Die „Erwartungen der deutschen Wirtschaft“ kommen im Anhang einer E-Mail ,
die am 30. April 2021 im Justiz-Ressort der Europäischen Kommission
eingeht: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
teilt darin detailliert mit, was das geplante EU-Lieferkettengesetz
leisten soll, oder besser: was nicht.
In einem sogenannten Non-Paper ,
einem informellen Papier, das nicht zur Veröffentlichung gedacht ist,
stellt die BDA deutliche Forderungen. Die „deutsche Wirtschaft“ habe
„praktische Erwartungen“ an eine europaweite Regulierung: Die Umsetzung
müsse „machbar“ und „angemessen“ sein, aber auch klar begrenzt: „Die
Pflicht, für Menschenrechte zu sorgen, fällt in die Zuständigkeit von
staatlichen Autoritäten und kann nicht einfach an Unternehmen
outgesourced werden.“
Das Papier der BDA ist ein Beispiel dafür, wie Wirtschaftsverbände
und Lobbyorganisationen seit Monaten gegen ein weit reichendes
Lieferkettengesetz auf EU-Ebene Sturm laufen. CORRECTIV und SWR
liegen mehr als 100 Positionspapiere, Briefe, E-Mails und Protokolle
vor, die aufzeigen, wie Unternehmens- und Lobbyverbände gezielt
versuchen, geplante Regulierungen zu schwächen oder auszuhöhlen.
EU-Gesetz soll Schäden an Mensch und Umwelt verhindern Wie die Recherche zeigt, ist es neben der dänischen und schwedischen
vor allem die deutsche Wirtschaft, die vehement Druck macht. Strittig
ist vor allem die zivilrechtliche Haftung; die Verbände wollen unter
allen Umständen verhindern, dass Unternehmen für Schäden an Mensch und
Umwelt zur Rechenschaft gezogen werden können.
Das europäische Lieferkettengesetz soll Unternehmen dazu
verpflichten, bei ihren Zulieferern weltweit auf die Einhaltung der
Menschenrechte und Umweltstandards zu achten. So will die EU
ausschließen, dass die europäische Wirtschaft Missstände wie
Kinderarbeit, Ausbeutung und Umweltzerstörung in anderen Ländern befördert.
Angestoßen wurde die Debatte um die Verantwortung der Unternehmen,
als 2013 mehr als 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter beim Einsturz der
Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch starben. Sie hatten Kleider für
Modekonzerne wie C&A, Primark und Kik genäht.
Kommission streitet bis zum letzten Moment über Details Am Mittwoch dieser Woche will die EU-Kommission nach langen
Verzögerungen ihren Entwurf für die Richtlinie vorstellen. CORRECTIV und
SWR liegt eine geleakte aktuelle Fassung vor, der zwar vergleichsweise
strenge Regelungen enthält. Allerdings fallen einige kritische Punkte,
insbesondere hinsichtlich der Haftung und der Sorgfaltspflichten, eher
weich und unkonkret aus. In diesen Aspekten bleibt der Text hinter einem
Vorschlag des EU-Parlaments aus dem März vergangenen Jahres zurück.
Ob der Entwurf morgen genau so vorgestellt wird, ist noch nicht klar.
Aus der Kommission hieß es am Dienstag, es werde aktuell noch über
einzelne Details gestritten.
Einige Parlamentarier gehen jedoch davon aus, dass sich die
Lobbyisten mit einigen Forderungen durchgesetzt haben, was die Schärfe
der Kontrollpflichten angeht: „Die Idee, Leitplanken für die
Geschäftsinteressen aufzustellen, ist wohl ziemlich eingedampft worden“,
sagt der EU-Abgeordnete Bernd Lange (SPD). Zwar plädieren einige
Unternehmen inzwischen sogar für klare und verbindliche Regelungen.
In Deutschland setzten sich die Lobbyisten mit ihren Forderungen durch Im Februar dieses Jahres forderten mehr als 100 Unternehmen in einer gemeinsamen Erklärung ein
wirksames EU-Lieferkettengesetz einschließlich Haftungsregelungen .
„Aber die Verbände schießen absolut dagegen”, sagt Bernd Lange. „Die
sehen eine Regulierung als Angriff auf das freie Unternehmertum, und das
hat zu erheblichen Diskussionen geführt.“
In Deutschland beschloss der Bundestag schon im Juni 2021 ein
Lieferkettengesetz, das Menschenrechts- und Umweltaktivisten als zahnlos
und lückenhaft kritisierten . Wirtschaftsverbände hatten im Vorfeld
vehement Einfluss geltend gemacht. Medienberichten zufolge schwächte der
damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den Entwurf auf Druck
der Lobby hin deutlich ab.
Nun deutet sich an, dass sich dasselbe auf europäischer Ebene
wiederholt, auch wenn die geleakte EU-Richlinie deutlich über das
deutsche Gesetz hinausgeht: Das Europaparlament hatte im März 2021 einen
ambitionierten Vorschlag für eine neue Richtlinie beschlossen . Demnach
sollten für alle Unternehmen ab 250 Beschäftigten weit reichende
Sorgfaltspflichten gelten, die die gesamte Lieferkette umfassen. Im
Falle von Verstößen sind Bußgelder und eine privatrechtliche Haftung
vorgesehen.
Wirtschaftslobby will Gesetz mit „begrenzter Tragweite“ Diese Vorgaben attackiert die Wirtschaftslobby seit Monaten. Die
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände etwa stellt in ihrem
Non-Paper fest: „Die Tragweite jedweder möglicher
Lieferketten-Regulierung sollte begrenzt sein.“ Unternehmen mit weniger
als 5.000 Beschäftigten „sollten von jedweden regulierenden Maßnahmen
ausgeschlossen sein. “ Kleinen und mittleren Unternehmen sollten neue
rechtliche Pflichten „erspart“ bleiben, damit sie sich „weiter auf
ausländischen Märkten engagieren können.“
Wie viele Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten es in der EU
gibt, ist nicht erfasst. In Deutschland wären es rund 300 von mehr als
3,3 Millionen Unternehmen. Laut dem geleakten Entwurf sollen von den
Regulierungen Firmen mit mehr als 500 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
betroffen sein, also EU-weit etwa 13.000. Kleine und mittlere
Unternehmen dagegen sind darin komplett ausgenommen – und damit 99
Prozent der Unternehmen.
Auch eine zivilrechtliche Haftung lehnt die BDA ab, ebenso
Sorgfaltspflichten, die über das erste Glied der Lieferkette – also den
direkten Zulieferer – hinausgehen.
„Sie fürchten, dass Ent-Globalisierung die heimliche Agenda ist“ Der Spitzenverband der Arbeitgeber sucht wiederholt Kontakt zur
EU-Kommission; im Juni 2021 gab es gleich zwei virtuelle Treffen
zwischen dem Verband und Vertretern des Ressorts von EU-Justizkommissar
Didier Reynders. Wie das Protokoll vom 10. Juni nahelegt, sieht die BDA
die Unternehmen prinzipiell nicht in der Pflicht: „Gleiche
Wettbewerbsbedingungen bedeuten für den BDA, dass Unternehmen sich auf
die Qualität der Produkte konzentrieren können, und nicht auf rechtliche
Fragen im Ausland.“
Die Skepsis der BDA-Vertreter geht aber noch weiter, so ist aus dem
Protokoll zu entnehmen: „Sie fürchten, dass ein Abschneiden der globalen
Lieferketten, also Ent-Globalisierung, die heimliche Agenda der
Fürsprecher ist.“
Alejandro Garcia Esteban von der lobbykritischen Organisation
European Coalition for Corporate Europe in Brüssel spricht von
„signifikanten und gut orchestrierten Lobbystrategien .“ Gerade die
nordischen Länder hätten versucht, die Initiative zu verwässern: „Was
auf dem Spiel steht, ist, ob die Unternehmen weitermachen können wie
bisher, ohne sich um Menschenrechte oder Umweltstandards zu kümmern,
oder ob sie Verantwortung für die sozialen und Umweltfolgen übernehmen
müssen.“
Die Unternehmen seien in der Lage, über alle Lieferstufen eine
ausreichende Qualität zu garantieren. Dies müsse auch beim Schutz der
Menschenrechte möglich sein.
Aus fast allen Branchen protestieren Lobbyisten bei der Kommission Die Lobbypapiere vermitteln den Eindruck eines gut abgestimmten
Vorgehens . Eine Durchsicht ergibt, dass die meisten Verbände die selben
Punkte der Initiative angreifen: Vor allem die Haftungspflichten stehen
unter Beschuss, strittig ist auch, dass der Vorstoß nicht nur die
Menschenrechte abdeckt, sondern auch Klima- und Umweltstandards.
Aus fast allen Branchen protestieren Lobbyisten bei der Kommission,
der Zentralverband des deutschen Handwerks, der Bundesverband der
deutschen Süßwarenindustrie: Der Verband textil + mode warnt vor
Bürokratie und hohen Belastungen für Unternehmen. Internationale
Vertragsbeziehungen dürften nicht durch „gegenseitiges Misstrauen und
ständige Kontrollen“ geprägt sein. Eine neue rechtliche Regulierung sei
„nicht nötig“.
Auf Anfrage teilt der Gesamtverband der deutschen Textil- und
Modeindustrie mit, die Unternehmen seien sich „ihrer Verantwortung
entlang der Lieferkette nicht nur bewusst, sondern setzen diese auch
aktiv um.” Der Verband habe sich mit „offiziellen Stellungnahmen” an dem
Verfahren beteiligt, die Prozesse seien „transparent und für jeden
zugänglich“.
Teile der Union verleihen den Lobby-Forderungen Nachdruck Noch steht nicht fest, wie die EU-Richtlinie aussehen wird. Je
nachdem, was am Ende herauskommt, muss das deutsche Lieferkettengesetz
angepasst werden. „Das deutsche Lieferkettengesetz war ein guter
Anfang“, sagt Armin Paasch, Menschenrechtsexperte bei Misereor, „aber in
einigen wichtigen Aspekten ist es uns zu schwach, deswegen sagen wir:
Das EU-Lieferkettengesetz muss diese Punkte nachbessern.“
Allerdings befürchtet Paasch, dass genau das Gegenteil geschehe: „Das
Risiko ist, dass die zentralen Elemente weichgespült werden. Und dazu
gehört die zivilrechtliche Haftungsregel, die Umweltstandards und
Klimaschutz, die Erfassung der gesamten Wertschöpfungskette. Dann hätte
das Lieferkettengesetz nicht nur keinen Mehrwert, sondern wäre
kontraproduktiv. Es würde nationale Gesetze wieder schwächen.“
In einem aktuellen Bericht
zeigen Misereor und Global Policy Forum auf, wie die deutsche
Wirtschaftslobby gezielt Einfluss auf die Politik ausübt, um das
Lieferkettengesetz auszuhöhlen. Demnach lassen sich auch
Regierungsvertreter und Politiker, vor allem von CSU und CDU,
einspannen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.
„Alle Anstrengungen darauf verwenden, Schlimmeres zu verhindern“ Hinter den Kulissen machen die Lobbyisten ganz unverblümt Einfluss
geltend . Am 11. März etwa wendet sich ein Vertreter der Wirtschafts- und
Mittelstandsunion in einer E-Mail
an das Bundeswirtschaftsministerium und schlägt Alarm: Es gebe
„besorgniserregende Planungen des Europaparlaments“. Die Initiative der
EU-Abgeordneten drohe, die „Erfolge“ bei den Verhandlungen für das
deutsche Lieferkettengesetz zunichte zu machen.
Man müsse „alle Anstrengungen darauf verwenden, Schlimmeres zu
verhindern.“ Das weitere Vorgehen solle in einer Videokonferenz
besprochen werden – auch Vertreter der Wirtschaft seien dazu eingeladen:
„Eine kleine, aber feine und wichtige Runde.“
Die Mittelstands- und Wirtschafts-Union antwortete nicht auf die Anfragen von CORRECTIV und SWR . Die BDA reagierte ebenfalls nicht auf Fragen .
CDU/CSU-Fraktion schreibt mit „Besorgnis“ an die Kommission Auch die CSU/CDU-Fraktion im Bundestag engagiert sich als Fürsprecherin deutscher Wirtschaftsinteressen : Im Juni 2021 schreibt die Fraktion
an die zuständigen Generaldirektionen der EU-Kommission, Justiz und
Binnenmarkt, und empfiehlt das deutsche Gesetz als Vorbild. Sie schließt
sich in dem Brief nicht nur den Forderungen der Wirtschaftsverbände an.
Sie verwendet zum Teil auch die gleichen Formulierungen: Mit
„Besorgnis“ schreibt die Union im Hinblick auf die Gesetzesinitiaive:
„Unmögliches darf von Unternehmen nicht verlangt werden, sondern nur
Machbares und Angemessenes.”
Die CDU/CSU-Fraktion weist auf Anfrage von CORRECTIV und SWR
den Eindruck zurück, dass sie sich mit den Verbänden abgestimmt habe:
„Wir haben in großem Umfang aus verschiedenen Richtungen Zuschriften
erhalten und mit vielen diskutiert.“ Dies habe von den Kirchen über NGOs
bis zur Wirtschaft gereicht. „Natürlich” hätten die „Erwartungen und
Sorgen“ auch „Eingang in unseren Meinungsbildungsprozess gefunden.”
Zwar liegt der offizielle Entwurf der Kommission noch nicht vor. Aber
es gibt Hinweise, dass sich in Brüssel Nervosität breit gemacht hat:
Dem zuständigen Justizkommissar Didier Reynders wurde im Mai 2021 die alleinige Verantwortlichkeit entzogen ;
der als wirtschaftsfreundlich geltende Binnenmarkt-Kommissar Thierry
Breton wurde ihm zur Seite gestellt. Abgeordnete und Beobachter in
Brüssel führen dies auf den Lobbydruck zurück.
Ärger und Irritationen in der Kommission Wie ein Experte innerhalb der Kommission gegenüber CORRECTIV sagt,
habe sich die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
eingeschaltet; rechtlich könne eine solche Entscheidung nur von der
Kommissions-Chefin getroffen werden. „Dass intern ein Kommissar
schachmatt gesetz wird, kommt sehr selten vor “, sagt der Mitarbeiter,
der anonym bleiben will. Dies habe zu erheblichen Irritationen geführt:
„Es war total schlechter Stil. Peinlich.“
In der Folge habe sei der ursprünglich ehrgeizige Vorstoß erheblich
aufgeweicht worden: „Von außen hat es viel von der üblichen
Wirtschaftslobby gegeben”, sagt der Mitarbeiter, „aber was wirklich
gezählt hat, das war die CDU-Connection.“
Die Veröffentlichung des Entwurfs wurde insgesamt drei Mal verschoben: Im Mai und im Dezember 2021 sorgte der „Ausschuss für Regulierungskontrolle ”
mit einem Negativ-Votum für Verzögerungen. Der Ausschuss ist ein nicht
gewähltes Organ der Kommission, das neue Gesetze überprüfen und deren
Folgen abschätzen soll. Er gilt als intransparent.
EU-Abgeordnete fordern Akteneinsicht Dass das Gremium einen Entwurf zwei Mal hintereinander ablehnt, sei
äußerst ungewöhnlich, sagt der EU-Abgeordnete Tiemo Wölken (SPD): „Der
Ausschuss hat hier eine sehr seltsame Rolle gespielt. Wir können die
Entscheidungen nicht prüfen, weil wir dessen Berichte nicht bekommen.“
Die zweifache Ablehnung hat in Teilen des EU-Parlaments für Ärger
gesorgt; mehrere Abgeordnete haben Anträge auf Akteneinsicht gestellt.
Wölken gehen davon aus, dass sich die Arbeit der Lobbyorganisationen
und Verbände in den kommenden Wochen noch einmal intensivieren wird.
Denn als Nächstes verhandelt das EU-Parlament mit dem Rat über die
genauen Regelungen, er sagt: „Bei den Verhandlungen werden wir mit noch
deutlich mehr Widerstand rechnen müssen.“
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