hier FAZ Artikel von Ralph Bollmann • 15.12.24
Wo die Ampel Erfolg hatte: Eine Positivbilanz der scheidenden Regierung
Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die deutsche Bürokratie. Am vorigen Dienstag erhielten die deutschen Auslandsvertretungen in Neuseeland, Guinea und Vietnam den Anschluss ans digitalisierte Visa-System. Damit kann jetzt überall auf der Welt die Einreiseerlaubnis für die Bundesrepublik auf elektronischem Weg beantragt werden. Für Touristen und Geschäftsreisende, Studienbewerber und Jobsuchende ist das eine immense Erleichterung, die nur ermessen kann, wer aus den visumpflichtigen Ländern mal nach dem alten Verfahren hierherkommen wollte.
Solche vermeintlich kleinen Erfolge der Ampelregierung gibt es auf vielen Gebieten. Sie geraten leicht in Vergessenheit, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestags dem Kanzler am Montag aller Voraussicht nach das Misstrauen aussprechen und damit die dreijährige Amtszeit der Ampelregierung endgültig zur Episode der Geschichte erklären. Die Unionsfraktion wird dann einmal mehr das komplette Scheitern dieses Bündnisses verkünden, was in ihrer Rolle als Opposition wohl auch ihre Pflicht ist. Aber auch die Ex-Partner werden so tun, als hätten sie dieser Regierung nie angehört. Die FDP sowieso, aber auch die SPD, die sich aufs Warnen vor einem möglichen Kanzler Friedrich Merz verlegt, und die Grünen, die lieber über eine glückliche Zukunft reden als über vergangene Heizungsgesetze.
Damit tun die geschiedenen Partner das, womit sie sich schon seit ungefähr zwei Jahren das Leben schwer machten: Sie reden ihre eigenen Leistungen klein. Am ehesten wird allgemein noch anerkannt, wie das Krisenmanagement in der ersten Phase nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gelang. Der Kanzler verkündete Aufrüstung und „Zeitenwende“, der grüne Vizekanzler erschloss ohne Skrupel alternative Gasreserven, der Finanzminister stellte die nötigen Sonderkredite bereit.
Innerhalb der Parteien mochten die Linientreuen leise grummeln, die breite Wählerschaft aber erkannte an, dass die handelnden Politiker über eigene Schatten sprangen: Zusammen konnten die drei Koalitionspartner während dieser Phase die absolute Mehrheit in Umfragen wahren. Auch wenn sich die Gewichte zugunsten der Grünen verschoben, weil Robert Habeck mit dem Bau von LNG-Terminals und seiner Verbeugung vor dem Emir von Qatar am heldenhaftesten den Abschied von den Überzeugungen der eigenen Parteibasis zu verkörpern schien.
Wer den Reformstau auflöst, erntet keine Freude
Darin lag schon der Keim künftiger Probleme. Nicht bloß, weil die anderen beiden das Licht der grünen Gralserscheinung dämpfen wollten. Sondern auch, weil alle drei fanden, jetzt müsse die Zeit der programmatischen Opfergänge an ihr Ende kommen. Die SPD wollte ihre Wundmale mit dem Bürgergeld drapieren, die Grünen ihre Entschlossenheit mit dem Heizungsgesetz beweisen, die FDP den schlanken Staat verfechten. Dadurch verdunkelte sich das Bild des Bündnisses, schon bevor das Verfassungsgericht mit dem Urteil zur Schuldenbremse die finanzielle Geschäftsgrundlage der Ampel kippte. Aber keiner der Partner profitierte von dem neuen Streit. An den jeweiligen Höchstständen gemessen, verloren alle drei alsbald fast die Hälfte der Sympathien in den Umfragen.
Dabei geriet allerdings der inhaltliche Grund aus dem Blick, warum die Popularität des Bündnisses zerfiel: SPD, Grüne und FDP fassten tatsächlich viele Themen an, die während der sechzehnjährigen Regentschaft Angela Merkels dem Streben nach Stabilität zum Opfer gefallen waren. Ähnlich wie schon Gerhard Schröder nach der langen Regentschaft Helmut Kohls, musste auch Olaf Scholz die Erfahrung machen, dass die Auflösung eines solchen Reformstaus samt ererbter Wirtschaftsflaute nicht nur Freude hervorruft. Und das, obwohl der Merkel-Imitator Scholz die Dinge sehr viel gemächlicher anging als der sozialdemokratische Vorgänger am Ende seiner Amtszeit.
Da mochte die Visa-Erleichterung samt modernisiertem Einwanderungsgesetz und schnellerer Einbürgerung noch die leichtere Übung sein, wenngleich die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Schritte nur über demonstrative Härte gegenüber anderen Migrationsformen herzustellen war („Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“).
Immerhin ein Versuch, die Bahn zu sanieren
In anderen Bereichen zeigte sich das noch deutlicher. Im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern unternahm der einst freidemokratische Verkehrsminister Volker Wissing nach der Epoche teils demonstrativ lustloser CSU-Verkehrsminister immerhin den Versuch, die Bahn mit dem neuen Konzept der „Korridorsanierung“ wieder flottzumachen. Kurzfristig allerdings ließen die vielen Baustellen die Pünktlichkeitswerte auf ein neues Allzeittief fallen, weshalb es ihm vorerst niemand dankte.
Und mit dem Deutschlandticket befreite Wissing seine Landsleute vom undurchdringlichen Tarifdschungel der Verkehrsverbünde, wenngleich in der Konsequenz wichtige Finanzmittel fehlten. Auch die Glasfaserkabel für schnelles Internet, die nun überall in der Republik verlegt wurden, stießen nicht immer auf Gegenliebe: Mancherorts scheiterte die lange geforderte Verkabelung des Landes schlichtweg daran, dass sich nicht genügend zahlungsbereite Haushalte fanden.
Das Problem der Ampelregierung war nicht allein ihre mit der Zeit wachsende Selbstblockade. Diese späte Schockstarre war vielmehr eine Folge der Erschütterungen, die das genaue Gegenteil ausgelöst hatte: der Versuch, die Versäumnisse von 16 Jahren innerhalb kürzester Zeit nachzuholen.
Das prominenteste Beispiel ist das Heizungsgesetz, das in der Öffentlichkeit wohl den Wendepunkt in der Sicht auf die Regierung markierte. Die Scharmützel um Gasumlage oder verlängerte Atomlaufzeiten wären wohl noch überwindbar gewesen. Um zu wissen, dass auf dem Gebiet der Wärmegewinnung der Reformstau mit am größten war, genügte ein Blick auf internationale Vergleichsstatistiken. Und die lange verfolgte Idee, das Problem mit dem bloßen Umstieg von Öl- auf Gasheizungen, wenn nicht zu lösen, so doch wenigstens zu entschärfen, war spätestens mit Putins Lieferstopp an ein Ende gelangt.
Die Ampel wollte nicht zu wenig, sondern zu viel
Der Wille, die deutsche Verspätung nun in ganz kurzer Zeit nachzuholen, erwies sich als fatal. Zu schnell zu viel zu wollen, das stieß auf den Widerstand der Bevölkerung – und führte zu einem unendlich komplizierten und dadurch nur begrenzt wirksamen Gesetz. Was keineswegs bedeutet, dass sich Wärmepumpen und klimafreundliche Fernwärme auf Dauer nicht doch durchsetzen werden: Es bleibt ein Kennzeichen von Reformprozessen, dass sie zunächst als gescheitert gelten, obwohl sie auf Dauer doch Wirkung zeigen. So war es schon mit Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen gewesen.
Auch jene „Energiewende“, von der die Merkel-Regierungen seit 2011 immer nur sprachen, die sie aber in der Praxis nicht vorantrieben, gewann mächtig an Fahrt. Im vorigen Jahr stammte erstmals mehr als die Hälfte der deutschen Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen, dieses Jahr werden es nach Prognosen der Bundesregierung schon mehr als 60 Prozent sein.
Im Vergleich zum schwächsten Jahr 2016 hat sich die jährlich neu installierte Leistung von Solaranlagen fast verzehnfacht, auch die Kapazität neuer (oder ersetzter) Windräder stieg von tausend Megawatt im Jahr 2019 auf gut 3500 Megawatt 2023.
Auch hier wurde das Problem der Langsamkeit durch ein Problem der Schnelligkeit abgelöst: Netze, smarte Verbrauchsmodelle und Ersatzkapazitäten können mit dem Tempo des Ausbaus noch nicht mithalten. Und die Preise sind für die angestrebte Elektrifizierung weiterer Bereiche nach wie vor zu hoch.
Viele scheinbare Kleinigkeiten kommen hinzu, auch einige, die jetzt dem Ampel-Aus zum Opfer fallen, etwa das Gesetz, dass zu Unrecht Verurteilte für die unfreiwillige Unterbringung während ihrer Haftzeit nicht auch noch Geld bezahlen müssen.
Ein bisschen erinnert das unglückliche Ende der Ampelregierung deshalb an das Schicksal des österreichischen Reformkaisers Joseph II., der seine Länder am Ende des 18. Jahrhunderts umkrempeln wollte – und damit zum Schluss seiner Regierungszeit zunächst als gescheitert galt. „Warum wird Kaiser Joseph von seinem Volke nicht geliebt?“, fragte damals eine weitverbreitete Flugschrift, und sie lieferte die Antwort gleich mit: „Kurz, Kaiser Joseph hat so viele Feinde, weil er Reformator ist, weil jede Reform Missvergnügen machen muss.“ Und der Philosoph Johann Gottfried Herder hielt ihm trotz allem zugute, er habe „an allen Säulen gerüttelt und den Staat beweget“.
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