Zeit hier /Fratzschers Verteilungsfragen - Eine Kolumne von Marcel Fratzscher
Warum sich Deutschland nicht verändern will
Die Krisenstimmung im Land ist groß, doch so schlecht geht es den Deutschen nicht. Der Grund für die Lähmung in Wirtschaft und Gesellschaft ist ein ganz anderer.
Die Stimmung im Land ist schlecht und die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage enorm. Selten waren der Pessimismus so tiefgreifend und die Ängste und Sorgen vieler Menschen so groß. Diese Depression ist in Deutschland höher als in fast jedem anderen europäischen Land, selbst höher als in Italien oder Griechenland, wo die Menschen in den letzten 20 Jahre einen erheblichen Verlust an Wohlstand erfahren haben und die junge Generation häufig ohne Job und ohne Perspektive dasteht. Im Gegensatz dazu hat Deutschland heute Rekordbeschäftigung, eine niedrige Arbeitslosenquote, deutlich gestiegene Realeinkommen in fast allen Bevölkerungsgruppen und viele wettbewerbsfähige und innovative mittelständische Unternehmen. Und auch wenn die Zukunftssorgen und Ängste – über den Klimawandel, soziale und geopolitische Konflikte und den eigenen Wohlstand – berechtigt sind, so stehen objektiv gesehen andere westliche Demokratien meist vor noch größeren Herausforderungen.
Warum also ist gerade in Deutschland die Lähmung so stark? Wieso sind wir Deutschen so unwillig oder unfähig, uns zu ändern und Probleme und Krisen unserer Zeit anzugehen? Die Antwort liegt in sechs Fehleinschätzungen, die auf uns Deutsche in besonderer Art und Weise zutreffen.
Opfer des eigenen Erfolgs – wir müssen uns nicht ändern
Kaum eine westliche Demokratie kann wirtschaftlich ein solch erfolgreiches Jahrzehnt der 2010er-Jahre vorweisen wie die Bundesrepublik. Unser Wirtschaftsmodell profitierte vom starken Wachstum der Schwellenländer wie China, die für Deutschland weniger Wettbewerber waren als vielmehr Importeure deutscher Maschinen, Chemieprodukte und Autos.
Mit Wehmut schauen wir auf dieses goldene Jahrzehnt und lehnen Veränderungen ab, weil wir ja eigentlich nur den Status quo ante 2018 zementieren wollen. Dies ist jedoch keine Option: Die Welt heute ist technologisch, wirtschaftlich und politisch eine völlig andere. Handelskonflikte, Pandemie, Krieg, die Möglichkeiten der grünen Technologien und der Digitalisierung haben die Welt grundlegend verändert.
Leider ist es historisch so, dass liberale Demokratien meist erst dann den Willen für tiefgreifende Veränderungen aufbringen, wenn sie im Krisenmodus mit dem Rücken zur Wand stehen. Möglicherweise muss die wirtschaftliche Situation in Deutschland noch deutlich schlechter werden, bevor dieses Bewusstsein stark genug ist, um ein konsequentes Handeln auszulösen. So zumindest lehrt es uns die Krise um die Jahrtausendwende. Erinnern wir uns an die sogenannte Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog: "Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise." Diese Beschreibung aus dem Jahr 1997 trifft auf Deutschland heute nicht weniger gut zu als vor 27 Jahren. Der Tiefpunkt Deutschlands als kranker Mann Europas mit mehr als 5 Millionen Arbeitslosen war erst 2005 erreicht, bevor die ersten Reformen aus der Agenda 2010 wirkten.
Stabilität versus Geschwindigkeit – wir sollten uns nicht ändern
Aber sollten wir uns überhaupt ändern? Ein breiter Konsens besteht darin, dass die Industrie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist und dies auch in Zukunft bleiben solle. Wir wollen daher auf gar keinen Fall eine Deindustrialisierung. Die Industrie schaffe viele gute Arbeitsplätze in Deutschland und trage durch ihre hohe Innovationskraft zur Attraktivität des Wirtschaftsstandorts bei, ist immer noch die verbreitete Ansicht.
Auf Stabilität und nicht auf Geschwindigkeit ausgerichtet
Die Realität ist jedoch, dass wirtschaftliche Transformation auch bedeutet, dass manche Unternehmen aus dem Markt verschwinden oder stark schrumpfen werden. Dienstleistungsbereiche ebenso wie manche Branchen der Industrie, etwa viele Zulieferer in der Automobilbranche. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten alle Arbeitsplätze in der Industrie heute erhalten. Unternehmen wie Volkswagen haben heute nicht mehr die Wahl, ob sie alle Arbeitsplätze und Werke beibehalten wollen oder nicht. Ihre Wahl besteht lediglich darin, ob sie heute 15 Prozent der Arbeitsplätze abbauen, um damit mittelfristig 85 Prozent der bestehenden Arbeitsplätze zukunftssicher zu machen, oder ob sie die unumgänglichen Reformen um weitere fünf Jahre verschieben und dann vielleicht die Hälfte der Arbeitsplätze gefährdet sind. Es ist die Wahl zwischen Veränderungen heute mit starken Einschnitten oder Veränderungen später, mit noch viel größeren Einschnitten in der Zukunft.
Politik und Wirtschaft in Deutschland sind nach der dunklen Zeit des Dritten Reichs auf Stabilität und nicht auf Geschwindigkeit ausgerichtet. Im politischen System und in den Unternehmen gibt es vielschichtige Kontrollmechanismen, die exzellent geeignet sind, um Stabilität zu gewährleisten und ausgewogene Kompromisse zu finden. Aber sie sind häufig ungeeignet, um mit der hohen und zunehmenden Geschwindigkeit der globalen Veränderungen in Politik, Technologie und Wirtschaft Schritt zu halten.
Die dominante Erzählung in Deutschland in fast allen Bereichen – bei der Umsetzung grüner und digitaler Technologien bis hin zu Reformen von Bürokratie, Regulierung und Infrastruktur – ist, dass wir Veränderungen nicht übers Knie brechen sollten, sondern uns Zeit lassen müssten. Aber die Zeit spielt gegen uns, wenn deutsche Unternehmen gegenüber Unternehmen aus China, den USA oder anderswo ins Hintertreffen geraten und dadurch in ihrer Existenz bedroht werden. Die ungleich größere Gefahr besteht heute nicht darin, dass Deutschland sich zu schnell wandelt, sondern weiterhin zu langsam.
Risiko oder Chance – wir wollen uns nicht ändern
Hinzu kommt, dass wir die anstehenden Veränderungen auch nicht wirklich wollen. Denn Transformation bedeutet Ungewissheit und hohes Risiko. Die Risikoaversion in Deutschland ist jedoch hoch. Das Scheitern eines Unternehmens oder einer Person ist nach deutschen Wertvorstellungen mit einem erheblichen Stigma behaftet. Unternehmerinnen in den USA, die nach viermaligem Scheitern beim fünften Versuch eines Start-ups den Durchbruch schaffen, werden gefeiert und gelten vielen als Vorbild für Mut und Durchhaltevermögen. In Deutschland ist es umgekehrt. Staatliche Regeln bestrafen Risikoverhalten eher, als sie dies belohnen. Eine Privatinsolvenz in Deutschland wird deutlich härter sanktioniert als in vielen anderen Ländern. Das deutsche Steuersystem benachteiligt Eigenkapital gegenüber Fremdkapital und erschwert es, etwas Neues aufzubauen.
Das logische Resultat ist, dass fast alle großen deutschen Konzerne über 50 Jahre alt sind. In den USA dagegen ist fast die Hälfte der größten Konzerne jünger als 30 Jahre. Und beim Unternehmertum hat Deutschland ein zunehmendes Problem. Denn Menschen scheuen das Risiko, wollen nicht selbst ein Unternehmen gründen oder leiten, sondern bevorzugen Sicherheit und Stabilität. Ein bevorzugter Arbeitgeber junger Deutscher heute ist der Staat, um möglichst kein Risiko und maximale Sicherheit zu haben. Diese Mentalität ist jedoch Gift für Fortschritt und Innovation in einer Marktwirtschaft, die auf eine gesunde Risikomentalität junger Menschen angewiesen ist.
Zukunftssorgen sind berechtigt – wir brauchen uns nicht zu ändern
Eine repräsentative Befragung der Universität Bonn 2023 zeigt, dass 84 Prozent der Deutschen überzeugt sind, dass es der jungen Generation in Zukunft schlechter gehen wird. Das ist ein klarer Bruch mit unserem Gesellschafts- und Generationenvertrag, der seit jeher darauf beruht, dass es den eigenen Kindern und Enkelkindern besser gehen soll. Viele dieser Sorgen sind gut begründet, vor allem, wenn wir selbst die notwendigen Veränderungen vehement ablehnen.
Die Sorgen und Ängste öffnen jedoch den Populisten Tür und Tor, die den Menschen versprechen, wir bräuchten uns ja gar nicht zu ändern, sondern könnten so weitermachen wie bisher. Sie nutzen die Ängste, um verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, Verschwörungstheorien zu schüren und Horrorszenarien an die Wand zu malen. Und sie nutzen die Ängste und Sorgen, um Wählerstimmen zu mobilisieren, indem sie den Menschen das versprechen, was sie gerne hören wollen: Wir bräuchten uns nicht zu ändern. Der Klimawandel sei ja gar nicht von Menschen gemacht und nicht so dramatisch. Wir sollten mal besser auf Technologieoffenheit setzen und so lange wie möglich am Verbrennermotor festhalten. Mit russischem Gas und Öl seien wir besser dran und hätten günstigere Stromkosten als durch den Ausbau erneuerbarer Energien. Wir bräuchten keine Zuwanderung und auch die europäische Gemeinschaft nicht, wir seien uns selbst genug und schaffen das allein.
Dies mag vielen wie Musik in den Ohren klingen, ist aber grundfalsch und gefährlich, weil es Deutschland genau in die Krise treibt, die es zu verhindern gilt. Die Opfer dieses Populismus und der rückwärtsgewandten Politik sind die künftigen Generationen. Sie werden eine Welt vorfinden, die deutlich schlechter gestellt ist als die heutige.
Verantwortung und Eigenverantwortung – wir können uns nicht ändern
Die fünfte Fehleinschätzung ist, dass wir uns ja auch nicht ändern können, weil die Verantwortung für die heutigen Probleme nicht bei uns liegt. Der perfekte Sündenbock ist bereits gefunden: Der deutsche Staat und seine Politikerinnen und Politiker sind verantwortlich für die derzeit schwierige Lage, und nur sie könnten die notwendigen Veränderungen herbeiführen. Nie war das Jammern der Wirtschaftsverbände und mancher großer Konzerne über Staat und Politik größer.
Die Ampelregierung ist der perfekte Sündenbock, weil sie zerstritten war, schlecht kommuniziert und auch Fehler gemacht hat. Dabei sollte jedem bewusst sein, dass die meisten der heutigen Probleme – von überbordender Bürokratie und Regulierung über eine unzureichende Infrastruktur und Fachkräftemangel bis hin zu hohen Energiekosten – meist schon seit zehn oder 20 Jahren existieren. Und allen muss klar sein, dass in einer Marktwirtschaft in erster Linie das Management für die großen Transformationen ihrer Unternehmen verantwortlich ist. Als konkretes Beispiel: Die aktuelle Krise bei Volkswagen liegt zu 90 Prozent in der Verantwortung des VW-Managements der letzten 15 Jahre. Es hat mit dem Betrug beim Dieselskandal viel Vertrauen verspielt; es hat sich in eine viel zu große Abhängigkeit von China begeben und die technologische Transformation verschlafen. Die meisten deutschen Unternehmen hinken bei der Digitalisierung internationalen Konzernen weit hinterher, und die Produktivitätsentwicklung war in vielen Branchen in den letzten zehn Jahren enttäuschend.
Der deutsche Staat trägt zweifelsohne eine Mitverantwortung; er muss bessere Rahmenbedingungen für alle schaffen. Erfolgreiche Transformation erfordert Eigenverantwortung aller Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – dieses Bewusstsein fehlt heute häufig, vor allem in der Wirtschaft.
Schulden als Schuld – wir werden uns nie ändern
Und: Wir werden uns nie ändern. Viele Deutsche halten an Werten fest, die in der heutigen Welt zu einem massiven Problem geworden sind und notwendige Veränderungen verhindern. Eine dieser Überzeugungen ist, dass Schulden per se schlecht und Ersparnisse per se gut sind. Der Staat hat sich mit der Schuldenbremse extreme Daumenschrauben angelegt, sodass er völlig unfähig geworden ist, die notwendigen Investitionen und Veränderungen umzusetzen. Wir brauchen eine massive Investitionsoffensive in Infrastruktur, Bildung, Innovation und Klimaschutz. Der Staat muss effizienter werden, die Zahl der öffentlich Beschäftigten muss deutlich sinken und schädliche Subventionen müssen abgeschafft werden. Fakt ist, dass es Zeiten gibt — für jeden einzelnen Menschen genauso wie für den Staat —, in denen man in die Zukunft investieren und dafür die Schulden aufnehmen muss. Kein Unternehmen kann wachsen und dauerhaft Erfolg haben, ohne dass es Kredit aufnimmt, für Maschinen oder um neue Ideen zu realisieren. Niemand wird ein Eigenheim für die Familie bauen können, ohne zuerst Schulden aufzunehmen.
Kein Staat kann so große Herausforderungen und Transformation bewältigen, ohne Schulden für notwendige Investitionen zu machen. Solange wir an dem Irrglauben festhalten, der deutsche Staat könne seine Rolle ausreichend erfüllen, ohne die Schuldenbremse fundamental zu verändern, solange wird Deutschland wirtschaftlich und technologisch nicht wieder zukunftsfähig und wettbewerbsfähig werden.
Die unglaubliche Depression ist Deutschlands größtes Problem. Der Grund dafür liegt in unserem Kopf, in unserer Mentalität und weniger in der wirtschaftlichen und politischen Realität. Wenn wir als Gesellschaft nicht umdenken und unsere Fehleinschätzungen offen ansprechen und ausräumen, wird die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lähmung weiter bestehen bleiben. Das ist nicht allein die Verantwortung der Politik, sondern liegt in der Verantwortung aller.
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