Ein UN-Gericht in Hamburg könnte im Kampf gegen den Klimawandel Geschichte schreiben. Für die klagenden Inselstaaten ist es auch ein Kampf um die eigene Existenz.
Elbabwärts, im Hamburger Westen, steht eine weiße Villa, wie es an der Elbchaussee viele gibt. Doch diese weiße Villa könnte bald zum Schauplatz einer einzigartigen Entscheidung werden. Hier residiert der Internationale Seegerichtshof, ein eher unbekanntes UN-Gericht, das aber für 70 Prozent der Erdoberfläche zuständig ist: für die Meere und Ozeane. Das Gericht wurde 1996 gegründet und tagt bei Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des UN-Seerechtsübereinkommens, das Fragen zum Schutz und zur Erhaltung der Meere regelt.
Nun wird das Gericht eine Entscheidung von bahnbrechender völkerrechtlicher Tragweite bekannt geben: Am 21. Mai veröffentlicht es ein Rechtsgutachten, in dem es um die Pflichten der Staaten zum Schutz der Weltmeere vor dem Klimawandel geht. Und um die Frage: Können Treibhausgasemissionen, die von den Ozeanen aufgenommen werden, als Verschmutzung der Meere gelten?
Mehr als nur eine Klimaklage mehr
Nun könnte man meinen: eine Klimaklage mehr. Und es stimmt. Die Entscheidung in Hamburg reiht sich ein in eine ganze Riege von Klagen, Beschwerden und Verfahren zu Klimafragen. Im April dieses Jahres schrieb eine Gruppe von Großmüttern Rechtsgeschichte. Im Namen des Schweizer Vereins Klimaseniorinnen hatten sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Individualbeschwerde eingereicht. Der Vorwurf, dem das Gericht in weiten Teilen zustimmte: Die Schweiz verletze mit ihrer unzureichenden Klimapolitik die Menschenrechte.
N. Gunasekera und O.v. Uexküll sind im Beirat der Klimarechtsorganisation Climate Rights International.Neshan Gunasekera ist Jurist und Research Fellow am Raoul Wallenberg Institute in Lund in Schweden. Er ist in Sri Lanka aufgewachsen und war ein Schüler des sri-lankischen Völkerrechtlers Christopher Weeramantry, der 2007 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Ole von Uexküll ist Direktor der schwedischen Right Livelihood Stiftung, die die so genannten Alternativen Nobelpreise vergibt.
Zuvor entschied 2023 der Oberste Gerichtshof von Montana, dass der US-Bundesstaat bei Genehmigungsverfahren für Öl- und Gasprojekte, entgegen seiner bisherigen Praxis, Klimaauswirkungen zu berücksichtigen habe. Und in Deutschland führte bereits 2021 eine Beschwerde dazu, dass das Bundesverfassungsgericht das Bundesklimaschutzgesetz von 2019 in Teilen für verfassungswidrig erklärte.
Das sind nur drei Verfahren. Das Sabin Center der Columbia University in New York hat es sich zur Aufgabe gemacht, weltweit Rechtsfälle zum Klimaschutz zu dokumentieren. In ihrer Datenbank findet man mehr als 2.000 Fälle in den USA und mehr als 1.000 in anderen Ländern, Tendenz steigend. Bislang stammen die Klagen meist von Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf höhere Rechtsgüter wie das Recht auf Leben oder ihre Freiheitsrechte berufen – Rechtsgüter, die durch nationale Verfassungen oder durch das Völkerrecht geschützt sind.
Der Gang vors Gericht ist Ausdruck einer realen Hoffnung
Im Hamburg sind die Initiatoren des Verfahrens nun selbst Staaten. Es sind zwar klitzekleine Staaten, aber sie haben mittlerweile international eine gemeinsame Stimme und damit politisches Gewicht. Denn seit der UN-Klimakonferenz in Glasgow im Jahr 2021 haben sich acht kleine Inselstaaten um Tuvalu, Antigua und Barbuda zur Commission of Small Island States on Climate Change and International Law (COSIS) zusammengeschlossen. Was sie eint: Die Bevölkerung dieser Inselstaaten hat kaum zur Klimakrise beigetragen und ist gleichzeitig von ihren Folgen – vom Anstieg des Meeresspiegels, von Extremwettern und von der Zerstörung mariner Ökosysteme – besonders stark betroffen.
Angesichts der völlig unzureichenden politischen Fortschritte bei den UN-Klimakonferenzen mag der Gang der Inselstaaten vor den Seegerichtshof wie eine Verzweiflungstat wirken. Doch für sie ist es Ausdruck einer realen Hoffnung – der Hoffnung nämlich, dass der Internationale Seegerichtshof mit dem Gewicht seiner völkerrechtlichen Bewertung genau das Forum sein könnte, das der Tragweite des Klimawandels als Menschheitsproblem endlich gerecht wird.
Ein Gutachten des Internationalen Seegerichtshof überhaupt zu erwirken, ist schon ein politischer Erfolg für die Inselstaaten. Das Verfahren nahm im Herbst 2023 Fahrt auf, mit der Anhörung der Vertreterinnen und Vertreter der Inselstaaten und Dutzender weiterer Länder. Dabei ging der Gerichtshof von drei Grundlagen aus: dass der Klimawandel eine globale Tragweite hat, dass wissenschaftliche Erkenntnisse bei deren Bewertung angewandt werden müssen, und dass die eingegangenen Verpflichtungen der Staaten, den Klimawandel abzuwenden, anerkannt werden.
Auch das Gewohnheitsrecht der Völker hat Gewicht
Die Verantwortung, aber auch der rechtliche Entwicklungsspielraum, den die Richterinnen und Richter in Hamburg jetzt haben, ist immens. Die Dringlichkeit des Klimawandels ist real, und 30 Jahre internationale Klimadiplomatie haben keine Abkehr vom Trend steigender Emissionen gebracht. In den Weltmeeren haben die irreversiblen Schäden durch den Klimawandel kritische Ausmaße erreicht – gerade erlebt die Welt die vierte und bisher schlimmste Korallenbleiche.
Für ihr Gutachten werden die Richterinnen und Richter, die nach den Regeln des Gerichts alle Weltregionen repräsentieren, auf die formalen Quellen des Völkerrechts zurückgreifen:
Das können Abkommen sein genauso wie frühere Gerichtsentscheide. Sie sind aber auch gehalten, das Gewohnheitsrecht der Völker zu beachten. Das sind allgemein akzeptierte Normen und Praktiken, die sich in den Staaten und zwischen den Staaten herausgebildet haben. Dazu gehören auch die Traditionen indigener Kulturen, in denen die Natur einen viel höheren Stellenwert hat als in der westlichen Rechtstradition, oder die Prinzipien der großen Weltreligionen für die Bewahrung der Schöpfung. Und genau hier liegt eine Chance, dem existenziellen Charakter der Bedrohung durch den Klimawandel gerecht zu werden.
Ein Pionier der Idee, das Völkergewohnheitsrecht so umfassend auszulegen, war der Jurist und ehemalige Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofs Christopher Weeramantry aus Sri Lanka. Weeramantry bezeichnete das etablierte Völkerrecht als "monokulturell und eurozentrisch" und bezog sich in seinen Schriften und Urteilsbegründungen häufig auf Prinzipien anderer Rechts- und Glaubenssysteme – bis hin zu den Texten islamischer Schriftgelehrter des 8. Jahrhunderts. Mit diesem globalen Ansatz war er an der Entwicklung wichtiger rechtlicher Grundsätze wie der Generationengerechtigkeit beteiligt und der Treuhänderschaft für die natürlichen Lebensgrundlagen. Sein juristisches Wirken wird heute von Fachleuten weltweit als Grundlage für die Weiterentwicklung des internationalen Umweltrechts und des Rechts der nachhaltigen Entwicklung angesehen.
Die Richter handeln als Treuhänder der Erde
Diese Vision sollte auch die Richterinnen und Richter des Internationalen Seegerichtshofes leiten. Ihnen kommt eine historische Aufgabe zu. Sie handeln als Vertreterinnen der gesamten Menschheit und damit auch als Treuhänder der Erde.
Aus diesem Verständnis heraus könnte das Gutachten entscheidende Weichen stellen: Es könnte die Verwendung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse als Rechtsprinzip hervorheben und damit das Völkerrecht stärker an naturwissenschaftliche Erkenntnisse binden. Nicht zuletzt könnte das Gutachten die Verantwortung der Staaten für die extraterritorialen Folgen ihres Handelns, und damit für den gesamten Planeten, genauer definieren.
Obwohl das Gutachten Staaten nicht direkt binden kann, wäre damit ein wichtiger Meilenstein erreicht. Denn auch wenn die Vereinten Nationen keine eigentliche politische Macht haben, um das Völkerrecht gegen Staaten durchzusetzen, so steht Völkerrecht doch formal über nationalem Recht. Es entfaltet seine Wirkung auch dadurch, dass es Standards setzt, die von nationalen Regierungen und Gerichten weiter umgesetzt werden.
Daher kann das wenig beachtete Hamburger Gericht einen Grundstein legen, um die Staaten dieser Welt endlich zu einem konsequenteren klimapolitischen Handeln zu bewegen. Das wäre ganz im Sinne von Richter Weeramantry, der seine internationalen Richterkolleginnen und -kollegen einst dazu aufrief, "im 21. Jahrhundert unser Haus in Ordnung zu bringen, denn wenn wir das nicht tun, wird es vielleicht kein 22. Jahrhundert geben".
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