Süddeutsche Zeitung hier 28. Mai 2024 Von Michael Bauchmüller, Berlin
Atomkraft: Als die Sicherheitsexperten rebellierten
Atomkraft, ja bitte: 2010 wollten Union und FDP die Laufzeiten verlängern. Nun zeigen Vermerke aus dem Umweltministerium, wie dabei ein wichtiges Referat übergangen wurde.
Akribisch durchforstet die Union derzeit Akten aus dem Bundesumweltministerium.
137 Schriftstücke hat die Fraktion ausgewertet, zum "Komplex Kernkraft-Aus". Hat die Atomaufsicht im Ministerium wirklich neutral und unabhängig gearbeitet, als die Bundesregierung 2022 über längere Laufzeiten für die verbliebenen Atomkraftwerke beraten hatte? "Hieran bestehen erhebliche Zweifel", findet die Unionsfraktion in einem internen Vermerk von dieser Woche. Nötig sei eine "lückenlose Aufklärung". Wenn sie nur wüsste, was da noch so alles lauert.
Seit Wochen treibt die Union die Ministerien für Umwelt und Wirtschaft mit Fragen vor sich her. Der Vorwurf steht im Raum, dass sich Beamte dort vorschnell darauf festgelegt hatten, am Fahrplan für den Atomausstieg festzuhalten - trotz einer aufziehenden Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Erst als sich die Lage zuspitzte, machten die grünen Ministerien den Weg frei für dreieinhalb Monate mehr Laufzeit. Den großen Skandal hat der Ermittlungseifer aber bisher noch nicht zutage fördern können.
Das "RS I 3" wird nicht gefragt, schreibt aber Vermerke
Da findet sich in früheren Akten womöglich mehr. Denn es gab schon einmal Vorarbeiten für eine Verlängerung von Laufzeiten - das war 2010. Seinerzeit ist mit Norbert Röttgen ein Unionspolitiker Umweltminister. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich vorgenommen, die damals 17 deutschen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Röttgen ist zwar kein Fan davon, aber er lässt sein Haus machen. Und die Beamten seines Ministeriums gehen ans Werk. Jedenfalls, wenn sie dürfen.
Interne Unterlagen, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, zeigen nun, dass ein zentrales Referat im Umweltministerium bei den Arbeiten übergangen wurde - nämlich ausgerechnet jenes, das für die Atomaufsicht und "Grundsatzangelegenheiten der nuklearen Sicherheit" zuständig ist. RS I 3 heißt es, RS steht für Reaktorsicherheit. Diese Arbeitsgruppe wird damals nicht gefragt. Vermerke schreibt sie trotzdem, und die haben es in sich.
Ende April 2010 meldet sich die Arbeitsgruppe mit einem "Sachstandsvermerk" zu Wort. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet ein "Bund-Länder-Arbeitskreis" daran, eine Liste mit langfristig erforderlichen Nachrüstungen anzufertigen, damit die Reaktoren länger laufen können. An dessen Sitzungen, so beschwert sich das zuständige Referat, habe man aber nicht teilgenommen "und wurde auch nicht intern an der Erarbeitung des Entwurfs beteiligt". Schon rein formal hätte es beteiligt werden müssen, heißt es heute aus dem Umweltministerium.
Und das Referat hat 2010 schwerwiegende Vorbehalte. Das Atomgesetz verlangt schon damals, die Sicherheit der Reaktoren am "Stand von Wissenschaft und Technik" auszurichten. Damit können Behörden Nachrüstungen verlangen, wenn dies aus Sicherheitsgründen erforderlich ist. Eine vorab festgelegte Nachrüstliste dagegen könne es der Atomaufsicht erschweren, mehr zu verlangen, warnen die Beamten. Es drohe "ein erheblicher Sicherheitsrückschritt" - und das gewissermaßen unter dem Deckmantel der Sicherheit. Ältere Atomkraftwerke wie Biblis A, Brunsbüttel und Neckarwestheim I, dürften "ohne Nachrüstungen zunächst weiter laufen". Dabei wiesen sie nach Untersuchungen des Ministeriums "erheblich weniger Sicherheitsreserven als modernere Kernkraftwerke" auf.
"Der Schutz vor zufälligem und terroristischem Flugzeugabsturz wird ausgespart"
Nachrüstauflagen, die der Bund-Länder-Arbeitskreis zu diesem Zeitpunkt schon zusammengetragen hat, verwerfen die Beamten - allesamt ließen sie sich schon mit den geltenden Gesetzen erreichen, müssten also nicht eigens festgelegt werden. Mehr noch: "Der Schutz vor zufälligem und terroristischem Flugzeugabsturz wird ausgespart", dabei sei hier der Abstand älterer zu neueren Anlagen "ganz erheblich". Folgen, so heißt es heute im Umweltministerium, habe der Vermerk damals keine gehabt.
Mitte August gehen die Beamten noch einen Schritt weiter. Die Vorbereitungen sind inzwischen weit vorangeschritten, auch die Kanzlerin will rasch Nägel mit Köpfen machen. In Anzeigenkampagnen treten Promis für längere Laufzeiten ein, entsprechende Gesetzentwürfe kursieren im Umweltministerium. Da wendet sich die Arbeitsgruppe RS I 3 direkt an den Minister, mit Abdrucken für alle Staatssekretäre. Jene Fachleute im Ministerium, die sich mit der Akw-Sicherheit beschäftigen, lassen noch einmal die Alarmglocken schrillen.
Zu Unrecht gehe der Gesetzentwurf davon aus, dass bei Akws mit mehr als 30 Jahren Laufzeit "Schäden nach dem Stand von Wissenschaft und Technik ausgeschlossen sind und folglich auch die Laufzeitverlängerung praktisch keine Risikoerhöhung bewirke", schreiben die Beamten. "Diese Annahme ist unzutreffend."
Einmal mehr warnen sie davor, dass vorab festgelegte "Nachrüstlisten" letztlich den Spielraum der Atomaufsicht einengen - etwa, um "bei neu erkannten Risiken behördliche Maßnahmen zu ergreifen". Hohe Sicherheitsstandards ließen sich nur einhalten, "wenn vor der Gewährung der zusätzlichen Stromproduktionsrechte eine effektive behördliche Prüfung stattgefunden hat". Und dann, als letzter Satz, das Votum der Beamten zu den Atomgesetz-Novellen: "Keine Billigung der vorgelegten Entwürfe".
Die Beamten greifen damit 2010 zum Äußersten. "Mit der Vorlage für den Minister hatte das Referat faktisch remonstriert", heißt es im Umweltministerium, "und deutlich gemacht, dass es das so nicht mitträgt." So eine Remonstration ist für Beamte der einzige Weg, ihren Widerwillen aktenkundig zu machen. Und in den Akten schlummert dieser Vorgang nun, bisher hat sich auch die Union noch nicht dafür interessiert. Allerdings war die Zeit über diese Vorgänge auch rasch hinweggegangen, schon sechs Monate später, nach dem Fukushima-Unglück, interessierte die gleiche Regierung nur, wie sie möglichst sauber aus der Atomenergie rauskommt. Aus Sicherheitsgründen.
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