Dienstag, 31. Dezember 2024

"Was für eine Welt wollen wir im Jahr 2050? Was für eine Welt wollen wir 2070? Worauf arbeiten wir hin – anstelle von wogegen arbeiten wir?

hier   DW  Martin Kuebler  26.12.2024
Adaption aus dem Englischen von Gero Rueter. Redaktion: Tamsin Walker/Anke Rasper

Wie können positive Kipppunkte dem Klima helfen?


Kleine Anstöße können die ganze Gesellschaft rasch verändern und sogar gegen die Erderwärmung helfen. Nachbarn, Mitschüler und gute Beispiele wirken dabei oft stärker als die große Politik.



Viele kritische Schwellenwerte im globalen Klimasystem werden auch als Kippelemente oder Kipppunkte bezeichnet. Werden sie überschritten, führt das zu globalen Veränderungen, die nicht mehr aufgehalten werden können – mit fatalen Folgen. Doch es gibt auch positive Kipppunkte: Die lösen schnelle positive Veränderungen in Technologie und Gesellschaft aus.

Soziale Veränderungen im Sinne der Nachhaltigkeit könnten so von Gesellschaften relativ schnell angestoßen werden, sagt Ilona M. Otto, Transformationsforscherin am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der österreichischen Universität Graz.

"Wir sprechen über Teile der Gesellschaft, in denen ein schneller Wandel möglich sind", sagt Otto. "Das geht dort, wo man das System zu einem bestimmten Maß beeinflussen und es in eine gewünschte Richtung lenken kann".

Wenn zum Beispiel eine kleine engagierte Gruppe Menschen sich für bestimmte Formen von Fleischkonsum, die Nutzung erneuerbare Energien oder das Fahren von Elektrofahrzeugen entscheidet, kann das neue Normen und Verhaltensstandards für die gesamte Gesellschaft setzen. In einer Studie aus dem Jahr 2020 konzentrierten sich Otto und ihre Kollegen auf sechs Schlüsselbereiche, in denen solche sozialen Veränderungen möglich sein können. Dazu gehörten Energieerzeugung, Finanzmärkte, Städte und Bildung.

Doch um solche Systemveränderungen in Gang zu bringen, sind laut der Forschung oft gezielte staatliche Maßnahmen oder Marktanreize erforderlich. Für gemeinsames Handeln müssten Menschen auch zusammenkommen und sich begeistern.

Die UN-Experten sagen jedoch auch, dass Städte bei der Verringerung der Emissionen eine Vorreiterrolle spielen können, wenn sie den Energieverbrauch senken und den Verkehr elektrifizieren. 

Adrian Hiel von für Energy Cities, einem Netzwerk zur Förderung klimaneutraler Städte, verweist auf Beispiele für positive Trends in städtischen Verkehr, vor allem die Zunahme des Radverkehrs. So habe die COVID-Pandemie den Umstieg aufs Fahrrad in Städten wie Brüssel, Barcelona und vor allem Paris beschleunigt. "Das ist ein gewaltiger Kipppunkt", sagt er und fügt hinzu, dass das geholfen hat, den Umstieg auch für andere Städte akzeptabel zu machen.

"Je mehr Beispiele es gibt, desto einfacher wird es, ein Hindernis zu überwinden", erklärt Hiel. Die schnelle Verbreitung von Elektrofahrzeugen und Solaranlagen in Städten sei wahrscheinlich auch darum passiert, weil die Menschen gesehen hätten, wie einfach der Umstieg sei.

"Es ist eine andere Welt, wenn es die eigenen Nachbarn sind, die über ihre Leidenschaft sprechen, als wenn ein Unternehmen versucht Ihnen etwas zu verkaufen." Der gleiche Ansatz könne auch helfen, wenn es zum Beispiel um den der Umgang mit Emissionen bei Gebäuden geht. 

Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur verbraucht das Beheizen von Gebäuden jedes Jahr etwa die Hälfte der Energie in der EU. In einigen Ländern wird immer noch hauptsächlich mit Erdgas und Öl geheizt und entsprechend sehr viel CO2 freigesetzt. Obwohl Wärmepumpen und Fernwärmenetze inzwischen bewährte Technologien sind, schrecken die Investitionskosten oft ab.

"Es ist vor allem eine soziale Herausforderung", so Hiel. "Und ob durch online-Umfragen oder von Haus zu Haus gehen – man muss Zeit und Arbeit aufwenden, um den Menschen zuzuhören, sonst wird es nicht zu dem sozialen Wandel kommen, den man braucht, um die notwendigen Veränderungen real zu erreichen."

Fokus auf Gesundheit und Wohlbefinden kann die grüne Transformation anregen
Mehr als zwölf Prozent der globalen Treibhausgasemissionen entsteht in der Landwirtschaft. Agrar- und Fleischindustrie sind außerdem Hauptverursacher von Umweltzerstörung und dem Verlust von Artenvielfalt.

Doch in einigen Teilen der Welt – vor allem im Westen – essen die Menschen nun weniger Fleisch, sei es aus gesundheitlichen Gründen, aus Umweltbedenken oder beidem. So ist etwa in Deutschland – einem Land, das für seine Würstchen und Schnitzel bekannt ist – der Fleischkonsum im letzten Jahrzehnt zurückgegangen, während pflanzliche Alternativen immer beliebter werden.

"Viele der Veränderungen, wie aktive Mobilität und weniger Fleischkonsum, haben tatsächlich einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen", sagt Otto gegenüber der DW. "Dies könnte auch ein potenzielles soziales Kippelement sein."

Doch es ist für viele Menschen nicht so einfach, energieintensiv produziertes tierisches Fleisch durch alternative Proteine zu ersetzen, die aus Pflanzen, Insekten oder und im Labor gezüchteten Zellen gewonnen werden.

Luigi Tozzi, Vizedirektor der Verbraucherschutzorganisation für Lebensmittel in Brüssel sieht einige der hochverarbeitete Fleischalternativen kritisch. Er verweist auf potenzielle Gesundheitsrisiken, die eine aktuellen WHO-Studie zeigt. Allerdings gebe es für diesen Bereich bisher nur wenige Daten.

Laut Tozzi halten auch die hohen Kosten viele davon ab, Bio-Lebensmittel zu kaufen, die besser für die Umwelt sind. Die hohen Lebensmittelpreise werden unter anderem durch die anhaltenden Konflikte in der Ukraine und Israel sowie die Nachwirkungen der COVID Pandemie verursacht. Viele Menschen müssten sich darum entscheiden, ob sie eine ökologische Option wählen oder genug zu essen haben wollten. 

"Besonders jetzt wo viele Familien in Not sind, denken die Menschen nicht über Nachhaltigkeit nach", so Tozzi. "Sie fragen sich nur, wie sie sich Lebensmittel leisten können." Die jüngsten EU-Wahlen, bei denen die Grünen rund zwei Dutzend Sitze verloren haben, seien ein Zeichen dafür, dass viele Wähler andere Sorgen im Kopf hätten.

Bildung entscheidend für den Aufbau einer nachhaltigen Zukunft
Wenn Schulen besonders bei Themen wie Volkswirtschaft und Business mehr Zusammenhänge mit Klimawandel und ökologische Netzen verdeutlichen, könnte das auch einen Wandel beschleunigen, davon ist Otto überzeugt. 

In der Studie verwies sie in dem Zusammenhang auf die Veränderungen von Normen und Werten, die die von Schülern angeführten Klimastreiks von Fridays for Future auslösten und die Politik auf der ganzen Welt beeinflussten. 

Lennart Kuntze, Experte für Klimabildung bei der globalen gemeinnützigen Organisation Teach for All, sagt, der Klimawandel müsse auf allen Ebenen Teil des Lehrplans sein. 

"Wir müssen wirklich auf kollektives Handeln setzen, anstatt uns auf individuelle Aktionen zu konzentrieren. "Was im Klassenzimmer beginnt, habe das Potenzial, die größere Gemeinschaft zu beeinflussen, so Kuntze.

Die Initiative von Teach for All, die inzwischen in mehr als 60 Ländern weltweit vertreten ist, ist erst wenige Jahre alt. Aber Kuntze zufolge hat sie bereits Wirkung gezeigt. In Simbabwe zum Beispiel haben Klimaclubs Recycling-Kampagnen gestartet und Lebensmittel für die Gemeinde angebaut. In Bulgarien hat die Photovoltaikanlage einer Schule dazu beigetragen, eine nachhaltige Stadtplanung für die gesamte Nachbarschaft einzuführen. Und im Libanon haben viele der Kinder, die an dem Programm teilgenommen haben, später an der Universität Umweltthemen studiert.

Auch andere Programme wie etwa das Greening Education Partnership der UNESCO zeigte, dass die Gesellschaft beginnt, den Wert der Klimabildung zu erkennen, sagt Kuntze. 

Aber um in den Mainstream zu gelangen, müssten die Menschen "eine inklusive Vision der Zukunft" entwickeln, die gemeinsame Werte und positive Veränderungen in den Vordergrund stellt, statt von der Angst vor dem Klimakollaps getrieben zu sein.

"Was für eine Welt wollen wir im Jahr 2050? Was für eine Welt wollen wir 2070? Worauf arbeiten wir hin – anstelle von wogegen arbeiten wir?", sagt er. "Bildung ist ein wirklich entscheidender Teil davon, denn wir können das gemeinsam mit den Schülern aufbauen und uns gemeinsam mit ihnen vorstellen, was möglich ist."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen