Donnerstag, 23. Mai 2024

Letzte Generation wegen Bildung krimineller Vereinigung angeklagt

Wir leben in Zeiten der Parallelgesellschaften - und sehen staunend: noch eine Staatsanwaltschaft lässt sich verführen.
Was angesichts der aktuellen Rechtsprechungen auf nationaler und internationaler Ebene hier -und ganz regional auch angesichts der überstürzten Haftentlassung von Samuel aus dem Alti  hier-  tatsächlich dazu geeignet ist  "ein wenig" das Vertrauen in den seriösen Hintergrund der Staatsanwaltschaften erschüttert. Demokratie-Denken geht anders.


Zunächst zwei Kommentare unter dem Zeit-Artikel, die ich nur zu gerne wiedergebe:

King Tut:  Schon Lustig dass ähnliche Aktionen von Bauern und deren Verbänden in Ordnung sind

Alexander_Der_Kleine:  Eine Truppe, die ohne Verletzte oder gar Tote dafür streitet, dass die Regierung sich an die eigenen Gesetze hält, soll also eine kriminelle Vereinigung sein. Aha...
Ich finde einige der Aktionen zwar für die Ziele kontraproduktiv. Aber kriminelle Vereinigung? Was ist dann Shell, RWE oder das Verkehrsministerium?


Zeit hier  am 21. Mai 2024, ZEIT ONLINE, dpa, jsp

Staatsanwaltschaft Neuruppin: Letzte Generation wegen Bildung krimineller Vereinigung angeklagt

Eine Teilgruppe der Letzten Generation soll sich zur Begehung von Straftaten bereit erklärt haben. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin wirft ihr unter anderem Nötigung vor.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat gegen fünf Mitglieder der Letzten Generation Anklage wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung erhoben. Konkret geht es um Aktionen der Gruppe gegen die Raffinerieanlage in Schwedt, den Flughafen Berlin-Brandenburg und das Barberini Museum in Potsdam im Zeitraum von April 2022 bis Mai 2023. In diesem Zusammenhang wirft die Staatsanwaltschaft den Aktivisten auch die Störung öffentlicher Betriebe, Nötigung, Sachbeschädigung und andere Straftatbestände vor.

Wie die Staatsanwaltschaft in einer Mitteilung schreibt, betreffe der Tatvorwurf die Beschuldigten als "Mitglieder einer Teilgruppe der Letzten Generation", die sich "zur Begehung von Straftaten einigen Gewichts" bereit erklärt und an diesen beteiligt hätte. Der Personenzusammenschluss sei "nicht nur auf längere Dauer angelegt" gewesen, sondern habe auch der "Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses" gedient. Bei hinreichendem Tatverdacht lässt das Landgericht Potsdam die Anklage durch Beschluss zur Hauptverhandlung zu, anderenfalls lehnt es die Eröffnung ab. (Aha, es ist also noch nicht sicher, ob der Prozess stattfindet)

Die Bildung einer kriminellen Vereinigung kann gegeben sein, wenn das Ziel einer Gruppierung von mindestens drei Personen darauf ausgerichtet ist, erhebliche Straftaten zu begehen. Expertinnen wie die Juraprofessorin Katrin Höffler halten den Vorwurf im Fall der Letzten Generation für übertrieben.

Kontroverse Debatte

Im Dezember 2022 waren Ermittler unter Federführung der Staatsanwaltschaft Neuruppin mit Durchsuchungen in mehreren Bundesländern gegen die Letzte Generation vorgegangen. Die Ermittlungen lösten eine kontroverse politische Debatte aus. Unterstützer der Letzten Generation appellierten an die Staatsanwaltschaft, von einer Anklage abzusehen.

Die Generalstaatsanwaltschaft München ermittelt in ähnlicher Weise seit gut einem Jahr gegen fünf Klimaschutzaktivisten der Letzten Generation wegen des Verdachts, Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu sein, und gegen zwei weitere wegen Unterstützung. Auch die Staatsanwaltschaft Flensburg führt ein entsprechendes Ermittlungsverfahren.


TAZ  hier

Anklage gegen Letzte Generation:  Klimabewegung solidarisiert sich

Mitglieder der Letzten Generation sind wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Ak­ti­vis­t*in­nen sehen Kriminalisierung.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin erhebt Anklage gegen fünf Mitglieder der Klimaschutzgruppe Letzte Generation. Der am schwersten wiegende Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Auch die Störung öffentlicher Betriebe, Nötigung, Sachbeschädigung und weitere Straftatbestände stehen im Raum.

Im Dezember 2022 hatten die brandenburgischen Staats­an­wäl­t*in­nen Razzien in Wohnungen der Ak­ti­vis­t*in­nen angeordnet, am Dienstag teilten sie ihren Beschluss mit.

Eine kriminelle Vereinigung nach Strafgesetzbuch ist nicht einfach jegliche Gruppe von Menschen, die in irgendeiner Hinsicht rechtswidrig handeln. Dass sie dies tut, bestreitet die Letzte Generation gar nicht, sondern nutzt es ganz offen als Mittel zum Zweck: dem Klimaprotest.

Das gilt für die Straßenblockaden, mit denen sie bekannt geworden ist, aber auch für die Aktionen, um die es der Neuruppiner Staatsanwaltsschaft geht. Dazu gehören etwa die Störung des Betriebs der Ölraffinerie PCK Schwedt sowie der Wurf von Kartoffelbrei auf das Schutzglas vor einem Gemälde im Potsdamer Museum Barberini.

Gefängnisstrafen sind bei Urteil möglich

Eine kriminelle Vereinigung hat die Rechtsprechung bisher als Gruppe verstanden, von der eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Der Tatbestand ist nur erfüllt, wenn das Begehen von Straftaten für die Vereinigung nicht nur von untergeordneter Bedeutung gegenüber anderen Zwecken ist.

Entsprechend hoch ist das Strafmaß, wenn es zu einer Verurteilung kommt: Für die Gründung und die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung kann man bis zu fünf Jahre ins Gefängnis gehen. Selbst für die Unterstützung können es immer noch drei Jahre sein.

Der Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs, in dem der Umgang mit kriminellen Vereinigungen geregelt ist, wird mitunter als „Schnüffelparagraf“ bezeichnet. Der Grund: Der Verdacht ermöglicht polizeiliche Ermittlungen ohne Wissen der Betroffenen.

Die entsprechenden Mitglieder der Letzten Generation äußerten sich erschüttert.
„Mir ist das Blut in den Adern gefroren, als mein Anwalt mich eben über die Anklage informiert hat“, sagte Henning Jeschke. In Berlin war die Senatsjustizverwaltung nach einer Überprüfung 2023 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Letzte Generation nicht als kriminelle Vereinigung eingestuft wird. Die Generalstaatsanwaltschaft München ermittelt noch gegen fünf der Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen.

Andere Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen unterstützen

Etliche Ver­tre­te­r*in­nen anderer Gruppen stellen sich hinter die Angeklagten. 

„Kriminell ist nicht, wer mit friedlichen Mitteln probiert,
die Klimakrise aufzuhalten –
kriminell ist der, der sie vorantreibt“
sagte Luisa Neubauer von Fridays for Future der taz. 

Man muss die Aktionen der Letzten Generation überhaupt nicht gut finden, um sich in diesem Augenblick zu fragen, ob nicht etwas gewaltig schiefläuft, wenn Klimazerstörer für ihre Bilanzen gefeiert werden und Ak­ti­vis­t*in­nen auf der Anklagebank sitzen.“

Christoph Bautz, Gründer und Chef der Onlinekampagnen-Organisation Campact, hält die Anklage für „völlig überzogen und haltlos“. Auch er steht den Aktionen der Letzten Generation teils kritisch gegenüber. „Wir versuchen ja, die Leute zusammenzuführen, nicht gegen Klimaschutz aufzubringen“, sagte er im Gespräch mit der taz. Den Vorwurf der Staatsanwaltschaft Neuruppin halte er für eine „Kriminalisierung, auch der gesamten Klimabewegung“. Das sei „hochproblematisch“.

Für Paula Zimmermann von Amnesty International Deutschland hat „die Kriminalisierung von Klimaprotest in Deutschland eine neue Eskalationsstufe“ erreicht, wie sie am Mittwoch in Berlin sagte.

„Absurd“ nannte Kai Niebert, Chef des Deutschen Naturschutzrings, die Debatte auf Anfrage. „Klar, wer rechtswidrig handelt, muss mit der entsprechenden Konsequenz rechnen – aber es sollte das richtige Maß haben.“ Die Bundesregierung sei wegen des Verstoßes gegen ihr eigenes Klimaschutzgesetz verurteilt worden. „Wenn nun radikale Klimaschützer belangt werden, sollten auch radikale Klimaschutzverweigerer wie Wissing und Lindner belangt werden“, so der Naturschützer. „Das wäre konsequent.“

Manon Gerhardt, Sprecherin von Extinction Rebellion in Deutschland, sprach auf Nachfrage von einer „unangebrachten Überreaktion“, die „ziemlich bedenklich für unsere Demokratie“ sei. „Friedlicher Protest, der sich für das Gemeinwohl einsetzt, wird kriminalisiert“, sagte sie. Gleichzeitig habe sie das Gefühl, dass eine Zunahme rechter Straftaten in der Öffentlichkeit fast untergehe. „Wir bei Extinction Rebellion sehen das sehr kritisch.“

2 Kommentare:

  1. Einen ziemlich erhellenden Artikel über das System der Kriminalisierung findet man und frau durch Eingabe dieser Phrase in eine Suchmaschine "For decades, the Atlas Network has used its reach and influence to spread conservative philosophy—and criminalize climate protest."

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