Mittwoch, 29. Mai 2024

Berlin als letzte Auto-Bastion Westeuropas: "Ich konnte das Chaos kaum fassen"

Man erinnere sich: An sich hatte man in Berlin schon mal ganz gute Fortschritte vor Augen hier
Doch nach der letzten Wahl in unserer Bundeshauptstadt erfolgte umgehend die politische Kehrwende: dabei wurden Radwege und Radstreifen gesperrt. Selbst fertig gebaute Radwege waren betroffen.

Changing Cities sieht Verkehrswende in Berlin "abgewürgt"

Nur ein Drittel der geplanten Radwege fertiggestellt, Einbußen bei der Sicherheit: Der Verein Changing Cities sieht die Verkehrswende "geschreinert". Senatorin Schreiner wiederum gibt zu: Die Ausbauziele bis 2030 werden nicht erreicht."  hier vom 30.1.24

Erst vor Kurzem hatte die Deutsche Umwelthilfe ihr Recht auf Akteneinsicht zu diesem Vorgang eingefordert hier


Zeit hier  Von Mathias Irminger Sonne / Aus der ZEIT Nr. 23/2024 / 27. Mai 2024

Fahrradfahrer auf Bürgersteigen, brüllende Autofahrer und eine Kampagne gegen das Lastenrad – wie ein Däne die Berliner Verkehrspolitik erlebt 

Als Däne, der täglich mindestens eine Stunde Fahrrad in Berlin fährt, muss ich zunächst eine Beichte ablegen: Natürlich radle ich in Berlin auch gelegentlich über den Zebrastreifen, auf dem Gehweg oder sogar ein Stückchen in die falsche Richtung auf dem Radweg. So machen es ja fast alle Radfahrer in Berlin, auch weil einem schlicht die Radwege fehlen.

Nur: Würden wir in meiner Heimatstadt Kopenhagen so Rad fahren wie in meiner Wahlheimat Berlin, wären wir Radfahrer schnell ein ganzes Stück ärmer. Denn in Kopenhagen wird viel, gern und schnell Fahrrad gefahren, aber eben auch regelkonform. Sonst wird’s teuer. Ein paar Meter über den Gehweg, und du bist 100 Euro los. Beschimpft wirst du ganz sicher auch.

Dass Verkehrsregeln hier in Berlin nicht besonders ernst genommen werden, weder von Radfahrern noch von Autofahrern, die sich fahrradfeindlich verhalten, erklärt aber nicht allein das tägliche Verkehrschaos in Berlin. Autofahrer, die Radfahrer anschreien. Radfahrer, die auf Autodächer schlagen. Ganz abgesehen von der erschreckenden Unfallstatistik: 574 schwer verletzte und 12 getötete Radfahrer 2023. Inzwischen ist Fortbewegung in Berlin ein bisweilen lebensgefährlicher Kampf geworden.

Mein Arbeitsweg führt von Kreuzberg zu den Nordischen Botschaften am Rande des Tiergartens. Eigentlich wäre der Weg entlang des Landwehrkanals am schnellsten. Klingt romantisch. Am Reichpietschufer und Schöneberger Ufer sind aber doppelspurige Straßen für Autos auf beiden Seiten – zum Teil ohne Fahrradwege, dafür mit Busspuren, Baustellen und geparkten Autos auf der Innenspur. Und wo es Radwege gibt, verlaufen die teils über Gehwege, Fahrbahn und Kopfsteinpflaster. So sieht es immer noch auf vielen großen Straßen in Berlin aus.

Mathias Irminger Sonne

arbeitete 2009 bis 2023 als Korrespondent einer dänischen Tageszeitung in Deutschland. Seit 2023 ist er Kultur- und Kommunikationschef der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin

Klar, Berlin muss man nicht mit Streberstädten wie Kopenhagen vergleichen. Neulich aber radelte ich an der Seine in Paris entlang – witzigerweise auf einem Leihrad der Berliner Firma Tier. Auf der Strecke, die Tuilerien auf der einen Seite, das Musée d’Orsay auf der anderen, ist der Fahrradweg so breit wie die Autospur. Glücklich schwebte ich durch die ehemals so autobelastete Stadt und überlegte: Ist Berlin die letzte Auto-Hauptstadt in Westeuropa?


Mit den immensen Fortschritten im öffentlichen Nahverkehr
und seiner Fahrrad-Infrastruktur lässt Paris heute Berlin alt aussehen.
Ähnliches gilt für europäische Städte wie Oslo, Barcelona und Basel. Und eben: Kopenhagen.


Dänemark wird in Deutschland oft als Vorbild gepriesen – von rechts über liberal bis nach links. Die dänische Migrationspolitik, das dänische Wirtschaftswachstum, die dänische Digitalisierung, der dänische Sozialstaat. Im gesamten politischen Spektrum finden die Deutschen ihre Gründe, Dänemark als das bessere Deutschland darzustellen und benutzen diese dann als Hebel für politische (Selbst-)Kritik. Im heutigen Deutschland, wo die Lage besser ist als die Stimmung, ist das vielleicht gelegentlich übertrieben. Aber etwa bei der Energiewende und der Digitalisierung doch ganz treffend – sowie in Sachen Fahrradfahren.

Politiker und Behörden in Kopenhagen reden selbstbewusst von der "weltbesten Fahrradstadt". Es gibt in der Stadt ungefähr so viele Fahrräder wie Einwohner. Täglich werden in Kopenhagen fast 1,5 Millionen Kilometer auf dem Rad zurückgelegt. Dutzende Fahrradbrücken verbinden ein ungefähr 230 Kilometer langes Streckennetz aus "Super-Fahrradwegen" kreuz und quer durch die Stadt. Und im zentralen Kopenhagen werden Parkplätze auf Straßenebene massiv gestrichen.

Die fahrradpolitischen Ziele für 2025 wurden schon im Jahr 2011 festgelegt – und sie sind fast erfüllt. Das Wichtigste: dass 50 Prozent aller Strecken zur Arbeit oder zur Ausbildung mit dem Rad zurückgelegt werden. Laut der letzten großen Mobilitätsuntersuchung 2023 waren 45 Prozent erreicht. Ein anderes Ziel: 90 Prozent sollen sich bis 2025 in Kopenhagen sicher auf dem Fahrrad fühlen. Auch hier ist das Ziel fast erreicht. Dazu sind 97 Prozent der Rad fahrenden Kopenhagener insgesamt mit ihrer Stadt zufrieden.

Als Vergleich: Im Berliner "Fahrradklimatest" des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) aus dem vergangenen Jahr gaben die Radfahrer der Stadt die Schulnote 4,1 – also durchgefallen.

Wie sehr ich Berlin auch liebe: Ich konnte das Chaos kaum fassen, als ich vor 15 Jahren von Kopenhagen hierher zog. Fehlende Radwege. Zerlöcherte Radwege. Radwege, die plötzlich enden oder vor Bäumen abrupt abknicken. Unmögliche Kreuzungen ohne getrennte Ampeln für Fahrräder. Und auch damals schon: Aggressionen zwischen Auto- und Fahrradfahrern. Verwundert musste ich feststellen, dass Fahrräder in Berlin als Problem und nicht als Lösung gesehen werden.

Im dänischen Transportministerium berechnet man den sozioökonomischen Nutzen des Fahrradfahrens und kommt – nicht überraschend – zum Ergebnis: 


Autofahrer kosten die Gesellschaft viel mehr Geld
als Fahrradfahrer.
Genauer: 8,39 Kronen beziehungsweise 1,12 Euro
spart die Gesellschaft pro Kilometer,
wird dieser mit dem Rad statt mit dem Auto zurückgelegt. 


Und da mehr, bessere und vor allem sicherere Radwege nachweisbar die Anzahl der Radfahrer steigern, gibt es in Dänemark und Kopenhagen auch jetzt noch offensive Pläne für den Ausbau.

Offensiv, davon kann in Berlin nicht die Rede sein. Das Ziel des Berliner Radverkehrsplans – festgelegt im Mobilitätsgesetz von 2018 – fordert eine Steigerung des Fahrradanteils von 18 auf 23 Prozent – bis zum Jahr 2030. Aber selbst dieser bescheidene Vorsatz wird wahrscheinlich nicht eingehalten, wenn der Ausbau so langsam weitergeht wie bisher. Eigentlich müsste die Stadt dazu nämlich 100 Kilometer Radweg jährlich bauen. Das hat sie bisher in keinem der Jahre geschafft. Ende 2024 werden es wohl 38,7 Kilometer sein.

Das Rad, so scheint man in Berlin zu meinen, ist verzichtbar. Die Stadt gehört zu den staureichsten Deutschlands, und ein Rad braucht nur ein Sechstel des Platzes, verglichen mit einem Auto. Offenbar egal. Es scheint nicht vorstellbar, was in Kopenhagen schon längst Realität ist: dass Fahrradfahren ein Eckpfeiler des Transportsystems wird.

Unverzichtbare Bedingung dabei: mehr Platz für Fahrräder. Aber damit ist nicht nur gemeint, dass Radwege ausgebaut werden. Man muss das Fahrradfahren leichter machen. Es muss einfach sein, ein Rad zu besitzen, zu fahren. Auch hier kann sich Berlins – ansonsten toller – ÖPNV eine Menge von Kopenhagen abschauen. In der dänischen Hauptstadt kann man das Rad ohne Probleme in Metro, S-Bahn und sogar in vielen Bussen mitnehmen. Und an unzähligen Bahnhöfen gibt es zivilisierte Parkmöglichkeiten fürs Zweirad.

Warum werden Lastenräder dämonisiert?

Diese Entwicklung ist in Kopenhagen seit Jahrzehnten politisch gewollt – obwohl die Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. In Kopenhagen ist trotz allem die Menge an Autos mit dem Wohlstand der letzten Jahrzehnte gestiegen. Auch hier kutschieren Helikoptereltern ihre Kinder immer öfter mit dem Auto herum. Und auch in Kopenhagen ist es oft schwierig, neue Radwege oder verkehrsberuhigte Fahrradstraßen durchzusetzen.

Ein anderes Problem konnte ich neulich an einem sonnigen Nachmittag an der Königin-Louise-Brücke erleben: Täglich fahren hier bis zu 40.000 Fahrräder vorbei, und in der Fahrrad-Rushhour ist der Fahrradweg gelegentlich so voll, dass man zwei Fahrradampel-Phasen warten muss, bevor man über die Kreuzung kommt. Auch problematisch. Aber immerhin ein geregeltes Drängelproblem.

An dieser Stelle noch ein Geständnis: Ich habe nie ein Auto besessen. Ich habe zwei Kinder und wohne in Berlin wenige Minuten zu Fuß von einem U-Bahnhof entfernt, alles lässt sich im Alltag locker mit dem Fahrrad erledigen. Selbstverständlich habe ich ein Lastenrad gekauft, als meine erste Tochter in Berlin auf die Welt kam. Teuer? Ja. Aber das Lastenrad hat 15 Jahre mit Reparaturen für wenige Hundert Euro gehalten. Parkgebühren und Spritkosten: null. Auch unsere zweite Tochter, die täglichen Einkäufe und fast alle Materialien für eine Wohnungsrenovierung haben reingepasst.

Umso größer ist meine Fassungslosigkeit darüber, wie das Fahrradfahren und vor allem das Lastenradfahren in gewissen Teilen der deutschen Presse fast identitätspolitisch dämonisiert wird: So etwas fährt ja nur das rotgrünverwöhnte Biobürgertum, das uns das gute alte Auto wegnehmen will!

Aus Kopenhagener Sicht purer Nonsens. Fahrradfahren ist hier ein fast schon konservatives Kulturgut geworden, und Lastenrad fahren alle Eltern, denen ihre Zeit lieb ist. Sogar Frederik, unser neuer König, ist viel mit seinen königlichen Kids in einem Lastenrad in Kopenhagen herumgefahren – ohne dafür verspottet zu werden, aber gefeiert wurde er auch nicht. Denn das Lastenrad ist einfach ein praktisches Transportmittel in einer Großstadt.

Für Kenneth Øhrberg Krag, den Direktor des Dänischen Fahrradverbands, Dansk Cyklistforbund, ist das der entscheidende Grund, warum die Verkehrswende in Kopenhagen so weit fortgeschritten ist. Er sagt am Telefon: "Kopenhagen ist Weltspitze, auch weil Fahrradfahren in Dänemark unpolitisch ist. Man muss nicht grün oder rot sein, um Fahrrad zu fahren und die Fahrradkultur zu fördern."

Während er spricht, kommen mir die Bilder einer Reihe sowohl konservativer als auch sozialdemokratischer Spitzenpolitiker auf dem Fahrrad vor dem Parlament in Kopenhagen in den Sinn.

Der dänische Fahrradboss zählt die Parteien im Parlament auf, die für das Radfahren sind. 

"Eigentlich sind alle Parteien fürs Fahrradfahren, auch wenn vielleicht in unterschiedlichem Ausmaß.


Radfahren löst eben so viele Probleme,
vor denen die Politik steht –
vom Klima über Stadtplanung bis zur Verkehrsdichte,
gesund ist es auch.
Da kann man sich eigentlich keine parteipolitischen Grabenkämpfe leisten.


Niemand glaubt daran, dass auch noch in 50 Jahren die heutige Menge an privaten Autos den Kern unseres Stadtverkehrs ausmachen wird."  Niemand – außer den Berlinern vielleicht.

Angst vor Veränderung

Eine Stadt, in deren Mittelpunkt nicht mehr das Auto steht, diese Vorstellung scheint hier eher zu beängstigen. Unbezahlbar ist eine Verkehrswende ja nicht. Eher gibt es ein Verteilungs- und nicht ein Finanzierungsproblem. Allein der 16. Bauabschnitt zwischen Dreieck Neukölln und der Anschlussstelle Treptower Park wird über 700 Millionen Euro kosten. Das sind dann um die 220.000 Euro – pro Meter A 100.

Angst vor Veränderung, Angst davor, dass etwas verloren geht, aber auch tatsächliche Angst vor Fahrrädern, das begegnet mir in Berlin immer wieder. Laut Untersuchungen fürchten vor allem ältere Fußgänger eher die Fahrräder als die Autos. Eine statistische Absurdität in Anbetracht der Verletzungen und Todesfälle, die das Auto verursacht: 11 getötete und 458 schwer verletzte Fußgänger allein im Jahr 2023. Trotzdem ist die Angst vor dem Fahrrad eine psychologische Realität, die die Berliner Verkehrspolitiker beseitigen müssen, aber auch wir Radfahrer.

Denn wir müssen uns wohl alle an die eigene Nase fassen. Neulich in der Prenzlauer Allee hat ein Autofahrer vor meiner Nase mit dem rechten Hinterrad auf dem Radweg geparkt und ist schulterzuckend davongegangen. Ich hatte kurz die kindische Fantasie, mein Lastenrad auf der Autospur zu parken und abzuschließen. Aber ebensolche Kränkungskonfrontationen müssen wir überwinden: wir gegen die, Fahrrad gegen Auto. Denn wenn es mehr Fahrräder gibt, gewinnen alle. Auch die Autofahrer unter uns.

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