Mittwoch, 11. Dezember 2024

Ersten bundesweite Wildnisbilanz zeigt: viel zu wenig wurde umgesetzt, und BW ist das traurige Schlußlicht

Grundlagen von den beteiligten Organisationen: hier und hier


Tagesspiegel hier 09.12.2024,

Studie: Deutschland könnte wilder werden

Die Natur mehr sich selbst überlassen: Das fordern nicht nur Naturschützer. Das Potenzial für mehr Wildnisflächen ist da, wie eine neue Studie zeigt.


Ziel verfehlt – aber Potenzial vorhanden: Deutschland hat einer Studie zufolge bislang nur 0,62 Prozent seiner Fläche wieder in große Wildnisgebiete umgewandelt, das sind rund 220.600 Hektar. Geplant waren bis 2020 eigentlich zwei Prozent. Experten zufolge könnte die Marke künftig aber erreicht werden. „Die zwei Prozent sind realistisch“, sagte Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David. Deutschland habe passende Flächen. In den kommenden Jahren könne der Anteil mit bereits konkret geplanten Gebieten auf 0,73 Prozent steigen. 

Die Zwei-Prozent-Marke ist ein Kernziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt der damaligen Bundesregierung aus dem Jahr 2007. Experten der Naturstiftung David, der Heinz Sielmann Stiftung und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt haben jetzt untersucht, wie groß der Anteil der Wildnisgebiete in Deutschland und wie groß das Potenzial für weitere Gebiete ist. 

Experten: Ziel könnte übertroffen werden 
Die Hochrechnungen zeigen laut Heiko Schumacher von der Heinz Sielmann Stiftung, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen würden - und damit das Zwei-Prozent-Ziel sogar noch übertroffen werden könnte.

Mecklenburg-Vorpommern (1,6 Prozent) und Brandenburg (1,1 Prozent) stehen demnach bereits jetzt kurz davor, das Ziel jeweils für ihr Bundesland zu erreichen. „Das sind Länder, die noch sehr viele große, unzerschnittene Flächen haben“, sagte Adrian Johst. Mit rund 38.000 Hektar hat das nordöstliche Bundesland die meisten Wildnisflächen bundesweit, demnächst komme noch eine etwa 1000 Hektar große Waldfläche auf Rügen hinzu. Brandenburg hat rund 34 000 Hektar Wildnisflächen. 

Bayern: Viel Wildnisfläche, aber relativ geringer Anteil 
Bayern verfüge mit rund 36.500 Hektar zwar auch über relativ viel Wildnisfläche. Wegen der großen Gesamtfläche des Bundeslandes liege der Anteil aber nur bei rund 0,5 Prozent, erklärte Johst. Selbst im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen wäre es ihm zufolge möglich, nach den relativ strengen Kriterien zwei Prozent der Landesfläche als Wildnisgebiete auszuweisen. „Da würden natürlich sehr viele Landeswaldflächen drunter fallen“, so der Experte. Die Frage, ob das politisch gewollt sei, stehe auf einem anderen Blatt. In Nordrhein-Westfalen ist die Wildnis der Auswertung zufolge derzeit auf rund 7.800 Hektar sich selbst überlassen, das sind 0,2 Prozent der Landesfläche.

In großen Wildnisgebieten kann sich die Natur ohne direkte Eingriffe des Menschen entwickeln. Die Gebiete müssen eine zusammenhängende Fläche von mindestens 1.000 Hektar aufweisen. Für Auwälder, Küsten und Moore sind 500 Hektar ausreichend. Viele der Wildnisgebiete liegen in Nationalparks. Wildnis kann den Experten zufolge auch auf stark vom Menschen geprägten Flächen entstehen – wie beispielsweise ehemaligen Bergbau- und Militärflächen. 

Nabu: Viele Menschen wünschen sich Wildnis
„In Wildnisgebieten hat die Natur wieder Raum und Zeit, sich aus eigener Kraft zu entwickeln. Doch im dicht besiedelten Deutschland sind Gebiete, in denen sich die Natur frei entfalten kann, sehr selten geworden. Dabei wünscht sich eine große Mehrheit der Deutschen mehr Wildnis vor der eigenen Haustür“, erklärte Christian Unselt, Vorsitzender der Nabu-Stiftung Nationales Naturerbe. 

Wildnis ist eine Schatzkammer der biologischen Vielfalt. Sie ist ein ganz wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die auf diese natürliche Entwicklung angewiesen sind“, betonte Heiko Schuhmacher von der Heinz Sielmann Stiftung. Auch für den Klima- und Hochwasserschutz sei sie wichtig. Die meisten der bestehenden Wildnisgebiete in Deutschland sind den gesammelten Daten zufolge Nadelwälder (rund 34 Prozent), gefolgt von Laubwäldern (rund 25 Prozent) und Mischwäldern (8 Prozent).

Die Nationale Strategie von 2007 werde aktuell überarbeitet, hieß es weiter. Die Bundesregierung wolle nun bis 2030 die Zwei-Prozent-Marke erreichen. „Der Bund braucht dazu aber die Länder, private Akteure, Stiftungen und Verbände, die das Ziel umsetzen“, sagte Adrian Johst. Der Bund habe nicht genug Flächen, um es allein zu verwirklichen.

© dpa-infocom, dpa:241209-930-312716/1



Geo hier  von Franziska Türk  09.12.2024,

Neue Zahlen belegen: Deutschland könnte viel wilder sein

Bis 2020 wollte Deutschland zwei Prozent seiner Landesfläche in Wildnis umwandeln. Doch dieses Ziel wurde weit verfehlt. Dabei wäre es Experten zufolge realistisch – und könnte übertroffen werden

Wo können sich Pflanzen und Tiere in Deutschland ungestört entwickeln, wo finden bedrohte Arten Schutz, wie groß ist das Gebiet, in dem der Mensch keinerlei Einfluss auf Flora und Fauna hat? Kurz gesagt: Wo gibt es in Deutschland noch echte Wildnis – und wie viel gibt es davon? Als Antwort auf diese Fragen gab es lange Zeit nur grobe Schätzungen. Nun aber haben sich die Heinz Sielmann Stiftung  hier, die Naturstiftung David und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt auf die Suche nach der Wildnis in Deutschland gemacht und die Ergebnisse in der ersten bundesweiten Wildnisbilanz vorgestellt

Gefunden haben sie rund 220.000 Hektar weitgehend unberührte Natur, das sind etwa 0,62 Prozent der Landesfläche. Rechnet man die bereits geplanten Schutzgebiete hinzu, steigt die Zahl auf 0,73 Prozent. Doch auch damit bleibt Deutschland weit hinter den selbst gesteckten Wildniszielen zurück: Eigentlich hatte sich die Bundesregierung 2007 mit der Nationalen Biodiversitätsstrategie das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 zwei Prozent der Fläche als Wildnisgebiete auszuweisen.

Zwei-Prozent-Ziel ließe sich sogar übertreffen
Die nun vorgestellte Bilanz zeigt aber auch: Deutschland könnte trotz seiner teilweise dichten Besiedlung noch viel wilder sein, es gibt große ungenutzte Potenziale. "Unsere Hochrechnungen zeigen, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen und damit das Zwei-Prozent-Ziel sogar übertroffen werden könnte", sagt Heiko Schumacher, Leiter des Bereichs Biodiversität bei der Heinz Sielmann Stiftung. Berücksichtigt wurden dabei nur Flächen, die sich in öffentlicher Hand befinden, also realistisch in Wildnis verwandelt werden könnten, und die größer als 1000 Hektar sind – beziehungsweise 500 Hektar bei Auen, Mooren, Seen und Küsten –, damit keine Störungen durch den Menschen auftreten. Aber auch bestehende Nationalparks und Kernzonen von Biosphärenreservaten, die dauerhaft rechtlich geschützt sind und in denen weder gejagt noch gefischt wird, werden in der Studie berücksichtigt.

"Wildnis ist eine Schatzkammer der biologischen Vielfalt. Der Erhalt der Biodiversität in Deutschland ist ein wichtiges Thema, das mindestens gleichrangig mit dem Klimaschutz ist – der aber häufig mehr Aufmerksamkeit bekommt", sagt Schumacher. "Wenn wir beim Schutz der tropischen Regenwälder mit dem Finger auf andere Länder zeigen können, muss es doch auch möglich sein, in Deutschland zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete zu verwandeln." Wildnis ist vor allem ein wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen, aber auch für den Klima- und Hochwasserschutz sind Gebiete, in denen sich die Natur frei entfalten kann, wichtig. 

Wo gibt es in Deutschland echte Wildnis? Die grünen Flächen zeigen bereits vorhandene großflächige Wildnisgebiete, die orangenen geplante Wildnisprojekte 
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Quelle „Heinz Sielmann Stiftung, Naturstiftung David, Zoologische Gesellschaft Frankfurt (2024): Bilanzierung großflächiger Wildnisgebiete in Deutschland, Stand 30.11.2024“

Die größten Wildnisflächen gibt es der Studie zufolge derzeit in Mecklenburg-Vorpommern: Die Natur darf sich hier auf knapp 38.000 Hektar frei entfalten, in den kommenden Jahren sollen an Rügens Ostseeküste weitere 1000 Hektar hinzukommen. Mit 1,63 Prozent seiner Fläche kommt das Bundesland den Wildniszielen bereits am nächsten, auch 1,14 Prozent der Landesfläche Brandenburgs sind bereits Wildnis. "

In diesen Bundesländern gibt es noch viele große, unzerschnittene Flächen", sagt Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David. In absoluten Zahlen – vor allem dank der großen Nationalparks Berchtesgaden und Bayerischer Wald – verfügt zwar auch Bayern über große Wildnisflächen, setzt man sie ins Verhältnis zu der großen Landesfläche sind es allerdings nur 0,52 Prozent. 

Der politische Wille lässt nach
Das Schlusslicht ist Baden-Württemberg mit nur 0,21 Prozent. Zuletzt habe hier der politische Wille gefehlt, und es habe Gegenwind beim Ausbau des Nationalparks Schwarzwald gegeben, sagt Schumacher: "Da ist noch Luft nach oben." Gleichzeitig, so Johst, sei Baden-Württemberg im Gegensatz zu den Ländern im Norden viel kleinteiliger; Niedersachsen mit seinen Moorflächen habe es etwa einfacher, große Schutzgebiete auszuweisen. Doch selbst im besonders dicht besiedelten und zerschnittenen Nordrhein-Westfalen ließen sich den Prognosen zufolge zwei Prozent der Landesfläche in Wildnis verwandeln – wenngleich darunter viele Landeswaldflächen fallen würden.

Neben der Herausforderung, in Deutschland große, unzerschnittene Flächen zu finden, gibt es auch Nutzungsinteressen von Forstwirtschaft und Privatpersonen. Und die Unterstützung für den Wildnisschutz lasse nach, beklagen die Naturschutzorganisationen. "Es braucht weiterhin politischen Rückenwind", sagt Johst. "Der lässt momentan aber ein wenig nach oder dreht sich sogar und bläst uns entgegen." War jahrelang allgemein anerkannt, dass Wildnisschutz zwar schwierig, aber grundsätzlich wichtig und richtig sei, käme es inzwischen zu Gegenbewegungen, selbst bestehende Wildnisgebiete würden teils hinterfragt. Um Kommunen und Privatpersonen zu entschädigen, die Land besitzen und dem Wildnisschutz zuliebe auf die Nutzung ihrer Flächen verzichten, gibt es deshalb seit 2019 den Wildnisfonds, dessen Mittel zuletzt voll ausgeschöpft wurden. Das kürzlich eingeführte Förderprogramm KlimaWildnis unterstützt auch kleinere Wildnisprojekte.

Die nationale Biodiversitätsstrategie wird aktuell überarbeitet, 2030 soll die Zwei-Prozent-Marke dann endlich geknackt werden. Doch dafür braucht der Bund die Länder, private Akteure, Stiftungen und Verbände, sagt Adrian Johst – der Bund selbst habe nicht genügend Flächen zur Erreichung der Ziele. Neben klassischen Waldgebieten sieht er viel Potenzial in früheren Bergbaulandschaften, ehemaligen Militärgebieten und im Hochgebirge, wo sich relativ konfliktfrei große Flächen als Wildnisgebiete ausweisen ließen.

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