Die Geothermie macht Riesen-Fortschritte und hat ein großes Potential. Wien macht vor, wie das großflächig aussehen könnte.
Standard hier Philip Pramer 13. Dezember 2024,
Wien speichert Sommerhitze im Erdreich für den WinterKlimafreundlich heizen: Im Stadtentwicklungsgebiet Village im Dritten entsteht Österreichs größtes Anergienetz mit 500 Erdsonden, die den Untergrund als Thermoskanne nutzen
Auf den Aspanggründen im dritten Wiener Bezirk herrscht Hochbetrieb. Bagger rollen, es wird geschüttet, betoniert. Auf elfHektar entstehen hier bis 2027 rund 2000 Wohnungen und 39.000 Quadratmeter Büro- und Gewerbeflächen. Es ist eines der größten Stadtentwicklungsgebiete der Bundeshauptstadt. Die schwarzen Schläuche, die dort an mehreren Stellen bündelweise aus der Erde ragen, fallen in dem Gewusel gar nicht auf.
Dabei sind sie die eigentliche Innovation: Mehrere Hundert dieser Rohre reichen bis zu 150 Meter tief in den Boden, wo ganzjährig konstante Temperaturen herrschen. Das Wasser, das durch diese Kunststoffrohre zirkuliert, nimmt diese Erdwärme auf und transportiert sie weiter in die Heizzentralen der Wohnhäuser.
Kalte Wärme
Eine dieser Heizzentralen ist bereits fertiggestellt. Michaela Deutsch, Leiterin des Geschäftsbereichs Energiedienstleistungen bei Wien Energie, steht zwischen den Rohrleitungen, die mit schwarzem Schaumstoff isoliert sind. Zwei massive Aggregate dominieren den Raum – die Wärmepumpen, das Herzstück des Systems.
"Hier kommt das Wasser aus dem Erdsondenfeld an", erklärt Deutsch und zeigt auf die schwarzen Rohre. Die Temperatur liegt je nach Jahreszeit zwischen fünf und maximal 25 Grad. Fachleute sprechen von "kalter Nahwärme", denn anders als bei klassischen Nah- oder Fernwärmenetzen, wo 63 bis 130 Grad heißes Wasser durch die Rohre fließt, bleibt die Temperatur hier nahe der Umgebungstemperatur. "Die Wärmepumpen heben diese Temperatur dann auf das Niveau, das wir zum Heizen brauchen", sagt Deutsch. Rund 35 Grad reichen als Vorlauftemperatur, da im gesamten Areal ausschließlich per Flächenheizung, etwa unter Fußböden, geheizt wird.
Vom Erdboden in den Fußboden
Von hier aus fließt das erwärmte Wasser durch ein fein verästeltes Rohrsystem in die einzelnen Wohnungen. In den Fußböden verlaufen dünne Rohre, die die Wärme gleichmäßig an den Raum abgeben. Bei klassischen Heizkörpern muss das Wasser hingegen auf 60 bis 70 Grad erwärmt werden. Solch hohe Temperaturen aus dem Erdreich zu gewinnen wäre mit Wärmepumpen kaum wirtschaftlich möglich.
Sogenannte Low-Temperature District Heating (LTDH)-Systeme gelten als einer der Schlüsseltechnologien für eine nachhaltige Wärmeversorgung. Eine Überblicksstudie aus dem Jahr 2021 zählte 40 fertige oder geplante Systeme in Europa. Der Vorteil der geringen Temperatur: In das Netz können auch weniger heiße Wärmequellen wie Solarenergie oder Abwärme aus Wohnhäusern oder etwa Rechenzentren eingespeist werden.
Der Clou des Systems: Im Sommer wird die Richtung umgekehrt. "Die Wohnungen erwärmen sich durch Sonneneinstrahlung und Geräte wie Computer oder Kühlschränke", erklärt Deutsch. Diese überschüssige Wärme wird über die Fußbodenheizung aufgenommen und über das Rohrsystem zurück in den Untergrund geleitet. So werden die Räume im Sommer gekühlt, Klimaanlagen sind nicht notwndig. Die Erde fungiert dabei wie eine gigantische Thermoskanne – sie speichert die Sommerwärme für den Winter. "Das ist viel effizienter, als wenn wir die Wärme über Kühltürme an die Umgebung abgeben würden", sagt die Energieexpertin.
Fernwärme als Back-up
Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern ergänzen das System und stellen den Strom für die Wärme- und Wasserpumpen bereit. Insgesamt können so rund 80 Prozent der Heizenergie vor Ort gewonnen werden, der Fernwärmeanschluss dient nur als Back-up – und für die Heißwasserbereitung, für die hohe Temperaturen vorgeschrieben sind.
Dass ein solches System in dieser Größenordnung realisiert werden konnte, ist keine Selbstverständlichkeit. Normalerweise findet man im dichtbebauten Stadtgebiet kaum die nötigen Flächen für ein Sondenfeld dieser Dimension. Die Aspanggründe boten hier eine seltene Gelegenheit – ein großes, weitgehend unbebautes Areal mitten in der Stadt.
Rund 500 Bohrungen wurden auf dem Gelände der Aspanggründe durchgeführt.
Wien Energie
Lebensdauer von 50 Jahren
Doch selbst ausreichend verfügbarem Platz ist die Umsetzung eine Herausforderung. Je mehr Akteure involviert sind, desto schwieriger wird die Abstimmung – von der Planung über die Baulogistik bis hin zur Kostenteilung. Im Village im Dritten war das anders, weil das gesamte Areal der Bundesimmobiliengesellschaft entwickelt wurde. "Es ist natürlich einfacher, wenn einem nur ein Verhandlungspartner gegenübersitzt und nicht 20", sagt Deutsch. Die Bewohner bekommen von der Komplexität des Wärmenetzes nichts mit – sie zahlen einen normalen Wärmetarif an Wien Energie, die das System gemeinsam mit der Bundesimmobiliengesellschaft über ein Joint Venture betreibt.
Die Innovation hat ihren Preis: Rund 20 Millionen Euro werden in das Gesamtprojekt investiert. Ein wesentlicher Kostenfaktor sind die Erdbohrungen – nicht zuletzt, weil es nur wenige Unternehmen gibt, die Sondenfelder in dieser Größenordnung realisieren können. Auch die Langzeitstabilität des Systems muss sich erst erweisen. Denn reparieren oder austauschen lassen sich die vergrabenen Sonden nicht mehr, wenn darüber das Gebäude steht. Bei Wien Energie rechnet man mit einer Lebensdauer von 40 bis 50 Jahren. Einige wissenschaftlichen Quellen gehen aber bei solchen Systemen von einer Lebensdauer von bis zu 100 Jahren aus. (Philip Pramer, 13.12.2024)
Die Evolution der Fernwärme
1. Generation: Dampf-Pioniere (1880er bis 1930er)
Die erste Generation der Fernwärme wurde in den 1880er Jahren in den USA entwickelt und nutzte Dampf als Wärmeträger, der unter sehr hohen Temperaturen zu den Gebäuden geleitet wurde. Verbrannt wurde hauptsächlich Kohle und Abfall. Dennoch verbesserte die zentrale Wärmeerzeugung vielerorts die städtische Luftqualität, da einzelne Heizkessel ersetzt werden konnten. Die Systeme hatten aber große Wärmeverluste und waren anfällig für Störungen.
2. Generation: Heißwasser unter Druck (1930er bis 1970er)
Mit der zweiten Generation wurde Dampf durch Druckwasser mit Temperaturen über 100 Grad als Wärmeträger ersetzt. Es kamen verstärkt Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zum Einsatz, die gleichzeitig Strom und Wärme produzierten. Als Brennstoffe dienten neben Kohle und Abfall nun auch verstärkt Öl. Diese Generation ermöglichte durch verbesserte Pumptechnik größere Netzwerke und war deutlich effizienter als die Dampfsysteme.
3. Generation: Das skandinavische Modell (1970er bis heute)
Die dritte Generation arbeitet mit Vorlauftemperaturen zwischen 70 und 100 Grad und nutzt industriell vorgefertigte isolierte Rohre. Eingesetzt wurde es erstmals in Skandinavien, als man aufgrund der Ölkrise nach alternativen Energiequellen suchte. Diese Systeme ermöglichen die effiziente Nutzung verschiedenster Wärmequellen wie industrielle Abwärme, Müllverbrennung, Biomasse und erste Solarthermieanlagen. Durch die niedrigeren Temperaturen sinken die Netzverluste deutlich.
4. Generation: Das Niedrigtemperatur-System (seit 2020er)
Die vierte Generation ist für Vorlauftemperaturen unter 70 Grad ausgelegt und maximiert damit die Effizienz. Diese Systeme nutzen ein breites Spektrum von Wärmequellen: von Großwärmepumpen über Geothermie bis zu Solarthermie und industrieller Abwärme bei niedrigen Temperaturen. Die Integration von saisonalen Wärmespeichern ermöglicht die Nutzung von Sommerwärme im Winter. Die niedrigen Temperaturen machen auch die Nutzung von weniger heißer Abwärme, etwas aus Rechenzentren, möglich. Wenn die Systeme nahe der Umgebungstemperatur arbeiten, werden sie teils auch als fünfte Generation bezeichnet.
mehr dazu in Baden-Württemberg hier
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen