Sonntag, 26. Mai 2024

»Wollen wir wirklich die Wirtschaft zerstören, nur um den Planeten zu retten?«

hier im Spiegel  Ein Interview von Fiona Ehlers  24.05.2024

 »Ein völkerrechtlicher Meilenstein« 

Expertin zum Urteil zugunsten von Inselstaaten: 
Wer ist verantwortlich für steigende Meeresspiegel? Wie kann man Industrieländer zu mehr Klimaschutz verpflichten? Der Internationale Seegerichtshof fand jetzt überraschend klare Antworten, sagt Völkerrechtlerin Nele Matz-Lück.

SPIEGEL: Frau Matz-Lück, diese Woche hat der Internationale Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg einer Gruppe vom Untergang bedrohter Inselstaaten das Recht auf besseren Klimaschutz zugesprochen – hat Sie die Entscheidung überrascht?

Matz-Lück: Überrascht hat mich die Breite und Tiefe dieses Rechtsgutachtens, um das die Inselstaaten den ISGH gebeten hatten. Das Ergebnis ist ein Sieg der kleinen Inselnationen im Pazifik und in der Karibik, die wissen wollten, ob sie die großen Industrieländer zu mehr Klimaschutz und zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen verpflichten können.

Zur Person

Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, ist Professorin für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Seevölkerrecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie Ko-Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht. Sie lehrt und publiziert zum Seerecht, zum Umweltvölkerrecht und zu anderen völkerrechtlichen Fragen.

SPIEGEL: Und, können sie?

Matz-Lück: Sie können. Denn der Seegerichtshof, immerhin die höchste maritime Instanz weltweit, hat mittels dieses Gutachtens festgestellt, dass Treibhausgase zur Versauerung und Erwärmung der Meere beitragen und somit eine Verschmutzung der Meeresumwelt gemäß dem Uno-Seerechtsübereinkommen von 1982 darstellen. Die knapp 170 Parteien dieses Vertrages, der die Grundlage des Seegerichtshofs bildet und auch »Verfassung der Meere« genannt wird, sind somit verpflichtet, notwendige Maßnahmen im Kampf gegen die Erderwärmung durch Treibhausgase wie CO₂ einzuleiten. Darunter Deutschland, die EU, China, nicht aber die USA. Das Gutachten ist in meinen Augen ein völkerrechtlicher Meilenstein. Denn es mahnt an, was Staaten jetzt zu tun haben, um ihre Sorgfaltspflichten zum Meeres- und Klimaschutz einzuhalten. In Zukunft wird man an dieser Auslegung des Seerechtsübereinkommens nicht mehr vorbeikommen.

SPIEGEL: Was kann diese richterliche Entscheidung konkret bewirken?

Matz-Lück: Im Kern geht es um die rechtlich begründete politische Aufforderung an Staaten, sich ernsthafter als bisher um den Klimaschutz zu bemühen. Dazu gehört das wichtige rechtliche Signal, dass man die Pariser Klimaziele, auch das Ziel, die Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten, in das Seerechtsübereinkommen hineinliest. Der vielleicht wichtigste Punkt ist die verpflichtende Streitbeilegung. Danach könnten zukünftig einzelne Staaten vor den Gerichtshof gebracht werden, wenn sie den strikten Sorgfaltspflichten zum Meeresumweltschutz nicht gerecht werden. Die Feststellung, dass die Emission von Treibhausgasen an Land auch als Verschmutzung der Meere anzusehen ist, ist dafür ein wichtiger Hebel.

SPIEGEL: Im Jahr 2022 hatten mehrere Inselstaaten den ISGH um dieses Rechtsgutachten gebeten, wie kam es dazu?

Matz-Lück: Es hatte sich eine Kommission (Cosis) aus den Inselnationen Antigua und Barbuda und Tuvalu gebildet, der traten bald weitere Inselstaaten bei wie die Bahamas, Vanuatu, die Republik Palau und andere. Gemeinsam riefen sie die richterliche Instanz des Seerechtsabkommens an.

SPIEGEL: Im September fanden dann die Anhörungen in Hamburg statt. Die Inselstaaten schickten ihre Delegierten, sogar Staatschefs kamen, um von den Auswirkungen des Klimawandels zu berichten – von Wirbelstürmen, Überschwemmungen, Erosion, zerstörten Ernten. Und darüber, wie sie sich von den Industrienationen als Hauptverursacher des Klimawandels im Stich gelassen fühlten. Waren Sie vor Ort?

Matz-Lück: Ja, als interessierte Beobachterin. Es war beeindruckend, was die Cosis-Kommission alles aufgefahren hatte an Klimaforschern, Rechtswissenschaftlern und Aktivisten. Und es waren höchst emotionale Auftritte – da berichtete etwa eine junge Frau aus Tuvalu sehr ergreifend über den stetigen Verlust ihrer Heimat und ihre Hoffnung, ihrem Kind noch die Inseln zeigen zu können, bevor sie untergehen. Bei alldem wurde deutlich, welche Anstrengungen es vonseiten der internationalen Staatengemeinschaft bedarf, um dem Anstieg des Meeresspiegels und anderen Auswirkungen des Klimawandels auf die Meere entgegenzuwirken. Ob durch Emissionsreduktion, klar – aber eben auch durch Einrichtungen von Schutzzonen, durch Unterstützung vor Ort, also Technologietransfer aus dem sogenannten Globalen Norden etwa in die Karibik und in den Pazifik.

SPIEGEL: In Hamburg waren es jetzt mehrere Richterinnen und Richter, die das Rechtsgutachten darlegten.

Matz-Lück: 21 Richter aus 21 Ländern, gewählt von den 169 Vertragsstaaten, richtig. Ihre Aufgabe war es, ausgehend von Artikel 192 und Artikel 194 des Seerechtsabkommens die Pflichten der Vertragsstaaten zu überprüfen. Darin heißt es, die Unterzeichner verpflichten sich, »die Meeresumwelt zu schützen und zu erhalten«. Aber auch konkret, die Meere vor »Verschmutzung der Umwelt« zu schützen. In ihrem Gutachten sind die Richter sehr weit gegangen, indem sie die Bedeutung des Schutzes erheblich gestärkt haben. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Richter haben den alten Vertrag von 1982 angemessen fortentwickelt und damit Maßstäbe gesetzt.

»Das Gutachten zeigt,
wie mutig man als Institution vorangehen kann.
Für Staaten ist es ein Appell, zu handeln.«

SPIEGEL: Im Kern ging es also darum, eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, um für eine Art globale Gerechtigkeit zu sorgen und die Verursacher des steigenden Meeresspiegels stärker in die Pflicht zu nehmen und die wehrlosen Opfer zu entschädigen?

Matz-Lück: Das klingt mir zu zugespitzt, von einer Schuldzuweisung ist nicht die Rede in dem Gutachten. Jedoch von einer ganz klaren Verantwortlichkeit, die Meeresumwelt zu schützen eben durch Treibhausgasreduktion. Das Gutachten hat Signalwirkung, es übt Druck auf die verantwortlichen Staaten aus und stellt vieles klar, was man sich in der wissenschaftlichen Debatte gewünscht hätte.

 Zudem ist es ein deutliches Zeichen
in Richtung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag,
der ja derzeit ebenfalls ein Rechtsgutachten
zu Pflichten in Zusammenhang mit dem Klimawandel
auf dem Tisch hat. 

Das Gutachten zeigt, wie mutig man als Institution vorangehen kann. Für Staaten ist es ein Appell, zu handeln. Und es ist eine Möglichkeit für weitere Klagen auf Grundlage des Seerechts.

SPIEGEL: Sie erwarten also eine Prozesslawine?

Matz-Lück: Nein, das nicht, weil ja vor dem Gerichtshof nur Staaten gegen andere Staaten vorgehen können. Aber die Staaten, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, wissen jetzt zumindest, dass sie gegen Staaten, die ihren Klimapflichten nicht nachkommen, Klage einreichen können.

SPIEGEL: Was bedeutet es, dass das Gutachten nicht bindend ist?

Matz-Lück: Es ist nicht bindend, richtig, aber es legt doch ganz deutlich die Pflichten der Staaten dar, das Klima zu schützen. Der Seegerichtshof hat klargemacht, dass er von dieser Auffassung künftig auch nicht mehr abweichen wird. Das bedeutet für Staaten, die sich wie Deutschland völkerrechtsfreundlich verhalten wollen und das als Verfassungsgrundsatz verankert haben, dass sie dieses Gutachten künftig nicht ignorieren können.

SPIEGEL: Und was bedeutet es für Inselstaaten wie Tuvalu, wie können die sich nun konkret wehren?

»Alle sagen, sie wollen das Klima retten.
Aber kein Staat ist gewillt, der Bevölkerung mitzuteilen,
dass alle in Zukunft Einschränkungen in Kauf nehmen müssen.«

Matz-Lück: Mal angenommen, Tuvalus Nachbar Australien setzt sich Klimaziele, die erkennbar nicht ausreichend sind für einen Industriestaat, dann könnte Tuvalu sagen, ihr emittiert weiterhin zu viele Treibhausgase, das lässt unseren Meeresspiegel ansteigen. Tuvalu könnte also Australien womöglich vor dem Seegerichtshof auf Einhaltung strikter Sorgfaltspflichten, das heißt unter Umständen bessere nationale Klimagesetze, verklagen.

SPIEGEL: Aber was hilft das einer Insel, die laut Klimaforschern demnächst unbewohnbar und bis spätestens 2100 untergegangen sein wird?

Matz-Lück: Wenn Staaten weiterhin ihren Pflichten nicht nachkommen, wird es für diese Inselstaaten in einigen Jahren schlicht zu spät sein. Ich gehe außerdem nicht davon aus, das Tuvalu jetzt eine Klagewelle beginnt. Das Einzige, was langfristig hilft, wäre, wenn Industriestaaten endlich anfingen zu handeln. Dazu brauchen wir dieses Gutachten nicht. Denn das sollten sie angesichts der Dringlichkeit ohnehin tun.

SPIEGEL: Wie erklären Sie, dass so ein aufwendiges, globales Gerichtsverfahren verhältnismäßig wenig öffentliches Interesse weckt?

Matz-Lück: Das ist mir tatsächlich unerklärlich, denn das Thema betrifft alle. In Hamburg haben wir ein internationales Gericht, das die Pflichten fast aller Staaten dieser Erde neu definiert und unser globales Gemeinschaftsgut, den Ozean, vor Verschmutzung schützt. Das sollte uns alle angehen, auch meinen 16-jährigen Sohn, dem ich versuche, diese Thematik mit einfachen Worten nahezubringen.

SPIEGEL: Beruhigt es Sie als Mutter, dass es nun dieses Rechtsgutachten gibt?

Matz-Lück: Ja gewiss, aber es ändert wenig an der Tatsache, dass ich mir Sorgen um den Klimaschutz mache und bedauere, wie schwerfällig Staaten sind und immer wieder kurzfristige wirtschaftliche Interessen vor die langfristigen, wichtigen stellen.

Im derzeitigen Europawahlkampf gibt es ein Wahlplakat von »Die Partei«, da heißt es: 
»Wollen wir wirklich die Wirtschaft zerstören, nur um den Planeten zu retten?« 
Diese satirische Zuspitzung trifft es leider. Denn alle sagen, sie wollen das Klima retten, aber kein Staat ist gewillt, der Bevölkerung mitzuteilen, dass alle in Zukunft Einschränkungen in Kauf nehmen müssen. Auch wenn das im Fall meiner Familie bedeutet, dass wir gerade knapp 24 Stunden von Kiel nach Österreich unterwegs waren, da sich unser 16-Jähriger zu Recht weigert, für eine Urlaubsreise in ein Flugzeug zu steigen. 



Tagesschau hier   Stand: bereits am 29.03.2023

Internationaler Gerichtshof  Den Haag soll Klimagutachten erstellen

Der Internationale Gerichtshof soll in einem Gutachten klären, welche Pflichten die Staaten im Kampf gegen die Erderwärmung haben. Angerufen hat das Gericht die UN-Vollversammlung, die eine Resolution des bedrohten Inselstaats Vanuatu annahm.

Im Kampf gegen die Klimakrise hat die UN-Vollversammlung den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag angerufen. Das Gericht soll ein Gutachten dazu erstellen, welche Verpflichtungen Länder zur Bekämpfung der Erderwärmung haben.

Die Resolution betrifft die Handlungen von Staaten, die für die globale Erwärmung verantwortlich sind, sowie ihre Verpflichtungen gegenüber besonders betroffenen Staaten und den Erdbewohnern von heute und morgen. Der Schutz des Weltklimas für die derzeit lebenden und die künftigen Generationen wird als "beispiellose Herausforderung von zivilisatorischer Tragweite" bezeichnet.

Eingebracht hatte die Resolution maßgeblich der Pazifik-Inselstaat Vanuatu, der wegen des Klimawandels existenziell bedroht ist. Das größte Gremium der UN verabschiedete sie einstimmig. Vanuatus Regierungschef, Ishmael Kalsaku, sprach von einer "klaren und deutlichen Botschaft" für die Welt und "auch in die ferne Zukunft".

Gutachten nicht bindend

Das Gutachten des IGH wird in etwa zwei Jahren erwartet
(also März 2025)
Allerdings ist es nicht bindend, könnte aber den Forderungen nach stärkeren Klimaschutzmaßnahmen mehr Nachdruck verleihen, so die Hoffnung der Vereinten Nationen.

"Eine solche Meinung würde der Vollversammlung, den Vereinten Nationen und den Mitgliedstaaten helfen, die mutigeren und stärkeren Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, die unsere Welt so dringend benötigt", sagte UN-Generalsekretär António Guterres. 

Auch nationale Gerichte orientieren sich oft an Gutachten des IGH.Der Internationale Gerichtshof ist das Rechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen und nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof zu verwechseln, der ebenfalls in Den Haag sitzt.

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