr wachsen können. Im Gegenteil: Die Wirtschaft wird schrumpfen, weil nicht genug günstige Energie zur Verfügung steht. Die Öfen der deutschen Schwerindustrie können nicht mit Windenergie und grünem Wasserstoff in diesem Maße am Laufen gehalten werden, das ist eine Illusion. Fossile Brennstoffe werden teurer, sind knapp und führen zu nicht gewollten geostrategischen Abhängigkeiten. Das hat natürlich alles soziale und wirtschaftliche Folgen für die Deutschen. Aber wir werden alle an diesen Punkt kommen.

Ist die aktuelle deutsche Regierung daran schuld?

Es ist kein Prozess, den eine bestimmte Regierung herbeigeführt hat. Es ist die Konsequenz der aktuellen Ressourcenknappheit. Es gibt kein grünes Wachstum. Es ist irreführend, den Menschen zu verstehen zu geben, dass wir wachsen können, ohne Rohstoffe zu verbrauchen. Der Klimawandel ist nur eine der Auswirkungen der wirtschaftlichen Expansion und der Globalisierung. Wir dürfen das Massensterben Tausender Arten nicht aus den Augen verlieren, die für uns kostenlose Ökosystemarbeit leisten, um die Umwelt zu erhalten, die unsere Existenz garantiert. Das Massensterben der Insekten, von denen wir für die Bestäubung abhängig sind, ist eine Katastrophe, ganz zu schweigen von den mehr als 250 Millionen Spatzen, die seit den 80er-Jahren gestorben sind. Wir werden das alles teuer bezahlen. Auch die Landwirtschaft wird sich radikal ändern müssen. Sie hat die Böden zerstört und zum Beispiel in Spanien nicht vorhandenes Wasser verschwendet, was jetzt wiederum einen Einfluss auf unser aller Leben hat. Wir handeln derzeit einfach nicht effizient mit dem ganzen Müll, den wir produzieren.

Antonio Aretxabala ist  Professor für Bodenmechanik, Geomorphologie und Geotechnik. Derzeit arbeitet er unter anderem an der Universität Zaragoza in Spanien. Er war technischer Direktor des Bereichs Stahlbeton und Böden an der Universität von Navarra.

Er ist Experte für die Verknappung von Energie- und Bodenschätzen in der Bauwirtschaft und forscht über Technologien zur Gewinnung fossiler Brennstoffe sowie über den Klimawandel.


Spektrum der Wissenschaft  hier  von Christian Schwägerl  14.4.23

Finales Kernkraft-Aus: Unser Problem ist nicht der Atomausstieg

Am 15. April endet eine Ära in Deutschland. Wer das aus Klimaschutzsicht bedauert, übersieht einige wichtige Punkte und einen ganz zentralen, sagt Christian Schwägerl. Ein Gastkommentar.

Der 15. April 2023 wird in Deutschland viele Emotionen freisetzen, so viel ist sicher. Atomkraftgegner dürfen nach 50 Jahren Protest erleben, wie die vorerst letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Polizisten werden sich mit Unbehagen an die gescheiterten Versuche des Staates erinnern, den Konflikt um die Nutzung der Atomkraft zu befrieden. Wirtschaftsvertreter werden das Kernkraft-Aus öffentlich bedauern und sich um steigende Strompreise sorgen.

Und jene Parteien, die heute vehement fordern, doch an der Atomkraft festzuhalten, werden weiter mit ihrer eigenen Entscheidung hadern müssen – hatten sie doch den Ausstieg 2011 im Bundestag mit schwarz-gelber Mehrheit selbst beschlossen. Ihre Nachfolger haben die damals gesetzte Frist lediglich um dreieinhalb Monate verlängert, um die befürchteten Engpässe im Krisenwinter 2022/2023 abzufangen. Die sind allerdings ausgeblieben, insofern mischt sich auch Erleichterung in den Reigen der aktuellen Gefühle.

Kaum zu glauben, dass bei so viel Emotion die Kernkraftnutzung in Deutschland anfangs ein durch und durch rationales Projekt war. Der 1938 in Berlin entdeckten Kernspaltung schien aus technisch-wissenschaftlichem Kalkül heraus die Zukunft zu gehören. Zuerst entstanden reihenweise Kernforschungszentren, dann ging zwischen 1966 und 1989 fast jedes Jahr ein Reaktor ans Netz, und sogar ein Atomfrachter wurde auf die Meere geschickt, die »Otto Hahn«. Schon früh diente der Klimaschutz als Argument für die Atomkraft: »Wer mehr Kohle verbrennen will, ist ein Verbrecher an unseren bioklimatischen Verhältnissen und an der nächsten Generation«, sagte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1987 in einer Fernsehdiskussion.

Im Grunde schleicht sich Deutschland seit den 1980er Jahren aus der Kernkraft

Doch die Kernkraft hatte in Deutschland keine Zukunft. Dafür war der Widerstand in der Gesellschaft mitverantwortlich, den die Grünen ins Parlament trugen, ebenso wie kühle wirtschaftliche Erwägungen. Schon in den 1980er Jahren gingen aber auch Regierung und Energiekonzerne die eigentlich notwendigen Schritte für einen Ausbau der Kernkraft nicht mehr mit: keine Wiederaufbereitungsanlage, keine Schnellen Brüter – und schon seit 1990 auch keine neuen Reaktoren mehr, auch als es noch möglich gewesen wäre. Seitdem verwaltet Deutschland im Grunde nur noch die Restlaufzeiten seiner AKW. Über einen Anteil von 32 Prozent am Stromverbrauch kam die Kernkraft nie hinaus. Und der Stromverbrauch, das wird oft vergessen, macht wiederum nur ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs aus.

Warum weiter Kohle, aber keine Kernkraft?

Trotzdem ist die Frage natürlich berechtigt, ob man angesichts der existenziellen Gefahren durch den Klimawandel nicht eine andere Reihenfolge für den Umstieg auf erneuerbare Energien hätte wählen müssen: als Erstes raus aus der CO2-intensiven Kohlekraft, dann aus der Erdgasverbrennung – und erst zuletzt aus der Kernkraft. Die bisherige Atomkraftnutzung verlief in Deutschland weitgehend unfallfrei, die Gefahr eines GAUs bestand nie. Und einige Betriebsjahre mehr hätten die Menge an Atommüll nur unwesentlich vergrößert.

    Wer den Weiterbetrieb der AKW fordert, müsste ehrlich sagen, 
dass die Anlagen womöglich auf ungewisse Zeit gar nicht zur Verfügung stehen

So kann man argumentieren. Aber vielfach werden dabei – neben der nach wie vor ungelösten Langzeitdeponierung des Abfalls – wichtige Faktoren übersehen. Zum einen ist der CO2-Ausstoß aus Kohlekraftwerken bereits längerfristig eng limitiert. Für jede Tonne Treibhausgas müssen die Betreiber ein Zertifikat erwerben – und wenn heute mehr Kohlestrom eingesetzt wird, stehen anderswo oder in den Folgejahren weniger Erlaubnisscheine zur Verfügung. Die Gesamtmenge an Emissionen wird über mehrere Jahre hinweg begrenzt. Wer sie erhöhen und zusätzliche CO2-Zertifikate auf den Markt werfen wollte, wäre mit heftigem Widerstand konfrontiert.

Zudem sind Kernkraftwerke komplexe technische Anlagen. Die periodische Sicherheitsüberprüfung der drei verbliebenen Anlagen ist seit 2019 überfällig. In Neckarwestheim wurden etwa bereits 35 Probleme im Rohrsystem entdeckt. Die drei verbleibenden Reaktoren müssten zuerst in eine unabsehbar lange Generalrevision. Wer den Weiterbetrieb fordert, müsste ehrlich sagen, dass die Anlagen womöglich auf ungewisse Zeit gar nicht zur Verfügung stehen – oder dass auf eine grundlegende Sicherheitsüberprüfung verzichtet werden soll. Wie so oft in der Energiedebatte ist die Realität komplizierter, als plakative Forderungen es erkennen lassen.

Ein Weiterbetrieb bräuchte neue Reaktoren

Die einzig wirklich relevante Frage im Umgang mit der Kernkraft ist, ob man jetzt auch in Deutschland neue Reaktoren bauen sollte, wie das manche andere Länder machen. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass von der Antragstellung bis zur Inbetriebnahme 15 bis 20 Jahre vergehen und viele der aktuellen Neubauprojekte in anderen Ländern von Verzögerungen und Kostenexplosionen geplagt sind. Ob überhaupt ein Energieunternehmen in Deutschland einen Neubau wagen würde, wenn es Baukosten, Unfallhaftung und Entsorgung selbst bezahlen müsste, ist mehr als zweifelhaft.

Zusätzlich gälte es, die Neureaktoren so auszulegen, dass sie in Trockenzeiten nicht stillgelegt werden müssen. Frankreich ist hier ein warnendes Beispiel: 2022 war es deutscher Ökostrom, der die Stromversorgung des Landes sicherstellte. Als Strategie für einen garantierten und preisgünstigen Beitrag zur Klimaneutralität erscheint die Kernkraft alles zusammengenommen sehr riskant.

Deutschland schaut in der aktuellen Situation deshalb am besten nach vorne: Wer auf zentrale Großkraftwerke setzt, hat mit der Kernfusion ein zukunftsgewandtes Projekt. Es gibt sogar Pläne, die bisherigen AKW-Standorte für die ersten Fusionskraftwerke zu nutzen. Bei diesen Anlagen fällt weder CO2 an noch langlebiger Atommüll, und ein GAU ist technisch ausgeschlossen. Vor allem aber gilt es, die zahlreichen eklatanten Rückstände bei der Energiewende aufzuholen. Denn anders als deren lautstarke Fürsprecher behaupten, ist Deutschland nicht auf dem Weg dahin, sich ganzjährig, rund um die Uhr und in jeder Wetterlage mit Ökostrom versorgen zu können. Dazu braucht es deutlich mehr als nur den Zubau neuer Wind- und Solaranlagen. Es braucht eine verlässliche Speicherung von Strom an besonders windigen oder sonnigen Tagen, und es braucht den Bau neuer Stromleitungen, um den Ökostrom überregional zu verteilen.

Versagt wurde über Jahre bei der Energiewende

Hier liegt der größere und für die Stromversorgung wirklich gefährliche Fehler der bisherigen Energiepolitik: Man hat die Herstellung von Komponenten für erneuerbare Energie fahrlässig nach China abwandern lassen, die Mühen gescheut, neue Stromleitungen in der Bevölkerung durchzusetzen, und den Aufbau einer Speicherinfrastruktur verschleppt.

Am selben Tag, an dem die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 den Atomausstieg beschloss, brachte sie auch einen beschleunigten Ausbau der Stromnetze im Dienst erneuerbarer Energien auf den Weg – passiert ist seither aber viel zu wenig. Das, und nicht der Atomausstieg, ist die eigentliche Gefahr für Energieversorgung, Wohlstand und Klimaneutralität.


Der Standard  Dominik Straub aus Rom  14. April 2023

Wie Italien nach Tschernobyl auf die Schnelle den Atomausstieg schaffte

Nach der ukrainischen Reaktorkatastrophe und einer Volksabstimmung hat Italien alle seine Atomkraftwerke vom Netz genommen. Aber eine echte Erfolgsstory ist der Ausstieg nicht

Nach dem Schock der AKW-Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 taten die Italiener das, was in anderen europäischen Ländern von vielen besorgten Bürgern gefordert, aber dann von ihren Regierungen doch nicht getan wurde: Sie stiegen aus der Atomenergie aus, radikal. 1987 wurde ein Referendum, das den Verzicht auf die Kernenergie forderte, von fast 90 Prozent der Bevölkerung gutgeheißen. Die vier in Betrieb stehenden Atomkraftwerke wurden in den darauffolgenden Jahren eines nach dem anderen abgeschaltet. Projekte für weitere Meiler wurden gestoppt – bis heute.

Italien hatte ab 1963 auf Atomstrom gesetzt, 1990 wurde der letzte Meiler vom Netz genommen. Der Anteil des Atomstroms lag aber nie über fünf Prozent – und so ist die Situation, in der sich das Land nach dem Ausstieg befand, vergleichbar mit jener in Deutschland heute. Zu Versorgungsengpässen kam es in Italien wegen des kleinen Anteils an Atomstrom nicht – dank Importen aus den Nachbarländern Schweiz, Frankreich und Slowenien konnte die Stromlücke problemlos geschlossen werden. Weil aber in allen drei Ländern – insbesondere in Frankreich – Atomkraftwerke stehen, importierte und importiert Italien bis heute Atomstrom.

"Doppelbödig"

Von Gegnern des Ausstiegs wurde dies immer als "doppelbödig" bezeichnet – die gleiche Situation könnte sich auch für Deutschland ergeben. Um weniger abhängig von Stromimporten zu werden, hat Italien nach dem Atomausstieg noch stärker auf thermische Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen gesetzt, besonders auf Erdgas. Heute wird in Italien jede zweite Kilowattstunde Strom in Gaskraftwerken produziert. Bis zur Invasion Russlands in die Ukraine stammte der größte Teil des dafür benötigten Rohstoffs aus Russland. Mit fatalen Folgen: Wegen des hohen Anteils der Gaskraftwerke an der Stromproduktion explodierte letztes Jahr nicht nur der Gas-, sondern auch der Strompreis.

Daneben steht Italien vor einem weiteren Problem: Die Entsorgung der stillgelegten Atomkraftwerke und des von ihnen produzierten Atommülls ist – mehr als 30 Jahre nach dem Atomausstieg – weiterhin nicht gelöst. Der Rückbau der alten Meiler, der Milliardenkosten verursacht, ist erst etwa zu 30 Prozent erfolgt; die Suche nach einem Endlager für die radioaktiven Abfälle hat bisher zu überhaupt keinen zählbaren Resultaten geführt. Wo immer Rom ein Endlager bauen wollte – es kam jedes Mal zu meist sehr militanten Protesten der Anwohner und von Umweltverbänden.

Ungelöste Probleme

Trotz der ungelösten Probleme hat es in Italien immer wieder Versuche für einen Wiedereinstieg in die Atomenergie gegeben. So verabschiedete die vierte Regierung von Silvio Berlusconi 2010 ein Dekret, das den Bau von nicht weniger als zehn neuen Atomkraftwerken vorsah. Doch dann kam im März 2011 die Reaktorkatastrophe in Fukushima – und mit ihr, wenige Monate später, ein zweites Referendum. Das Resultat: 94 Prozent der Stimmberechtigten erteilten Berlusconis Atomplänen eine Abfuhr.

Im Wahlkampf 2022 unternahm Lega-Chef Matteo Salvini angesichts der hohen Gas- und Strompreise einen neuen Anlauf, den Italienerinnen und Italienern die Atomkraft schmackhaft zu machen – ebenfalls erfolglos: Die Rechtsregierung von Giorgia Meloni, der Salvini als Infrastrukturminister angehört, hat das Anliegen in die Schublade gelegt.

Italien setzt nun vielmehr auf den Ausbau erneuerbarer Energien – und hat dafür mehr als 70 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zur Verfügung. Derzeit beträgt der Anteil der Alternativenergie (Wasserkraft, Solarenergie, Geothermie, Windenergie, Biomasse) am Strommix lediglich 33 Prozent. Laut dem nationalen Aufbau- und Resilienzplan soll er bis 2030 auf 70 Prozent steigen. (Dominik Straub, 14.4.2023)

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